www.aec.at  
Ars Electronica 2007
Festival-Website 2007
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Privatheit im Kontext


'Helen Nissenbaum Helen Nissenbaum

In den letzten Jahrzehnten hat die rasante Entwicklung soziotechnischer Verfahren zur Erfassung, Speicherung, Manipulation und Verbreitung von Informationen über Menschen (in der Folge „personenbezogene Informationen“ genannt) nicht nur bei Rechtsexperten, Gesellschaftskritikern und Verfechtern des Schutzes der Privatsphäre, sondern auch in den Massenmedien und der Öffentlichkeit Misstrauen, Empörung und lautstarken Protest ausgelöst. Öffentliche Auseinandersetzungen und Dispute begleiteten die Einführung von Systemen und Projekten wie Anruferkennung, „Lotus Marketplace Households“, elektronischen Mautkarten, Carnivore und „Total Information Awareness“, Online-Profiling, Choicepoint, Radiofrequenz-Identifikation, Biometrie, Videoüberwachungsanlagen sowie die systematische Erfassung von Suchanfragen im Internet, die erst vor Kurzem meine Aufmerksamkeit erregte.Wohin wir uns auch wenden, was immer wir tun, wie immer wir uns verhalten, immer scheint jemand Daten über uns zu erfassen, zu speichern, zu analysieren und zu verbreiten, ob wir es wissen oder nicht und ob wir es wollen oder nicht.

Ist unser Widerstand gegen diese Übergriffe ein sentimentales Relikt aus der Zeit vor den großen Umwälzungen, die die digitalen Technologien mit sich brachten, oder spiegelt er ein authentisches und legitimes Gefühl eines Verlusts wider? Und wenn es einen solchen Verlust gibt, um welchen Verlust handelt es sich dabei genau? Lohnt es sich, dagegen anzukämpfen oder sollten wir in Anbetracht der sonstigen Vorteile, die diese soziotechnischen Verfahren versprechen, kapitulieren?

Diese Fragen beschäftigen mich, wenn ich die unvermeidlichen Debatten rund um neu eingeführte soziotechnische Verfahren verfolge, die aufgrund der evidenten Bedrohung unserer Privatsphäre kontrovers sind. Man möchte meinen, dass philosophische Theorien in diesem Zusammenhang wesentliche Erkenntnisse brächten. Bis zu einem gewissen Ausmaß tun sie das auch. Philosophische Ausführungen zur Bedeutung von Privatheit, die etwa die Kontrolle über Informationen über sich selbst, die Kontrolle über private Daten oder den beschränkten Zugriff auf personenbezogene Daten thematisieren und erklären, warum man an Privatheit als Grundwert jeder liberalen Demokratie festhalten sollte, liefern generelle Aussagen darüber, warum diese Systeme prima facie problematisch sind. Das Problematische an diesen Theorien ist, dass sie zur Lösung vieler unserer dringlichsten Probleme nur begrenzt tauglich zu sein scheinen, da die fraglichen soziotechnischen Verfahren nicht nur das Recht auf Privatheit bedrohen oder verletzen, sondern gleichzeitig auch Vorteile haben.Viele philosophische Theorien können die Zwiespältigkeit dieser konkreten Konflikte nicht auflösen und diese Ambivalenz machen sich verschiedene Interessensvertreter zunutze, die in einem Kräftespiel der Interessen darum kämpfen, welche Maßnahmen ihren jeweiligen Intentionen am besten dienen.

Das Prinzip kontextueller Integrität bietet Ansätze zur Lösung der Probleme in Zusammenhang mit Privatheit, indem es nicht nur in moralischer und politischer Hinsicht relevante Veränderungen durch soziotechnische Systeme aufzeigt, sondern auch einen Bezugsrahmen für die Interpretation von Sinn und Bedeutung dieser Veränderungen bereitstellt. Dabei werden zwei theoretische Konstrukte ins Spiel gebracht: Kontexte und informationelle Normen.

Überblick über kontextuelle Integrität

Kontextuelle Integrität ist eine philosophische Darstellung von Privatheit in Bezug auf die Übermittlung personenbezogener Informationen und Daten. Der Begriff erhebt nicht den Anspruch, eine umfassende Definition von Privatheit zu geben, sondern versteht sich als normatives Modell oder normativer Bezugsrahmen zur Evaluierung des Informationsflusses zwischen Akteuren (Einzelpersonen und anderen Entitäten), wobei insbesondere versucht wird zu erklären, warum gewisse Muster dieses Informationsflusses öffentlichen Protest hervorrufen und als Verletzung des Rechts auf Privatheit betrachtet werden und andere nicht. Das Konzept der kontextuellen Integrität respektiert die Schlüsselrolle komplexer gesellschaftlicher Regelsysteme, die den Informationsfluss steuern; diese Regelsysteme sind der Ausgangspunkt für das Verständnis normativer Verpflichtungen zum Schutz der Privatheit. Während die kontextuelle Integrität selbst ein relativ neuer Begriff ist, lag die Idee kontextbezogener informationeller Normen bereits seit Längerem „in der Luft“, sie wurde auf unterschiedliche Weise in der Literatur aufgegriffen, etwa von den Philosophen James Rachels und Ferdinand Schoeman, und manifestiert sich konkret in den Vertrauensgrundsätzen, auf denen die Praxis vieler einflussreicher Berufsgruppen wie etwa den Juristen und Medizinern basiert. Schlüsselbegriffe der Theorie der kontextuellen Integrität sind Kontexte, informationelle Normen, Angemessenheit, Rollen und Übermittlungsprinzipien.

Mit dem Begriff „Kontext“ möchten wir die Idee zum Ausdruck bringen, dass die Menschen in der Gesellschaft nicht nur als Individuen in einer undifferenzierten Gesellschaft handeln und verhandeln, sondern als Personen mit gewissen Eigenschaften (Rollen) in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext, etwa dem Gesundheitssystem, der Bildung, dem Arbeitsmarkt, dem Handel etc. Der jeweilige Kontext sollte als strukturiertes Umfeld verstanden werden, dessen Merkmale sich im Lauf der Jahre – manchmal über lange Zeitspannen hinweg – entwickelt haben; sie resultieren nicht nur aus Intentionen, sondern sind darüber hinaus durch eine Reihe ortsbezogener, kultureller, geschichtlicher Kontingenzen etc. bestimmt. Zu den charakteristischen kontextuellen Eigenschaften zählen die (mitunter unbegrenzte) Zuschreibung von Rollen sowie eine Reihe verhaltensbestimmender Normen, die Handlungen und Praktiken vorschreiben (und verbieten). Für das Verständnis des Begriffs „Kontext“ sind auch noch weitere Merkmale essenziell, wie etwa Absichten,Werte und Zwecke.

Sehen wir uns anhand einiger konkreter Beispiele an, wie sich diese Merkmale manifestieren. Im Kontext des Gesundheitswesens, der Praxis eines Arztes beispielsweise, hätten wir die Rollen des Patienten, des Arztes, der Krankenschwester, der Sprechstundenhilfe und der Buchhaltung. Im Bildungskontext, etwa einer Schule, treffen wir erwartungsgemäß auf Studenten, Lehrer, Direktoren und Studienberater. Im Wirtschaftsbereich, etwa in einem Geschäft, sind die Rollen auf Konsumenten, Verkäufer, Abteilungsleiter, Lagerpersonal und Geschäftsinhaber verteilt. Für jede dieser Rollen sind gewisse Verhaltensweisen und darauf bezogene Reaktionen vorgeschrieben oder werden zumindest erwartet. Dies heißt natürlich nicht, dass jede Handlung durch kontextbezogene Normen vorgegeben ist. In manchen Kontexten sind nur einige wenige grundlegende Verhaltensweisen vorgeschrieben,während die übrigen mehr oder weniger undefiniert bleiben. Rollen und Normen sind jedoch nur eine Komponente der Struktur, die einen Kontext ausmacht. Würde ein Außerirdischer auf die Erde entsandt, um das gesellschaftliche Leben auf unserem Planeten zu erforschen und beispielsweise über das typische Umfeld des Gesundheitswesens, etwa ein Krankenhaus, zu berichten, wäre es für seine Zuhörerschaft nicht sehr aufschlussreich, würde er nur die verschiedenen Rollen und die ihnen zugeordneten Verhaltensmuster beschreiben. Die Aktivitäten in einem Krankenhaus ergeben nur Sinn, wenn man sie mit den ihnen zugrunde liegenden Zielen des Gesundheitswesens im Allgemeinen und des Krankenhauses im Besonderen in Beziehung setzt, nämlich der Bekämpfung von Krankheiten und der Gesundheitsförderung. Obwohl es selbst im Fall des Gesundheitswesens, das relativ stabil ist, nicht einfach ist, Ziele und Werte in einem bestimmten Kontext exakt zu bestimmen, ist der zentrale Punkt der, dass die Rollen und Normen in einem bestimmten Kontext grundsätzlich nur sinnvoll sind, wenn man sie zueinander in Beziehung setzt.

In Bezug auf die Privatheit interessieren uns jene Normen am meisten, die die Übertragung personenbezogener Informationen regeln, das heißt jene, die den Fluss (der Kommunikation) von einer Partei zur anderen durch Vorschriften und Verbote steuern. Diese sogenannten „informationellen“ Normen sind von größter Wichtigkeit. Im Kontext des Gesundheitswesens geben die informationellen Normen beispielsweise vor, wie die Patienten mit ihren Ärzten kommunizieren und sie erlegen den Ärzten Schweigepflicht in Bezug auf den Gesundheitszustand der ihnen anvertrauten Patienten auf. Die informationellen Normen regeln, wie Konsumenten mit Verkäufern oder anderen Einkäufern kommunizieren und vice versa. Auf ähnliche Weise regeln Normen, was Professoren über ihre Studenten wissen dürfen oder was die Eltern der Studenten von den Professoren erwarten können und was nicht. Die kontextuelle Integrität ist ein Kennzeichen von Situationen, in denen kontextbezogene informationelle Normen respektiert werden; wenn informationelle Normen ungerechtfertigt nicht eingehalten werden, wird auch die kontextuelle Integrität verletzt.

Wir haben zunächst die informationellen Normen sehr allgemein als Regeln, die den Fluss personenbezogener Informationen von einer Partei zu einer anderen steuern, erörtert; in weiterer Folge sehen wir uns nun die innere Struktur informationeller Normen detaillierter an. Ein Element dieser Struktur ist der Informationstyp (Kategorie, Sorte, Klasse), das Attribut oder die verschiedenen Attribute, die eine bestimmte Norm auszeichnen.

Während viele andere bekannte Theorien zur Privatheit eine einfache Dichotomie von Informationstypen – öffentlichen und privaten (sensiblen oder persönlichen) – anerkennen, haben wir bereits an anderer Stelle erwähnt, dass diese Dichotomie für das Verständnis des Rechts auf Privatheit durchaus problematisch ist. Die Theorie kontextueller Normen hingegen geht von einer potenziell unbegrenzten Reihe von Informationstypen (Attributen) aus, die sich auf die informationellen Normen eines bestimmten Kontexts auswirken können. Der Begriff Angemessenheit gibt darüber Aufschluss, ob die übermittelte Information den Anforderungen informationeller Normen entspricht. Man stelle sich beispielsweise ein Einstellungsgespräch für die Position eines Bankmanagers in den heutigen USA vor. Man würde es als unangemessen empfinden, wenn der Personalchef dem Bewerber Fragen zu dessen Familienstand stellen würde. Im Kontext eines Flirts (oder eines Rendezvous) würde eine solche Frage hingegen als angemessen erscheinen. (Da der Informationstyp so großen Einfluss auf das Urteil darüber hat, ob eine Norm verletzt wurde, unterschied man in früheren Darstellungen der kontextuellen Integrität die Normen der Angemessenheit von jenen der Übertragung. Spätere Bemühungen um die Formalisierung kontextueller Integrität zeigten, dass beide Faktoren als gleichwertige Parameter informationeller Normen zu werten sind.)

Ein zweites Schlüsselelement informationeller Normen sind die Akteure oder Agenten, die die Bedeutung der Rollen in einem Kontext widerspiegeln, indem sie die vielfältigen und komplexen Empfindungen in Hinsicht darauf, welcher Informationsfluss akzeptabel ist und welcher nicht, beeinflussen. Es gibt drei relevante Akteure in jeder Kommunikation oder Informationsübertragung: denjenigen, von dem der Informationsfluss ausgeht, denjenigen, an den er adressiert ist, und schließlich den Betroffenen, auf den die Information bezogen ist. (Dabei kann es sich jeweils auch um mehrere Personen handeln.) Was zählt, ist die Funktion oder Rolle, die ein Akteur wahrnimmt, die durch mehr oder weniger ausgeprägte Details innerhalb des Kontexts und über diesen hinaus erkennbar wird. In akademischen Kreisen etwa werden die Rollen des Vorstands, des Fakultätsvorsitzenden, des Assistenten, Studenten, Verwalters usw. mit bestimmten, manchmal aber nur grob skizzierten Pflichten und Privilegien verbunden, wobei sich manche davon auf die Übertragung personenbezogener Informationen beziehen.

Ein drittes Schlüsselelement informationeller Normen ist das Übertragungsprinzip, das vermutlich der markanteste Aspekt der Theorie der kontextuellen Integrität ist. Übertragungsprinzipien regeln die spezifischen Konditionen (Bedingungen oder Voraussetzungen), die den Informationsfluss von einem Akteur zum anderen bestimmen. Eines dieser Prinzipien ist die Vertraulichkeit. Wenn in der informationellen Norm ein Prinzip der Vertraulichkeit festgesetzt wird, bedeutet dies, dass den Akteuren, die Informationen erhalten, verboten wird, diese in weiterer Folge mit anderen auszutauschen. Vertraulichkeit ist eines der markantesten Übertragungsprinzipien, doch gibt es viele weitere, etwa die Reziprozität, die besagt, dass der Informationsfluss bidirektional ist – was in einer Freundschaft zwar erwünscht, zwischen Patient und Arzt aber unzulässig ist. Ein weiteres Prinzip ist die Betroffenheit, die besagt, dass ein Akteur das Recht hat, etwas über den vom Informationsfluss Betroffenen zu erfahren, wenn er selbst davon in Mitleidenschaft gezogen wird; ein Beispiel dafür wäre, dass man ein Recht hat zu erfahren, ob der Partner HIV-positiv ist oder nicht.

Eine weitere Gruppe von Übertragungsprinzipien basiert darauf, wie viel ein Betroffener über einen bestimmten Informationsfluss weiß und ob er ein Recht auf Einverständnis hat. Ein mögliches Szenario wäre eine Person, die vor Gericht unter Eid befragt wird. Einverständnis ist hier kein vorherrschendes Prinzip, es handelt sich eher um eine Zwangssituation. In einem anderen Szenario, beispielsweise der Entscheidung über die Platzierung von Videoüberwachungskameras in einem öffentlichen Park, stellt sich die Frage, ob die Betroffenen darüber informiert werden müssen, dass sie gefilmt werden. Es gibt zahlreiche Szenarien, in denen das vorgeschriebene Übertragungsprinzip das Einverständnis ist, in einem solchen Fall werden Informationen nur übermittelt, wenn die Bedingung des Einverständnis erfüllt ist. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Kontrolle der Betroffenen über den sie betreffenden Informationsfluss, der in gewissen Theorien definitiv eine Rolle spielt, nur ein – wenngleich bedeutendes – Übertragungsprinzip neben anderen ist. Es gibt vermutlich unendlich viele Variationen von Übertragungsprinzipien.

Kontextuelle Integrität als Heuristik

Der Wert der kontextuellen Integrität für die Prüfung umstrittener Verfahren besteht im Aufzeigen von Faktoren, die von anderen Theorien von Privatheit häufig übersehen oder ignoriert werden. Die kontextuelle Integrität ist eine heuristische Methode, mit der sich bestimmen lässt, warum eine bestimmte Praktik Entrüstung,Widerstand oder Protest hervorruft, indem sie aufzeigt, wie fest verwurzelte informationelle Normen verletzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Argument, dass die Einhebung von Straßenbenutzungsgebühren per RFID (Radio Frequency Identification – Identifizierung über Radiowellen) keine neue Bedrohung der Privatsphäre darstellt, weil die Fahrzeuglenker ohnedies für alle sichtbar in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Die Heuristik der kontextuellen Integrität kommt zu anderen Erkenntnissen. Die Mautkassierer, die Bargeldzahlungen akzeptierten, wussten nicht, wer die Fahrzeuglenker waren, außerdem konnten sie sich ohne die systematische Erhebung von Kfz-Kennzeichen höchstens kurzfristig und fragmentarisch an Fahrzeugtype, -farbe, Anzahl der Insassen und die ungefähre Tageszeit erinnern. Und dieses Wissen wäre darüber hinaus an den jeweiligen Ort gebunden. Diese Datenflüsse, die durch den Informationstyp, die Akteure und die Übertragungsprinzipien charakterisiert sind, unter- scheiden sich signifikant von jenen, die aufgezeichnet werden, wenn eine RFID-Transponder-Kennung ein Kfz-Kennzeichen an ein Empfangsteil an der Zahlstelle weiterleitet, das wiederum mit einer Datenbank, in der frühere Transaktionen und Kreditkarteninformationen gespeichert sind, verbunden ist; die Informationen sind vollständig und dauerhaft in einem zentralen Speicher festgehalten und, abgesehen vom Mautkassierer und dem Lenker des nachfolgenden Fahrzeugs, unter den verschiedensten Bedingungen vielen weiteren Personen zugänglich.

Dass Verfahren, die durch neu entwickelte soziotechnische Systeme ermöglicht werden,Widerstand erwecken, hat zweifelsohne mehrere Gründe. Einer davon ist, dass eine neue Praktik die kontextuelle Integrität in einem Bereich verletzt, der mitunter durch andere Annäherungen an das Thema Privatheit nicht zu entdecken wäre. Der heuristische Ansatz basiert auf einer Analyse, durch die der maßgebliche Kontext ermittelt und nachgewiesen wird,welche Veränderungen die neue Praktik in Bezug auf Informationstypen, Sender, Empfänger, Betroffene und die Prinzipien der Informationsübermittlung zur Folge hatte.

Ist kontextuelle Integrität inhärent konservativ?

Selbst wenn man vom Nutzen einer gesellschaftlichen Analyse wie der hier präsentierten überzeugt ist, sind Bedenken hinsichtlich ihres Festhaltens an Verfahren der Vergangenheit legitim. Da die kontextuelle Integrität den Wandel untersucht und zu implizieren scheint, dass Veränderung negativ ist, ist sie inhärent konservativ. Dieser Vorwurf hat durchaus seine Berechtigung, ist aber nur bis zu einem gewissen Grad relevant. Aus meiner Sicht stellt sich die Situation wie folgt dar: Obwohl die Heuristik eine Veränderung aufzeigt, veranlasst sie uns nicht automatisch, diese abzulehnen, sondern lediglich, ihr mit Misstrauen zu begegnen. Die Verletzung der kontextuellen Integrität ist ein Warnsignal, eine Erklärung dafür, warum eine Veränderung Angst auslöst. Doch selbst wenn der konservative Ansatz der Theorie uns zwingt, die Veränderung zu untersuchen, werden wir gleichzeitig auch aufgefordert, diese zu hinterfragen, zu evaluieren oder manchmal auch zu akzeptieren.

Als Kanäle zur Erfassung, Manipulation und Verbreitung personenbezogener Informationen versprechen die neuen Technologien und die digitalen Medien der Menschheit große Vorteile,während sie gleichzeitig eine unfassbare Bedrohung der Privatsphäre darstellen. Unsere größte Chance ist die Schulung unseres Urteilsvermögens, um diese Möglichkeiten unterscheiden und einschätzen zu können, eine Auswahl zu treffen und, wenn nötig, Kompromisse zu schließen. Die kontextuelle Integrität hat keine schnelle Lösung parat; sie bietet aber einen systematischen Ansatz, mit dessen Hilfe eruiert werden kann, was jeweils auf dem Spiel steht. Dies ist in erster Linie hilfreich bei Fällen, in denen die Aufdeckung einer Änderung des Informationsflusses genügt, um diesen umzukehren oder abzuschwächen. In den übrigen Fällen müssen wir die jeweiligen Vorteile in Betracht ziehen. Zahlreiche fundierte Theorien haben auf die Bedeutung von Privatheit verwiesen und aufgezeigt, wie sie vor Leid schützt, die Freiheit des Einzelnen, die Autonomie und soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie fördert. Aber wann werden sich diese Theorien gegenüber Prioritäten wie Effizienz, Sicherheit, Privateigentum und Verantwortlichkeit durchsetzen, insbesondere wenn von den Vorteilen nicht gleichmäßig alle Sektoren und alle Individuen einer Gesellschaft profitieren?

In den wenigen noch verbleibenden Zeilen muss ich mich darauf beschränken, die wesentlichen Aspekte zusammenfassend darzustellen. Erstens muss der Fokus der Analyse im kontextuellen Bereich bleiben, wobei kontextuelle Werte, Ziele und Motivationen in das Gesamtbild einzubringen sind. Zweitens ist zu beachten, dass die Normen des Informationsflusses nicht beliebig (wenngleich häufig kontingent) sind; sie haben häufig die wichtige Funktion, substanzielle kontextuelle Ziele zu unterstützen. In aller Kürze ein Beispiel: Das Prinzip der Vertraulichkeit spielt im medizinischen Kontext eine essenzielle Rolle, da eine Person, die an einer gesellschaftlich stigmatisierten Erkrankung leidet, sonst davor zurückschrecken würde, medizinische Hilfe zu suchen. Dies würde dem Betroffenen schaden, im Fall sexuell übertragbarer Krankheiten generell aber auch eine gesundheitliche Bedrohung für die gesamte Gesellschaft darstellen.

Der Kontext der politischen Bürgerrechte in einer Demokratie ist ein komplizierterer Fall. Das komplexe Regelsystem, das eine geheime Stimmabgabe bei Wahlen gewährleistet, schützt nicht nur die Rechte des Einzelnen, sondern auch den demokratischen (kontextuellen) Wert der Stimmengleichheit: Ob arm oder reich, Generaldirektor oder Postbote, Tyrann oder Unterdrückter, jede Stimme ist gleichwertig, wie ungleich die Stellung der einzelnen Wähler in einem anderen Kontext auch sein mag. Diese Normen gelten aber nicht für das Parlament oder den Kongress, wo für die Abgeordneten als Vertreter des Volks die offene Stimmabgabe vorgeschrieben ist. Es ist vorstellbar, dass die Abgeordneten dadurch manchen Repressionen ausgesetzt sind, vor denen eine politische Gemeinschaft ihre Bürger schützt. Man könnte einwenden, dass in diesem Fall die Werte oder Ziele einer offenen Regierungsform und der Verantwortlichkeit die Gefahren der Einschüchterung, des Stimmenkaufs usw. aufwiegen.

Veränderungen, die beispielsweise die Vertraulichkeit medizinischer Informationen oder das Wahlgeheimnis bedrohen, können die Erreichung kontextueller Ziele erschweren.Welche Vorteile Veränderungen auch versprechen, diese Möglichkeit muss immer in Betracht gezogen werden. In anderen Worten, man muss nicht nur bedenken, wer Schaden erleidet und wer profitiert, wer geschwächt und wer gestärkt wird, sondern auch,wie die prekäre Balance, die sich in einem Kontext entwickelt hat und die auf einem komplexen Normensystem basiert, das auch informationelle Normen einschließt, durch eine bestimmte Veränderung gestört oder verfälscht werden könnte.

In einem etablierten, seit Jahrhunderten bestehenden Kontext, wie etwa jenem des Gesundheitssystems oder der demokratischen Bürgerrechte, sind Geschichte und Erfahrung sehr lehrreich. In neueren oder zumindest prima facie neu erscheinenden Kontexten, wie etwa jenem der Suchabfragen im Internet, sind im Rahmen eines solchen Prozesses größere Herausforderungen zu erwarten, die u.a. auch eine nähere Bestimmung des Kontexts erforderlich machen.Wir sollten uns dadurch aber nicht davon abhalten lassen, eine gesellschaftliche Analyse im Allgemeinen und eine Analyse auf Grundlage der Theorie der kontextuellen Integrität im Besonderen als Bezugsrahmen heranzuziehen, um substanzielle Lösungen zu finden. Dieser Bezugsrahmen zeigt nämlich auch auf, wie sehr Privatheit in die komplexen und hartnäckigen Probleme der übergeordneten Welt der Gesellschaft und der Politik verstrickt ist.

Aus dem Englischen von Martina Bauer