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Ars Electronica 2007
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Festival 1979-2007
 

 

Goodbye Privacy


'Gerfried Stocker Gerfried Stocker / 'Christine Schöpf Christine Schöpf

Mobile and Ubiquitous – nicht mehr bloß hier und jetzt, sondern zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort präsent zu sein – diese schon lange und mit großer Euphorie in neue Technologien projizierte Sehnsucht ist manifeste Realität unserer Zeit geworden, gewoben aus einem Netz, in dem jeder Teilnehmer ein Knoten ist, jeder Ausgang auch ein Eingang und jeder Empfänger auch Sender.

Zu jeder Zeit, an jedem Ort können wir telematisch in Aktion treten, können jeden erreichen und sind für jeden erreichbar. Mithilfe unserer Avatare, Blogs und Tags nehmen wir digitale Gestalt an und legen uns mehr oder weniger fantasievolle Second Identities zu. In rasendem Tempo entstehen gänzlich neue Formen von Öffentlichkeit mit neuen Spielregeln und (manchmal auch) neuen Hierarchien. Doch nicht nur Technologie, Information und Kommunikation sind omnipräsent geworden, sondern vielmehr wir selbst: zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort aufspürbar, auf wenige Meter genau lokalisierbar durch die digitale Signatur unserer Handys, klassifizierbar durch die umfassenden Persönlichkeitsprofile, die wir nichts ahnend auf all unseren digitalen Ausflügen hinterlassen. Unter diesen Vorzeichen vollzieht sich eine weit reichende Neupositionierung und -bewertung der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutungen von Öffentlichkeit und Privatheit.

„Goodbye Privacy“ – unter diesem Titel beschäftigt sich Ars Electronica von 5. bis 11. September 2007 mit den aktuellen Phänomenen einer neuen Alltagskultur zwischen den Angstszenarien einer perfekten Überwachung und der lustvollen Begeisterung an medialer Selbstdarstellung. In der für Ars Electronica so typischen Art breitet sich diese Recherche in Form von Symposien, Ausstellungen, Performances und Interventionen über die Konferenz- und Ausstellungsräume hinaus in die ganze Stadt aus. KünstlerInnen, erfahrene Netzwerk-NomadInnen, TheoretikerInnen, aber auch TechnologInnen und RechtsexpertInnen beleuchten die Themenstellung aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln:

  • Was können wir dem Eindringen der Kontroll- und Überwachungstechnologien entgegensetzen?

  • Wie lässt sich aus den neuen kulturellen Paradigmen der Web-2.0-Communities eine soziale Dynamik generieren, die auch in der realen Welt Relevanz entfalten kann?

  • Wie können wir den individuellen Kontrollverlust über unsere digitale Persona verhindern?

  • Wie sehen die neuen Strategien zur Schaffung von Privatsphäre in der transparenten Welt der digitalen Medien aus?

  • Können wir die vorkonfigurierten virtuellen Öffentlichkeiten der Entertainment-Industrie aufbrechen und selbst gestalten?

  • Wie können wir die gesamte kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaften in diese neu entstehenden sozialen und öffentlichen Räume tragen?

Egal ob es sich um Räume und Plätze der realen Öffentlichkeit oder um die neue Öffentlichkeit der digitalen Netzwerke handelt – immer feinmaschiger wird das Netz der Kameras, biometrischen Sensoren, RFIDs, Logfiles, Trojaner etc. Riesige Datenbanken und hoch entwickelte Algorithmen zur automatisierten Verknüpfung und Auswertung all dieser Spuren vervollständigen diese neue Dimension der Surveillance. Doch nicht nur die Tiefe und hohe Auflösung dieser digitalen Durchleuchtung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass der Zugang zu den notwendigen Technologien und gesammelten Daten immer mehr aus der Domäne der offiziellen, staatlichen Autorität in kommerzielle und individuelle Interessenslagen verschoben wird.

Und so finden wir uns in einer eigenartigen Ambivalenz wieder: Selbstdarstellung, Inszenierung des eigenen Image ist die Devise. Mach dich öffentlich, feature dich selbst oder du bist raus aus dem Spiel. Die Individualisierung und Personalisierung der Online-Medien war einst die Gegenwelt zur Öffentlichkeits-Gleichschaltung der elektronischen Massenmedien.

Im Zeitalter von Second Life, MySpace und YouTube ist Individualisierung nun Mainstream, und die Suche nach dem nächsten Upgrade geht los, nach dem, was uns nach dem Selbstdarstellungshype der Web 2.0-Epoche erwartet.Wenn man die Sackgasse der reinen Verweigerungshaltung einmal ausnimmt und nach adäquaten Formen einer Subkultur sucht, wird es spannend: Die digitale Revolution ist uns mittlerweile ganz vertraut, aber wie wird die digitale Rebellion aussehen?

Eine Besonderheit im Programm der Ars Electronica 2007 ist die Konferenz „Grundrechte in der digitalen Welt“, die von der Vereinigung österreichischer RichterInnen in Zusammenarbeit mit Ars Electronica organisiert wird.

Zur Disposition stehen die wachsende Verfügbarkeit und eine oft mit exhibitionistischem Ehrgeiz forcierte Veröffentlichung von Millionen von Daten, wobei jedoch die Konsequenzen in der täglichen Praxis noch ebenso wenig ausgelotet sind wie auf dem Terrain von Gesetzgebung und Politik. Sind die Grundrechte auf Datenschutz in der digitalen Welt überhaupt noch durchsetzbar? Was bedeutet das Grundrecht auf Information? Wie verändert sich die Privatsphäre in der transparenten Welt der digitalen Medien? Worin bestehen die großen Herausforderungen für das juristische Problembewusstsein und die gesellschaftliche Bewertung der Privatsphäre unter den neuen Bedingungen von Terrorismus und Web 2.0?

Ganz im Sinne der grundlegenden Idee von Ars Electronica, die Belange von Kunst, Technologie und Gesellschaft auf einer gemeinsamen Plattform zu diskutieren, wird der transdisziplinäre Austausch zwischen RechtsexpertInnen, IT-SpezialistInnen und KünstlerInnen eine große Rolle spielen.

Vor dem Hintergrund der (unfreiwilligen) digitalen Transparenz und (freiwilligen) Veräußerung von Privatheit „veröffentlicht“ sich auch das Festival durch eine Umwidmung städtischer Räume und Infrastruktur zu künstlerischen und diskursiven Handlungsflächen.

Schauplatz dieser „Durchdringung“ ist die Marienstraße im Linzer Zentrum mit ihren vielen leer stehenden, darin der Kulissenhaftigkeit virtueller Städte wie in Second Life ähnelnden Geschäftslokalen. Ars Electronica wird diese Räumlichkeiten nutzen und die Marienstraße zur „Second City“, zum Portal zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit umfunktionieren. Highlight dieses Programms ist die Inszenierung eines Beobachtungs- oder Kontrollszenariums, in dem jedoch das Beobachtet-Werden durch die aktive Rolle der Beobachteten ad absurdum geführt wird.

Jeder ist aufgerufen, im zeitlichen Raster eines hochauflösenden Luftbild-Scans der Stadt Zeichen der Wahrnehmung dieses Vorgangs in den Stadtraum zu setzen und damit eine eigene Botschaft gen Himmel zu senden – per Transparent oder Menschenkette, „kreativ“ gemähtem Gartenrasen oder Kunstwerk. Die Ausbreitung des Festivals erreicht damit eine neue Qualität – nicht nur in die Stadt hinein, sondern durch die Stadt hindurch und über die Stadt hinaus.

Direkt hinein in virtuelle Städte führen Ars Electronica und Stephan Doesinger mit „Bastard Spaces“, der ersten „Annual Architecture Competition in Second Life“.

Die Konzeption des mittlerweile traditionellen Campus unterscheidet sich ebenfalls grundlegend von jener der vergangenen Jahre: Campus 2.0 begreift Vernetzung nicht nur als Chance zum Austausch von Erfahrungswerten und Wissen, sondern als grundlegenden Wesenszug des Forschungsprozesses an sich. So steht heuer nicht die Leistungsschau einer (Kunst-)Universität, sondern die Vernetzung von Forschungseinrichtungen im Mittelpunkt.