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„Lasst sie uns zu Staub zermahlen!“
Die neue Ästhetik digitaler Archive

'Matt Locke Matt Locke

Man stellt sich Archive als staubige Plätze vor, in denen Schachteln, Bücher oder Filmdosen dicht gereiht und umhüllt von einem feinen, grauweißen Umhang stehen. Wie eine physische Manifestation des Vergessens legt sich der Staub auf Obsoletes, und seine Entfernung ist symbolisch für die Wiederverwendung – der Archivar nimmt einen staubigen Band aus dem Regal, bläst über den Einband, und wenn sich die Staubwolke gelichtet hat, erwacht verborgenes Wissen zu neuem Leben. Staub ist eine Metapher für Zurückweisung, Versagen oder Auflösung – wir „schlucken Staub“, ungewollte Aufmerksamkeit wird „wie Staub weggewischt“ und zu guter Letzt „werden wir zu Staub“.(1) Unmengen an Wissen und kreativen Leistungen des letzten Jahrhunderts sind dazu verurteilt, vergessen, ungewollt und unbekannt zu Staub zu zerfallen.
Projekte wie Creative Archive (2) der BBC wollen mithilfe der Technik diese Archive befreien – den Staub wegblasen und tausende von Stunden an Audio- und Videomaterial digitalisieren. Dank digitaler Netzwerke können diese Dinge wieder belebt und in neuen Kontexten neuen Verwendungszwecken zur Verfügung gestellt werden. Durch die Umwandlung von staubigen Archiven in saubere Datenbanken kann der Content wieder verwertet und neu gemixt werden; er wird dadurch zum Ausgangspunkt für neue Geschichten anstatt zum letzten Ruheplatz für alte.
Im Staub selbst liegt allerdings auch Schönheit. Der Wissenschaftler und Künstler Hubert Duprat (3) setzte Köcherlarven in mit Goldstaub und Edelsteinpartikeln ausgelegte Vitrinen. Die Köcherlarven leben normalerweise an Flussufern und bauen sich Kokons aus Rinde, Schotter und Treibgut. In Duprats Vitrinen konstruierten die Larven wunderschönen geometrischen Schmuck mit alternierenden Streifen aus Gold und Edelsteinen. Die Köcherlarven ordnen Staub zu etwas Persönlichem und Organisiertem um, sie schaffen funktionale Objekte voll formaler Schönheit.
Auch uns ist das Verlangen nicht fremd, diesen überfließenden, kurzlebigen Medienstrom zu etwas Vertrautem und Bedeutsamem zu ordnen. Die billigen Druckerpressen des 19. Jahrhunderts brachten eine überwältigende Flut an Zeitungen, Katalogen und Zeitschriften hervor, die dank der neuen Eisenbahnlinien in alle Winkel der entwickelten Welt verschickt wurden. Die Leser organisierten das Wissen aus diesen billigen, kurzlebigen Medienformen in Alben, wobei sehr oft Ausschnitte einfach in andere, ungeliebte Bücher eingeklebt wurden.(4) Zeitungsartikel wurden nun, wenn sie die Aufmerksamkeit des Lesers erringen konnten, zu Erinnerungsstücken – anstatt eingestampft oder zu Staub zu werden –, und sogar höher bewertet als das exklusivere Wissen, das in teuren Büchern zu finden war. Ellen Gruber Garvey berichtet von folgendem Wortwechsel zwischen einem Autor und einem Albummacher im 19. Jahrhundert:

„Warum“, fragte ich, „nimmst Du gute, gedruckte Bücher dafür?“
„Gut wofür?“, kam die Antwort […]. „Da ist nichts drinnen, was uns interessiert. Und darum geben wir lieber etwas rein, als sie unnütz herumstehen zu lassen. Schau, Huberts ist ein altes Journal und wir haben noch ein oder zwei andere. Und einige sind alte Schulbücher, kaum gebraucht, aber veraltet. Man findet in fast jeder Bibliothek ein paar nutzlose Bücher.“(5)

Garvey vergleicht diesen Vorgang mit der „Nachlese“, bei der ein Überangebot an Gütern einen Überschuss ergibt, der gesammelt und produktiv verwertet werden kann:

Der Ertrag des Ährenlesers hängt von der Bereitschaft des Bauern ab, nicht jedes mögliche Quäntchen Profit aus dem Land zu pressen; und folgt damit der biblischen Aufforderung, Nahrung für die Ährenleser übrig zu lassen, indem der Bauer nicht jedes einzelne Korn oder jeder Frucht für sich in Anspruch nimmt, sondern etwas übrig lässt.(6)


Wie das Korn des Bauern oder die Zeitungsausschnitte des Verlegers kann das Überangebot unserer Medienarchive ausgeschnitten und von einer neuen Generation von Ährenlesern gesammelt werden.
Diese „vernikuläre“ Form kreativen Ausdrucks blieb in den Annalen der Mediengeschichte lange unbeachtet. In den Bereichen Fotografie, Film und nun digitale Medien wurden die ersten Versuche unternommen, einen Gesamtindex zu erstellen, eine Liste der Stars, deren Beiträge die dominierende Ästhetik definieren. Neben diesen Stars gibt es jedoch Welten amateurhafter Produktivität, die informelle alternative Ästhetiken aus den Resten der Mainstream-Kultur schaffen. Gelegentlich wird der Einfluss dieser „vernikulären“ Formen auf die Ästhetik des Mainstream anerkannt, manchmal auch einfach nur aufgrund ihrer überbordenden Kreativität. Sie werden weniger wahrgenommen, weil sie keine großartigen geschichtlichen Erzählungen sind, sondern persönliche Berichte, die vom Leben und den Empfindungen ihres jeweiligen Schöpfers handeln. Wie der Kokon der Köcherlarve sind sie greifbar und körpernah, um sowohl von der Hand berührt als auch dem Auge konsumiert werden zu können:

Wenn wir ein (Foto-)Album berühren und die Seiten umblättern, setzen wir das Foto in Bewegung, es zieht buchstäblich einen Bogen durch den Raum und wird metaphorisch zu einer sequenziellen Erzählung. Alben fordern zum Sprechen auf, sind ein Vorwand, damit sich Freunde und Familien treffen, um Geschichten auszutauschen, Ereignisse wieder aufleben zu lassen und Biografien zu erfinden. Sehen wir Alben in Museen, können wir uns das gedämpfte Lachen nur vorstellen, das das Darin-Blättern animiert und geleitet haben könnte.(7)


Wird es eine ähnliche „vernikuläre“ Kreativität im Bereich der digitalen Medien geben? Wie lässt sich dieser Kreativabfall fördern, der Zeitungen und Bibliotheken in billige Eintagsfliegen verwandelte, damit sie erneut zur Wiederverwendung und zum Remix zur Verfügung stehen? Wie lässt sich mit einem dermaßen globalen und vernetzten Medium Intimität ausdrücken?
In den entwickelten Ländern nutzen erst seit einigen Jahren mehr als 50 Prozent der Bevölkerung das Internet. Gepaart mit höherer Bandbreite und Prozessorleistung hat dies zu einer „Massenamateurisierung“(8) in der digitalen Bildproduktion geführt, was früher schon wegen der Kosten für das Aufnahme- und Bearbeitungsequipment undenkbar gewesen wäre. Mobiltelefone, diese doch schon sehr intimen Geräte, haben die Ästhetik der Fotografie mindestens ebenso stark beeinflusst wie die Box Brownie die klassische Fotografie. Webdienste wie Flickr (9) ermuntern uns, unsere Bilder zusammen mit Freunden und anderen Gemeinschaften zu sammeln und zu kontextualisieren. Die daraus entstandene immense Fülle von online verfügbaren Bildern gilt es zu rekontextualisieren und in neue kreative Formen zu bringen. Die Flickr- User sollen wie in einem (Foto-)Album Zusatzinformationen anfügen, entweder als den Inhalt beschreibende Etiketten, als Notizen direkt auf dem Bild oder als Kommentare von anderen Usern. Diese Anhäufung schriftlicher Informationen lässt eine Art Intimität rund um das Foto aufkommen und fängt dabei einen Teil des „gedämpften Lachens“ ein, das seine Entstehung begleitete.
Die Flickr -User finden ständig neue Möglichkeiten, die verfügbaren Features zu nutzen. So kombinierte Matt Haughey die von Google angebotenen Satellitenbilder mit der Notizfunktion von Flickr, um „Karten der Erinnerung“(10) anzufertigen – mit Anmerkungen versehene Bilder der Universität, an der er studierte, oder der Stadt, in der er aufwuchs. Die Notizen zeigen sich erst, wenn man mit dem Cursor über die Bilder am Monitor fährt und erzeugt so ein taktiles Interface, das der privaten Atmosphäre eines Fotoalbums ähnelt. Geoffrey Batchen beschreibt ähnliche Collage-Effekte in Fotoalben , in denen Fotos mit entwerteten Tickets, Zigarettenkarten, Zeichnungen und Notizen kombiniert werden, um mehr als nur visuelle Erinnerungen zu erzeugen:

„[bei Fotoalben] werden wir Zeugen der kreativen Bemühungen von Menschen wie Du und Ich, die in der Lage sind, die Feinheiten ihrer sozialen Rituale und persönlichen Träume auszudrücken und ihre Erinnerungen in greifbarer visueller Form zu vermitteln, indem sie Gehör-, Geruchs- und Gesichtssinn koordinieren und die Möglichkeiten eines berührenden und angreifbaren Fotos ausloten.(11)


Gibt es für das bewegte Bild einen ähnlich intimen und taktilen Kontext? Film hat im vergangenen Jahrhundert nie diese massive Anerkennung wie die Fotografie erfahren. Auch wenn Super-8-Kameras und später billige Videokameras Amateurproduktionen begünstigt haben, so sind Reichtum und Vielfalt des vorhandenen Fotomaterials einzigartig. Wo sind die Entsprechungen der bewegten Bilder zu den viktorianischen Fotomedaillons, in denen jeder der Liebenden in einer Hälfte des Schmuckstücks, beide beim Schließen vereint, eingerahmt ist? Wie kann das Medium Film eine ähnlich „vernikuläre“ Ästhetik wie das Fotoalbum oder das Visitenkartenporträt (12) entwickeln?

Vielleicht entwickeln sich diese neuen Formen volksnaher Medien ja durch Projekte wie Creative Archive. Indem die Film- und Fernsehproduktionsarchive der BBC zugänglich gemacht werden, könnten solche Projekte einen neuen Kontext und eine neue Ästhetik für Filme schaffen, die von der formalen Erzählstruktur des Hollywoodkinos abweichen. Dazu müssen jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein: Wir brauchen Tools für intime Ausdrucksweisen und nicht für epische Erzählungen; und wir müssen die Medien in Staub verwandeln wollen – um sie in derselben Fülle und Kurzlebigkeit wie Zeitungsausschnitte und Zigarettenkarten verfügbar zu haben.

Intimität
Für die Ausschreibung zur Einreichung von Filmen, die über Mobiltelefone vertrieben werden sollen, verfasste der Kurator Andrew Wilson (13) eine neuartige Anweisung für angehende Filmemacher: „Denkt dabei ans Haareschneiden, nicht ans Filme machen.“ Das mag auf den ersten Blick bizarr klingen, berücksichtigt aber, dass Mobiltelefone nicht nur eine kleine Version der Kinoleinwand sind, sondern ein sehr persönlicher Ausdruck der Identität des Besitzers. Deswegen kann man auch Klingeltöne um teures Geld verkaufen, während qualitativ höherwertige MP3-Dateien bestenfalls um den halben Preis, wenn nicht sogar gratis, unter die Leute gebracht werden müssen. Ein Klingelton ist wie ein Abzeichen oder ein Modeaccessoire – der Besitzer möchte damit etwas über seine Persönlichkeit zum Ausdruck bringen.
Mobiltelefone werden wie Abzeichen, Frisuren, Aufkleber oder Schmuck den eigenen Wünschen angepasst und helfen uns, unsere Identität zu ergründen und auszudrücken. Können bewegte Bilder ebenfalls Teil dieser zweiten Haut sein? Wird man sie sammeln und herzeigen, weitergeben und per Remix wieder anpassen? Könnte das die neue Kreativität sein, die Creative Archive ermöglicht? Derzeit setzen die meisten digitalen Produktionstools die Metaphern von Vorgängermodellen ein. Videobearbeitungssoftware verströmt immer noch den Hauch alter Steenbecks und Bandklebepressen. Diese Tools sind für das Epische und nicht das Persönliche gerüstet. Wie können wir andere Werkzeuge schaffen, die neue Ausdrucksformen fördern?

Staub
Wenn wir neue Ausdrucksformen fördern möchten, müssen wir akzeptieren, dass unser Content zu Staub zerfallen darf. Die Remix-Kultur braucht Flexibilität – die Fähigkeit, den Content auf das einzelne Atom zu reduzieren, das später in einen Haken, eine Schleife oder eine Collage eingebaut werden kann. Die digitale Version eines Archivs bietet diese Flexibilität, doch ist es auch im Interesse des Besitzers, diese Flexibilität zu nutzen? Oder ist es einfacher, alten Content in seiner ursprünglichen Form zu bewahren und zu hoffen, dass man eines Tages noch ein Quäntchen kommerziellen Wert herauspressen kann?

Mit der Entdeckung der neuen Ökonomien digitaler Netzwerke ist das Risiko, dass Content vorübergehend eingefroren stecken bleibt, sehr groß. Denn ungleich den Pflanzern, die die Erträge ihrer Überproduktion gerne den Ährenlesern überließen, pochen Medieneigentümer auf Digital-Rights-Managementtools und üben mehr Kontrolle denn je auf die Wiederverwendung und die Wiederverbreitung des Materials aus. Wenn dieses Szenario Erfolg hat, dann wird es in den digitalen Archiven der Zukunft keinen Staub geben – jedes Stückchen Content wird in seiner eigenen sauberen, perfekten Zelle weggesperrt sein.
Projekte wie Creative Archive schlagen einen alternativen Weg ein, indem sie den Content für eine kreative Entropie öffnen. Durch das Angebot einzelner Clips anstelle des vollständigen Beitrags ermuntert dieses Projekt die User, das Archiv nicht als Programmablage, sondern als Staub für einen Remix und eine Neuzusammenstellung zu sehen.

Wir müssen noch mehr Medienbesitzer von diesem kreativen Potenzial überzeugen und die Entwicklung neuer Tools für eine neue Generation von Künstlern unterstützen.
In den beiden letzten Jahrhunderten war das Schicksal jeder neuen Reproduktionstechnik die Überproduktion. Der technische Fortschritt lieferte immer die Werkzeuge für die einfache Manipulation dieses Content-Überschusses – in der Fotografie war es die Box Brownie, im Bereich Text waren es Fotokopierer und Desktop-Publishing und in der Musik billige Synthesizer, Turntables und Mixer. Durch den schrittweisen Verfall der jeweiligen kulturellen Hochform entstand in jedem Bereich eine neue Ästhetik. Die Fotografie wurde zu Schnappschuss und Fotoalbum; Zeitungen wurden zu Futter für Fanzines und der Vinyltonträger wurde zum Werkzeug fürs Scratchen und Samplen.
Film und Fernsehen bietet sich eine eigene Chance der kreativen Entropie. Während die Hollywood-Studios in ihren Archiven Spulen und Bänder künstlich am Leben erhalten wollen, finden sich außerhalb viele Projekte, die genau das Gegenteil anstreben. Es findet gerade ein Wettlauf zur Entdeckung einer neuen Ästhetik der bewegten Bilder statt, doch die Wächter der kulturellen Leistungen des letzten Jahrhunderts verweigern die Teilnahme und versuchen, dem kreativen Ausdruck der Zukunft Schranken zu setzen.
Das ist jedoch ein vergebliches Unterfangen. Schließlich finden sich in jeder Bibliothek nutzlose Bücher. Und es ist doch bei Weitem besser, diese für neue Formen der Kreativität freizugeben, als Nutzlosigkeit zu archivieren. Für jede Stimme, die unberührte, ursprüngliche Archive hinter Schloss und Riegel verlangt, erheben sich Tausende, die fordern: „Nein! Lasst sie uns zu Staub zermahlen!“
Dieser Text gibt die Meinung des Autors und nicht die der BBC oder der Creative Archive Licence Group wieder.
Anmerkungen siehe Seite 393
Aus dem Englischen von Michael Kaufmann



(1) Amato, Joseph, Dust: A History of the Small and Invisible, University of California Press 2001, p. 18–19
(2) http://creativearchive.bbc.co.uk/
(3) http://mitpress2.mitedu/e-journals/Leonardo/isast/articles/duprat.html
(4) Gruber Garvey, Ellen. “Scissoring and Scrapbooks”, in: Gitelman, Lisa (ed.): New Media: 1740–1915.
p. 209. Cambridge, Mass. 2003, p. 209
(5) ibid, p. 216
(6) ibid, p. 208
(7) Batchen, Geoffrey, Forget Me Not: Photography & Remembrance, p. 49. New York, 2004, p. 49
(8) http://www.plasticbag.org/archives/2003/09/weblogs_and_the_mass_amateurisation_of_nearly_everything.shtml
(9) http://www.flickr.com/
(10) http://flickr.com/photos/mathowie/8496262/
(11) Batchen. op cit, p. 60
(12) http://www.photography-museum.com/histsw.htm
(13) http://www.pocketshorts.co.uk