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Der Wert des Privaten


'Beate Rössler Beate Rössler

Privatheit, das Private und seine Verletzungen sind im Moment ein außerordentlich umstrittenes Thema aus ganz unterschiedlichen Gründen: seit dem 11. September 2001 auf der einen Seite deshalb, weil westliche Regierungen versuchen, terroristische Anschläge durch hoch intensivierte und verfeinerte Datenerfassung und Beobachtung von Bürgern und Bürgerinnen zu vermeiden. Auf der anderen Seite jedoch – und ganz anders geartet – deshalb,weil beispielsweise durch Sendungen wie Big Brother das Konzept des Schutzes des Privaten selbst ad absurdum geführt zu werden scheint.

Dabei haben wir es mit der paradoxen Situation zu tun, dass von den gesellschaftskritischen Instanzen auf der einen Seite beklagt wird, dass Menschen überhaupt kein Interesse mehr an ihrer Privatsphäre haben; auf der anderen Seite aber – von denselben Instanzen – im selben Atemzug unterstellt wird, die Menschen hätten ein so starkes Interesse an ihrer Privatheit, dass beispielsweise durch neuen Antiterrorgesetze oder generell durch die neuen informationstechnologischen Entwicklungen ihre informationelle Privatheit permanent verletzt wird oder jedenfalls bedroht ist.
[...]

Ich möchte mit einigen Bemerkungen zum Begriff und zur Bedeutung dessen beginnen,was wir „privat“ nennen. Von Privatheit oder dem Privaten reden wir nämlich in ganz unterschiedlichen Kontexten: Religion ist Privatsache ebenso, wie bestimmte Daten, etwa medizinische Daten, über mich meine Privatsache sind; meine Privatsache ist, welche Kleidung ich trage und welchen Beruf ich wähle; und privat ist natürlich auch meine eigene, meine private Wohnung: prima facie haben all diese Dinge nicht mehr gemeinsam als den Namen. Schaut man jedoch genauer hin, so kann man sehen, dass es bei all diesen Formen von Privatheit darum geht, dass eine Person dann, wenn sie Privatheit beansprucht, so etwas beansprucht wie die Kontrolle über den Zugang – zur Wohnung, aber auch zu persönlichen Daten oder zu Entscheidungen, wie etwa bei der Kontrolle darüber, dass sie selbst entscheiden kann, welcher Religion sie angehören möchte (wenn überhaupt einer).

Der gleiche gemeinsame Nenner all dieser Formen von Privatheit wäre also der der Zugangskontrolle: Privat ist etwas dann, wenn ich dazu in der Lage und berechtigt bin, den Zugang – zu Daten, zu Wohnungen, zu Entscheidungen oder Handlungsweisen – zu kontrollieren. Dieser „Zugang“ kann natürlich metaphorisch gemeint sein, etwa dann, wenn es um Zugang zu im Sinne von Einspruchsmöglichkeiten gegen Entscheidungen geht; Zugang kann aber auch ganz wörtlich gemeint sein als Zugang zu Daten oder Zugang zu meiner Wohnung. Privatheit als Zugangskontrolle kann also diese verschiedenen Bedeutungen haben.

Damit ist aber auch gleich noch etwas anderes deutlich, denn es scheint sinnvoll, die Komplexität des Privaten so zu verstehen, dass man es hier mit drei verschiedenen Dimensionen zu tun hat:Geht es um Daten über eine Person, also generell darum,was andere über mich wissen, dann geht es um meine informationelle Privatheit. Geht es um meine privaten Entscheidungen und Handlungen, dann geht es um meine dezisionale Privatheit; und steht die Privatheit meiner Wohnung zur Debatte, dann rede ich von lokaler Privatheit. Diese drei Dimensionen des Privaten halte ich für erschöpfend: denn mittels dieser Dreiteilung lassen sich, so denke ich, alle Probleme und Phänomene des Privaten beschreiben und analysieren.
[...]

Trotz der Heterogenität der Verwendungsweisen des Privaten und trotz der Unterschiedlichkeit der drei Dimensionen des Privaten kann man auch einen gemeinsamen Nenner ausmachen, wenn man fragt,was diese Privatheit jeweils schützen soll, denn Privatheit schützt die individuelle Freiheit und Autonomie von Personen.Wir wollen den Schutz des Privaten deshalb, weil wir anders nicht unser Leben so frei und selbstbestimmt wie möglich leben können. Und gerade auch deshalb sollten wir Privatheit schätzen, denn das (nichtfreiwillige) Aufgeben von Ansprüchen auf Privatheit ist immer auch zugleich das Aufgeben von bestimmten Ansprüchen, frei und selbstbestimmt zu sein.

[...] Was also ist der Wert von Privatheit? Warum wollen und können wir uns eine Gesellschaft ohne Privatheit, wie etwa in Orwells 1984, nicht vorstellen? Es ist der moderne Begriff von Autonomie und Selbstbestimmung, den ich hier zur Erklärung heranziehen will, Autonomie in dem weiten Sinn, in dem es um die grundsätzliche Idee geht, dass jede Person selbst entscheiden kann und können sollte, wie sie leben will. In diesem Sinn „frei“ und autonom zu sein, bedeutet, so zu wählen, wie wir leben, wie wir sein wollen. Autonomie in diesem Sinne bedeutet dann auch, sich selbst für das eigene Leben gute Gründe geben zu können und für Entscheidungen und Lebensweisen sich selbst soweit wie möglich und nötig für verantwortlich zu halten.
[...]

Nun müssen jedoch für ein solches autonomes Leben bestimmte Bedingungen gegeben sein, Bedingungen, die sowohl die subjektiven Fähigkeiten von Personen betreffen wie auch die intersubjektiven und gesellschaftlichen Umstände. Zu diesen Bedingungen gehört – und hier kann ich natürlich nur sehr kurze Stichworte nennen – eine demokratische Gesellschaft, für die der Respekt vor der Autonomie von Subjekten und ihr Schutz konstitutiv ist; dazu gehört die Möglichkeit, autonome Entscheidungen und Lebenspläne auch leben zu können; dazu gehört, dass gesellschaftliche Möglichkeiten und Optionen vorhanden sind, die auch von allen genutzt werden können; dazu gehört der Schutz von intimen Beziehungen, in denen Autonomie erlernt und gelebt werden kann; ein solcher Schutz ist auch deshalb notwendig, weil Personen existenzielle als autonome Entscheidungen nur in einem solchen geschütztem Umfeld verhandeln können. Auch wenn man die gesellschaftlichen Bedingungen für die Möglichkeit eines autonomen Lebens nur so grob und stichwortartig benennt, wird doch sofort deutlich, dass für ein solches Leben der Schutz von Privatheit konstitutiv ist: dezisionale Privatheit deshalb, weil anders Entscheidungen und Lebenspläne nicht gelebt und verfolgt werden können. Lokale Privatheit deshalb, weil anders der Schutz intimer Beziehungen und die Rückzugsmöglichkeiten nicht gewährleistet werden können.

Den Zusammenhang zwischen Autonomie und Privatheit will ich nun genauer erläutern anhand der Problematik der informationellen Privatheit.Was hier zunächst einmal für das Verständnis des Begriffs notwendig scheint, ist, ihn so breit als möglich anzulegen – die informationelle Privatheit geht nämlich, so meine ich, über den Datenschutz gegenüber Staat, Polizei und Wirschaft hinaus und ist wichtig in allen sozialen Bezügen, in denen Subjekte leben. Diese breite Idee wird deutlich, wenn man sich folgende Fragen vor Augen führt:Warum halten wir es generell für unangemessen, unhöflich,unmoralisch oder sogar widerrechtlich, wenn andere Leute uns ohne unser Wissen (oder auch mit unserem Wissen) und gegen unseren Willen beobachten oder belauschen oder sogar filmen oder abhören, ob zuhause, im Büro, auf der Straße oder im Café? Warum fühlen wir uns gestört, beschämt, verletzt, beeinträchtigt, verunsichert, kontrolliert, wenn wir es bemerken? Was ist daran auszusetzen, dass Unternehmen personenbezogene Daten weitergeben; oder was ist daran auszusetzen, wenn enge Freunde etwas weitererzählen, was sie über uns nur deshalb wissen, weil sie enge Freunde sind? Es sind all diese Fragen, die das Thema und die Problematik möglicher Verletzungen der informationellen Privatheit abstecken: denn all diese Fragen verweisen darauf, dass eine Person in ganz unterschiedlichen Hinsichten beansprucht, Informationen über sich selbst geschützt zu halten, deren Weitergabe kontrollieren zu wollen. Wenn es also beim Schutz des Privaten allgemein darum geht, in verschiedenen Hinsichten den „Zugang“ zur eigenen Person kontrollieren zu können, dann muss dies hier, bei der Frage nach der informationellen Privatheit verstanden und interpretiert werden als Kontrolle darüber,was andere über die Person wissen können: Dies ist folglich grob das,was ich als „informationelle Privatheit“ erläutern möchte. Dabei geht es im Kern also darum, wer was wie über eine Person weiß, also um die Kontrolle über Informationen, die sie betreffen; und zwar Kontrolle mindestens in dem Sinn, dass sie in vielen Hinsichten in der Hand hat, in anderen Hinsichten zumindest abschätzen kann,was andere Personen jeweils über sie wissen: dass sie folglich gut begründete Annahmen haben kann darüber, was Personen oder Institutionen, mit denen sie zu tun hat, über sie wissen und dass sie gemäß diesen Annahmen und Erwartungen dann auch über entsprechende Sanktions- oder jedenfalls Kritikmöglichkeiten verfügen kann.

Ein Problem der informationellen Privatheit ist dann also die Frage, wie sich begründen lässt, warum wir es für ein allgemeines, nach Kontexten je verschieden spezifizierbares, Recht oder jedenfalls doch für einen gut begründeten Anspruch halten, nicht gegen unseren Willen und/oder ohne unser Wissen beobachtet oder belauscht zu werden, bzw. das Maß an Informationen, die andere über uns haben, kontrollieren zu können.

Warum aber ist hier der Bezug auf die Begriffe der Freiheit und der Autonomie relevant? Man könnte doch einwenden, dass, wenn man Personen beobachtet, belauscht oder über sie redet, man sie anscheinend nicht in irgendeinem freiheitsrechtlich relevanten Sinn an irgendetwas hindert, zumindest prima facie ihre Freiheit gar nicht einschränkt.

Warum sollte ich nicht mehr tun, was ich will, nur weil mich andere dabei beobachten, belauschen, und warum sollte die Weitergabe von „Daten“, wenn sie nicht mit irgendwelchen tatsächlichen Einschränkungen verbunden ist, meine Freiheit gefährden, vor allem dann, wenn ich von der Beobachtung nicht einmal weiß und gegebenenfalls nie von ihr erfahre?

Um nun diesen entscheidenden Schritt zum Zusammenhang von Privatheit, Informationskontrolle und Autonomie zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen ein Beispiel bringen, das deutlich machen soll, in welcher Weise die informationelle Privatheit in der öffentlichkeit durch ungewollte Beobachtung verletzt werden kann: Es ist der Fall der verborgenen Videobewachung von öffentlichen Plätzen. Geht man auf die Straße, um etwas einzukaufen, dann geht man natürlich mit Erwartungen daran, sich anderen Personen zu zeigen, mit anderen Personen in Kontakt zu treten. Man erwartet,nimmt in Kauf, dass andere wahrnehmen, registrieren, wie man heute aussieht, was man anhat, man erwartet, eventuell Bekannte zu treffen oder mit gänzlich Fremden an der Kasse ins Gespräch zu kommen. Aber man hat nicht die Erwartung, dass solcherlei Gesehen- und Registriertwerden auf Filme aufgenommen wird und damit reproduzierbar, ortsunabhängig und zeitunabhängig vorführbar wird, analysierbar, übermittelbar, kontrollierbar.

Wüsste man von dieser Beobachtung, würde man sich gegebenenfalls anders verhalten oder sich doch jedenfalls in dem Bewusstsein bewegen, dass man gefilmt wird. Und eben diese Differenz zeigt, dass man von Verletzungen informationeller Privatheit im Sinne der Verletzung von Autonomie auch dann sprechen kann und sollte, wenn eine Person gegebenenfalls nie davon erfährt, dass sie beobachtet oder gefilmt wurde: denn ihr Verhalten war ein Verhalten „unter falschen Bedingungen“, ein vermeintlich selbstbestimmtes Verhalten, vermeintlich nur deshalb, weil die Annahmen, von denen die Person ausging, falsch waren.

Ein weiteres Beispiel betrifft die Übermittlung von Daten, also beispielsweise die Übermittlung medizinischer Daten:Wenn sich etwa mein Arbeitgeber mit der Hilfe von Experten Zugang zu Daten verschafft (bei meiner Ärztin oder meiner Versicherung), die über meine Krankheitsgeschichte Auskunft geben, so verletzt er damit nicht nur meine Erwartung, dass Daten über meine Krankheiten nur meiner Ärztin und gegebenenfalls meiner Versicherung bekannt sind, neben den Personen, die ich selbst davon in Kenntnis gesetzt habe; sondern er schränkt damit natürlich zugleich meine Möglichkeiten eines selbstbestimmten Verhaltens, einer Kontrolle über meine Selbstdarstellung, die Authentizität meines Verhaltens in diesen beruflichen Kontexten ein. Denn mein Arbeitgeber weiß etwas über mich, hat Informationen über mich, von denen ich nicht weiß, dass er sie hat, die aber für die Art und Weise meiner Selbstdarstellung ihm gegenüber, meiner Kommunikation mit ihm und damit auch für mein selbstbestimmtes Verhalten ihm gegenüber entscheidend sind. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn ich von der Täuschung erfahre: Doch auch wenn ich nur vermute, dass solche Täuschung stattgefunden hat oder wenn ich nicht mehr mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass solche Übermittlungen nicht stattfinden, können damit die Möglichkeiten selbstbestimmten Verhaltens massiv eingeschränkt sein. Diese Beispiele können nun, so denke ich, eine weitergehende und allgemeine These verdeutlichen: Der Schutz informationeller Privatheit ist deshalb so wichtig für Personen, weil es für ihr Selbstverständnis als autonome Personen konstitutiv ist, (in ihr bekannten Grenzen) Kontrolle über ihre Selbstdarstellung zu haben, also Kontrolle darüber, wie sie sich wem gegenüber in welchen Kontexten präsentieren, inszenieren, geben wollen, als welche sie sich in welchen Kontexten verstehen und wie sie verstanden werden wollen, darum also auch, wie sie in welchen Kontexten handeln wollen.
[...]

Die Anwesenheit oder die Beobachtung anderer kann uns also zur Berücksichtigung eben dieser Tatsache zwingen, dass andere anwesend sind oder dass wir beobachtet werden: Und die Privatheit von Personen zu respektieren bedeutet dann umgekehrt, zu akzeptieren, dass das eigene Verhalten und Wissen gegebenenfalls die Handlungen anderer in ungewünschter Weise beeinflussen kann.

Der Respekt für die Privatheit einer Person ist dann der Respekt für sie als einem autonomen Subjekt – das ist die entscheidende Einsicht.Wir müssen also generell, um uns selbstbestimmt verhalten zu können, daran glauben und davon ausgehen können, dass wir nicht beobachtet werden, belauscht, getäuscht über die Weitergabe und die Erfassung von Daten, über die Anwesenheit von Personen zum einen, und darüber, zum anderen, was anwesende Personen von uns wissen und „wer“ sie deshalb „für uns“ sind. Aus dem gleichen Grunde nützt es nichts, wenn Personen wissen, dass sie beobachtet werden oder dass Informationen über sie gespeichert werden, wenn sie nicht beobachtet oder auf diese Weise erfasst werden wollen – denn es ist dann genau die Tatsache, dass sie sich auf die Beobachtung und Kontrolle einstellen müssen, die sie daran hindert, selbstbestimmt, authentisch zu agieren. Analysiert man das Gebiet der informationellen Privatheit so, dann ist klar, dass es hier nicht nur um Themen wie den Lauschangriff des Staates auf seine Bürger geht, sondern um mögliche Täuschungen in prinzipiell allen Beziehungen, in denen Personen leben.

Damit ist, so denke ich, der Zusammenhang zwischen Autonomie und informationeller Privatheit ausreichend verdeutlicht und damit auch die normative Grundlage für den Schutz informationeller Privatheit freigelegt und bestimmt. Lassen Sie mich jetzt zur nächsten Frage kommen: Unter welchen Bedingungen wird eigentlich diese Sorte normativer Überlegungen überhaupt relevant?

Denn jenes beschriebene öffentlich-private Gefüge von Kontrolle über ein Wissen, das andere Personen haben, und ein Wissen, das sie zeigen oder nicht zeigen, dieses ganze Gefüge ist natürlich konventionell immer schon geregelt durch die sozialen, rechtlichen, konventionellen Trennlinien zwischen dem privaten und dem öffentlichen: Die Berechtigung jener Erwartungen an das Verhalten und das Wissen meiner Interaktionspartner liegt in der Geltung sozialer und rechtlicher Konventionen und Normen, die – kulturell gegebenenfalls sehr verschieden – regeln, was jeweils als schützenswert und intim gilt,was als legitimer Bereich oder Schutzschild, der die Person vor öffentlicher Aufmerksamkeit oder Kontrolle schützt, was also der individuellen Informationskontrolle unterliegen soll und was nicht. Diese Erwartungen werden reguliert durch ein kompliziertes, aber doch relativ stabiles Gefüge sozialer und rechtlicher Normen und Konventionen, innerhalb dessen wir uns bewegen und die unterschiedlichen Beziehungen, in denen wir leben, meistern können. Die Frage nach den Grundlagen dieser Normen und Konventionen wird nun dann relevant,wenn diese selbst in Frage gestellt, kritisiert werden, dysfunktional, beschränkend oder einfach nicht mehr passend oder als nicht mehr ausreichend beschrieben oder empfunden werden.

Und es ist genau eine solche Situation des Umbruchs von Normen und Konventionen, in der die gegenwärtige Problematik der informationellen Privatheit verortet werden muss. [...] Eine solche Situation des Umbruchs oder, schwächer, der Veränderung und Infragestellung bisheriger Normen und Konventionen haben wir zum Beispiel dann, wenn staatlicherseits aufgrund neuer Situationen (z. B. terroristischer Aktionen) Maßnahmen ergriffen werden, die mit dem Schutz der informationellen Privatheit von Bürgern und Bürgerinnen konfligieren. Eine solche Situation haben wir aber auch dann, wenn Methoden entdeckt und Bereiche erschlossen werden, die in ihrer technologischen Neuerung die herkömmlichen Begriffe und Anwendungen von Privat und Öffentlich übersteigen, wie dies in der sogenannten panoptischen Gesellschaft der Fall ist. Und schließlich haben wir eine solche Situation dann, wenn in den Medien neue Formen und Tabubrüche entwickelt werden, die mit der Ent-Privatisierung vormals für privat und intim gehaltener Themen und Verhaltensweisen spielen.

Kommen wir zum ersten Beispiel, den neuen Sicherheitsgesetzen; ich will hier nur ganz kurz auf ein Element verweisen: die Problematik der Aufnahme biometrischer Daten in den Pass. Was man an diesem kleinen Beispiel deutlich machen kann, ist, dass es bei der möglichen Verletzung informationeller Privatheit um sehr viel mehr gehen kann als nur um diese Verletzung selbst. Man könnte nun natürlich einfach behaupten, dass es irrelevant sei, ob im Pass neben der Augenfarbe auch noch die Gestalt der Augeniris verzeichnet sei. Im Grunde könne es einem doch vergleichsweise egal sein,welche personenbezogenen Daten der Staat sammle, solange er sie nicht auf die falsche Weise gebrauche.

Doch damit verkennt man,was mit der informationellen Privatheit auf dem Spiel steht. Das Problem liegt nämlich nicht allein in einer möglichen Verletzung informationeller Privatheit, dies zwar auch; denn nicht nur geht mit der Erhebung von Daten immer auch die Gefahr ihres Missbrauchs einher; sondern je mehr Daten irgendwo gesammelt werden, desto eher können diese auch missbraucht werden. Doch problematisch ist hier auch, dass der liberale Staat sich präsentiert als einer, der unbegrenzten Zugriff auf seine Bürger und Bürgerinnen haben kann und haben will. Man sollte also das Problem der biometrischen Datenerfassung und damit das Problem der informationellen Privatheit auch unter der Perspektive betrachten, inwieweit der Staat seiner Rolle als Garant der Autonomie, der negativen wie positiven Freiheit von Bürgern und Bürgerinnen noch gerecht wird.

Die Gefahr liegt dann nämlich auch darin, dass Personen, gerade aufgrund einer strukturellen staatlichen oder gesellschaftlichen Geringschätzung des Schutzes informationeller Privatheit, ihre eigene Autonomie und Privatheit tendenziell als nicht mehr relevant begreifen: Gerade der demokratische Rechtsstaat jedoch, den die jeweiligen Innenminister mit ihren Maßnahmen verteidigen wollen, kann nämlich nur mit und von Personen leben, die ihrer eigenen individuellen Autonomie einen sehr hohen Stellenwert geben. Liberale Demokratien nämlich müssen, schon ganz strategisch, ein massives Interesse daran haben, dass ihre Rechtssubjekte ihrerseits ein massives Interesse an Selbstbestimmung haben, da sie anders in ihrer Funktion gefährdet wären.Wird die private Autonomie verletzt, trifft es letztlich auch die öffentliche Autonomie der Demokratie. Konflikte zwischen der notwendigen Aufgabe des Staates, seine Bürger und Bürgerinnen vor Terrorismus zu schützen einerseits, und der Aufgabe des Staates, die individuelle Freiheit dieser Bürger und Bürgerinnen zu schützen andererseits: Solche Konflikte können natürlich in ihrer Realität nicht einfach bestritten werden. Doch sollten sie richtig beschrieben werden: Stehen Freiheitsrechte und das Interesse an Autonomie auf der einen Seite, so muss für die Einschränkung dieser Rechte nicht nur ein gewichtiger Grund (wie etwa die Terroristenbekämpfung), sondern auch ein hohes Maß an Effektivität bei der Erreichung dieses Ziels in Aussicht gestellt sein. Genau dies scheint jedoch bei den neuen Sicherheitsgesetzen und Datenspeicherungen nicht der Fall zu sein.

Kommen wir nun zum zweiten Beispiel, der Entwicklung der neueren Informationstechnologien in der sogenannten panoptischen Gesellschaft. Der Begriff und die Idee des Panoptikons stammt bekanntlich von Bentham und ist über Foucault in die heutigen Debatten zur informationellen Privatheit gelangt. Das Foucault'sche Panoptikon ist hier nun interessant deshalb,weil man sein Bild von der „unsichtbaren Macht“, die „immer tiefer in das Verhalten der Menschen ein(dringe)“, vom „automatische(n) Funktionieren der Macht“, verwenden und übertragen kann auf die Frage, was problematisch ist an der rasanten Entwicklung der neuesten Informationstechnologien und damit an der Gefährdung der informationellen Privatheit, denn problematisch ist offenbar, dass man selbstverständlich und permanent beobachtet werden kann; dass man selbstverständlich und permanent als bestimmte Person identifiziert und dann, gegebenenfalls selbstverständlich und permanent, kontrolliert werden kann. Und zwar geht es hier nicht oder doch nicht nur (trotz Foucault) um die Beobachtung, Kontrolle, Identifikation eines Orwell’schen Überwachungsstaates, sondern um die Möglichkeiten, die im Prinzip jeder jedem gegenüber hat – der Geschäftsinhaber gegenüber seinen Kunden, die Eltern gegenüber ihrem Babysitter, die Versicherungen gegenüber ihren Mitgliedern, die Hacker gegenüber allen anderen Internetsurfern. Es geht hier also nicht nur um die Macht des Staates, sondern es kann durchaus eine egalitäre Macht sein, die Macht der Verletzungen informationeller Privatheit, eine egalitäre Macht, die es schwer macht, hier noch von Ausschließenden und Ausgeschlossenen zu sprechen. Und es ist eine Macht, die gar nicht benutzt werden muss, um dennoch wirksam zu sein; die a fortiori auch nicht benutzt werden muss mit dem Ziel, anderen zu schaden – Neugier allein, beispielsweise, ist im Prinzip ein vergleichsweise harmloses Motiv. Es geht nämlich vor allem um den Effekt dieser Möglichkeiten, darum, dass man im Prinzip gesehen, aufgespürt, beschrieben und damit kontrolliert werden kann.

Hierin also sollte man die eine Seite der Gefahr sehen; doch die Gefahr hat noch eine andere Seite, denn es wird in diesem ganzen weiten Feld der relevanten Daten im Dienstleistungsbereich deshalb besonders kompliziert, eindeutig von Konflikten und Verletzungen informationeller Privatheit zu sprechen, weil Personen zunehmend geneigt sind, je nach Kosten-Nutzen-Verhältnis ihre Privatheit von sich aus aufzugeben resp. zu verhandeln oder zu „verkaufen“. Nicht nur verzichten alle, die im Internet surfen, mit Kreditkarten bezahlen, über Internet-Firmen bestellen etc. täglich und bereitwillig auf Bereiche ihrer Privatheit; dabei ist der Hinweis auf die routinemässige Installierung von Cookies nur ein Beispiel. Sondern andersherum können sie, mit vergleichsweise leicht zu erlernenden Techniken, die Privatheit anderer im Internet intrudieren.

[...]
Die Gefahren liegen also zum einen im freiwilligen Verzicht auf informationelle Privatheit, zum anderen in der unfreiwilligen Kontrolle. Für problematisch kann und sollte man beides nun deswegen halten, weil beides – die freiwillige wie die unfreiwillige Verminderung des Schutzes informationeller Privatheit – dazu führen kann, dass bestimmte Formen und Dimensionen selbstbestimmten und authentischen Verhaltens nicht nur in geringerem Maße möglich werden, sondern auch als weniger relevant, weniger zentral, weniger konstitutiv für ein gelungenes Leben begriffen werden: Das hieße dann nämlich auch, dass das Selbstverständnis von Personen sich ändert, wenn und insoweit sie in wichtigen Hinsichten ihres Lebens darauf verzichten, unbeobachtet, unidentifizierbar, nicht zugänglich zu sein. Dies trifft dann jedoch nicht nur die Idee eines gelungenen – selbstbestimmten – Lebens, sondern wiederum auch die Idee der liberalen Demokratie: die nämlich auf autonome und sich ihrer Autonomie bewusste und diese schätzende Subjekte angewiesen ist.

Die folgenden Überlegungen sind eine überarbeitete Version eines Artikels, der in dem von Ralf Grötker herausgegebenen Band Privat! Kontrollierte Freiheit in einer vernetzten Welt (Heise Zeitschriften Verlag 2003) erschienen ist; ähnlich, aber ungleich viel ausführlicher, findet sich dies auch in meinem Buch Der Wert des Privaten (Frankfurt: Suhrkamp 2001; englische Übersetzung bei Polity Press 2005, The Value of Privacy).