Recht im Wandel
Zur Zukunft des Rechts in der Informationsgesellschaft
'Viktor Mayer-Schönberger
Viktor Mayer-Schönberger
Mein Großvater war Bezirksrichter. Meist ging er zu Fuß von Ort zu Ort durch den Pongau und hielt seine Amtstage ab. Die Menschen baten ihn um Rat und um Hilfe in der Beilegung ihrer Streitigkeiten. Er sprach nicht nur Recht, für die Menschen war er das Recht. Das Leben, so suggeriert dieses Bild,war einfacher. Eine ganz bestimmte gesellschaftliche Institution – die Gerichte – sind mit der Aufgabe betraut, demokratisch legitimierte Regeln, in Form von Gesetzen, auf konkrete Konfliktfälle anzuwenden und so den Rechtsfrieden zu wahren. In diesem Bild kommt den rechtsberatenden Berufen nur eine untergeordnete Rolle zu.
Noch heute halten wir an wesentlichen Elementen dieses Bildes fest. Unsere Straf- und Zivilprozessordnung räumt den Richterinnen und Richtern beträchtliche Macht in der Durchführung des Verfahrens ein. Selten kommt dabei hierzulande die knisternde Stimmung auf, einem intellektuellen und rhetorischen Duell der Rechtsvertreter der Parteien beizuwohnen, wie wir dies aus amerikanischen Fernsehserien und Kinofilmen gewohnt sind. Stattdessen hat in unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis die Richterin oder der Richter die Zügel des Verfahrens fest in der Hand. Das ist möglich, so die verbreitete Meinung,weil unser Recht gesatzt und damit klar sei – ganz im Gegensatz zum Fallrecht des angloamerikanischen Raums, in dem die Anwälte den Richtern helfen müssen, den richtigen Präzedenzfall zu finden. Denn: Vielleicht zu Anfang des 19. Jahrhunderts konnte ein amerikanischer Richter das Fallrecht noch überblicken, aber heute würden Richterinnen und Richter hilflos im Meer der Präzedenzfälle ertrinken, würden ihnen nicht Anwälte unter die Arme greifen.
Genau das, so die landläufige Meinung, sei der Unterschied zwischen dem angloamerikanischen Fallrecht und dem kontinentaleuropäischen Gesetzesrecht: Hier bekomme vor unparteiischen Gerichten noch der Recht, der im Recht sei, jenseits des Atlantiks hingegen gewinne stets jene Partei, die sich den besseren Rechtsbeistand leisten kann.
Analysiert man die Spruchpraxis des amerikanischen Höchstgerichts, des Supreme Court, so scheint sich diese Ansicht zunächst zu bestätigen. Konnten im 19. Jahrhundert die Höchstrichter in den USA mit wenigen hundert Präzedenzfällen das Auslangen finden, so sind es heute viele Tausende. Von 1960 bis zum Jahr 2000 stieg die Anzahl der angeführten Präzedenzfälle pro Seite eines höchstgerichtlichen Urteils um beeindruckende 60 Prozent an. Das amerikanische Höchstgericht hat sich längst damit abgefunden, dass ihm die Anwältinnen und Anwälte der Parteien in immer länger werdenden Schriftsätzen die passenden Präzedenzfälle liefern. Das lässt den Schluss zu, dass die Gerechtigkeit sich der Partei eröffnet, welche über die besseren Resourcen verfügt.
Viel spannender ist jedoch, was sich in Kontinentaleuropa ereignet.Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der Verwendung von Präzedenzfällen in Entscheidungen österreichischer Höchstgerichte. Wie von Kritikern erwartet, nimmt der amerikanische Supreme Court heute mehr als doppelt so oft Bezug auf Präzedenzfälle wie noch 1960. Aber wirklich überraschend ist etwas anderes: Österreichische Höchstgerichte haben ihre Bezüge auf Präzedenzfälle im gleichen Zeitraum ebenfalls verdoppelt – obwohl wir kein Fallrecht, sondern ein gesatztes Recht haben. Aber nicht nur die relative Entwicklung der Bezüge auf Präzedenzfälle über die Zeit verläuft parallel in den USA und in Österreich, sondern auch die absoluten Zahlen (Bezüge pro Urteilsseite) sind sehr ähnlich.
Warum ist dies von so zentraler Bedeutung?
Recht im Wandel Diese Ergebnisse zeigen, dass Recht als Institution einem fundamentalen Wandel unterworfen ist.
- Recht wird fallbezogener, gerade auch in Kontinentaleuropa. Unser heutiges Recht hat nichts mehr mit dem Bild meines Großvaters zu tun, mit der Vorstellung, man könne das gesatzte Regelwerk einer mathematischen Formel gleich auf einen Fall anwenden. Wir durchleben gerade den Wechsel in ein hybrides System aus gesatztem Recht und Fallrecht.
- Recht wird damit aber auch diffuser, lässt sich weniger in ein einfaches Korsett klarer Regeln pressen. Das bedeutet für die Rechtsunterworfenen weniger Rechtsklarheit.
- In dem Maße, in dem die Rechtsklarheit sinkt, vermindert sich auch die Rolle der Gerichte als gesellschaftliche Institution der voraussehbaren Konfliktlösung.
- In einer Zeit erhöhter Rechtsunsicherheit suchen Bürgerinnen und Bürger nach Sicherheit. In dem Maße, in dem Höchstgerichte dieses Bedürfnis nicht mehr erfüllen, steigt die Bedeutung der rechtsberatenden Berufe.
Kein Zweifel: Recht ist im Wandel. Aber noch, so könnte man daraus schließen, ist seine Rolle als gesellschaftliche Institution der Konfliktlösung und -vermeidung unbestritten. Doch auch das ist ein Trugbild. Und damit komme ich zum zweiten Punkt meiner Ausführungen.
Recht, so wie wir es kennen, ist ein Kind eines territorial verorteten Nationalstaates. Es unterwirft relativ homogene Gruppen in einem zusammenhängenden Gebiet einem einheitlichen Regelsystem und funktioniert, weil die meisten durch das Recht zu lösenden Konflikte zwischen Menschen einer Rechtsordnung auftreten. Die Schnittstellen unterschiedlicher Rechtssysteme sind hingegen seit jeher Sollbruchstellen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit.
Diesem Problem versuchen wir jedenfalls seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Rechtsangleichung, Rechtsharmonisierung und einer Internationalisierung des Rechts zu begegnen. Das gelingt dort, wo das Bedürfnis der betroffenen Nationalstaaten nach einer Lösung hoch ist und gleichzeitig die dafür in Kauf zu nehmenden Veränderungen der eigenen Rechtsordnung gering bleiben. Die Internationalisierung aber versagt, wenn Rechtssystemen unterschiedliche Werte zu Grunde liegen, die Nationalstaaten nicht bereit sind aufzugeben. Mit dieser Krücke für die Schnittstellen konnte territorial verortetes Recht bis heute überleben. Auch die Herausforderung des grenzüberschreitenden Rundfunks – Radio und Fernsehen – sowie des weltweiten Fernschreib- und später Telefonnetzes konnte so bewältigt werden: Eine relativ überschaubare Anzahl von Transaktionspartnern konnte im Rahmen eines dafür vorgesehenen internationalen Verhandlungsrahmens Spezialregeln vereinbaren, die vor allem einen Zweck hatten: die grenzüberschreitenden Effekte auf die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen gering zu halten.
Das Internet hat dieses Gleichgewicht zerstört – aber nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken mögen.
Natürlich, immer wieder wurde argumentiert, dass das Internet Informationen weltweit verteilbar und damit auch abrufbar macht, sodass Informationsanbieter und Informationsnachfrager jederzeit und ohne große Transaktionskosten ihre Standorte so verändern können, dass territoriales Recht ihnen nicht im Wege ist.Wenn die USA Internet-Glücksspiel verbieten, stellt man den Server einfach in Costa Rica auf oder in Moskau oder in Kuala Lumpur. Durch diese Arbitrage würde Recht unterminiert und marginalisiert.
Ich denke heute, dass diese Ansicht unzutreffend ist. Trotz des Internet ist es nationalen Rechtsordnungen wiederholt gelungen, jene zur Verantwortung für ihr Handeln am Internet zu ziehen, die sich dafür bewusst außerhalb der Rechtsordnung begeben haben. Oft wurde behauptet, dass würde dazu führen, dass damit jeder am Internet dem Recht jedes Staates der Erde unterworfen sei.Wer als Europäer ein Nacktfoto auf seine Homepage stelle, liefere sich damit einer Strafverfolgung in den USA oder in Saudi- Arabien aus. Das könne doch nicht sein.Tatsächlich aber haben Gerichte relativ selten versucht, die Regeln eines Landes einem Anbieter in einem anderen Land aufzuerlegen, und zumeist nur dann, wenn das Verhalten des Anbieters ganz gezielt darauf gerichtet war, in einem anderen Land negative Konsequenzen auszulösen.
Ein anderes Internet-Phänomen macht dem Recht viel mehr zu schaffen. Amazon, der ursprünglich durch sein Buchangebot bekannt gewordene Internethändler, liefert an Kunden in 200 Ländern, die über das Internet bestellen. Amazons Umsatz für das Jahr 2006 betrug über zehn Milliarden Dollar. Am auftragsstärksten Tag des vergangenen Jahres, dem 11. 12. 2006, gingen bei Amazon über vier Millionen Einzelbestellungen ein. Amazon liefert an Kunden in Ländern mit unklaren Rechtsordnungen und fraglicher Rechtssicherheit. Trotzdem liefert Amazon ohne Bedenken. Zwei Gründe sind dafür verantwortlich: Zum einen ist das finanzielle Risiko, das mit einer einzelnen Bestellung für Amazon verbunden ist, relativ gering. Zum zweiten bedient sich Amazon einer Institution, die Zahlung weitgehend garantiert und dafür einen Bruchteil der Transaktionssumme verrechnet: der Kreditkarte.
Kreditkarten als Alternative zum Recht? Keine andere Institution stellt territoriales Recht weltweit so in Frage wie diese. Das Dienstleistungsbündel der Kreditkartenanbieter ist beträchtlich. Sie bieten nicht nur die Transaktionsabwicklung an, sondern vielfach auch die Haftungsübernahme. Wer eine betrügerische Belastung auf seiner Kreditkartenabrechnung findet, kann diese in der Regel von den Kreditkartenanbietern rasch aufheben lassen. Die Rückbuchung erfolgt ohne formales rechtliches Verfahren. Der Transaktionskonflikt wird an Hand der durch das Kreditkartenunternehmen festgelegten Regeln beigelegt. An diese Regeln hat sich jeder zu halten, der sich auch in Hinkunft der Kreditkarten bedienen will. Ein beschränkter Markt an großen Kreditkartenanbietern bedeutet für den, der die Kreditkarte verloren hat, weil er gegen die Regeln verstieß, beträchtliche Unannehmlichkeiten und Kosten. Das System funktioniert weitgehend unabhängig von der nationalen Rechtsordnung und ist damit weltweit anwendbar.
Das heißt nicht, dass Kreditkartenunternehmen selbst nicht mitunter den Rechtsweg verfolgen, um zu ihrem Geld zu kommen. Aber das spielt eine untergeordnete Rolle. Ihr Risiko steuern sie vielmehr durch außergewöhnlich geschickte Analyse der Millionen an täglichen Transaktionsinformationen, die ungewöhnliche Buchungen rasch erkennen und einer genaueren Kontrolle unterziehen lassen.
Das Beispiel des Internethändler Amazon gibt einen ersten Eindruck von dem, was ich als institutionellen Generationswechsel bezeichnen möchte. Das Recht als Konfliktlösungs- und -vermeidungsmechanismus wird durch neue Intermediäre, neue Institutionen überlagert.
Aber im Fall von Amazon steht Millionen von Käufern wenigstens ein einziger identifizierbarer Verkäufer gegenüber. Dies hat ein weitgehend einseitiges Risiko zur Folge: Amazon hat Sorge, dass seine Kunden zahlen, und bedient sich daher eines Intermediärs. Die Kunden hingegen vertrauen in der Regel darauf, dass Amazon seiner Lieferverpflichtung nachkommt, weil sie dies auch bei früheren Transaktionen mit Amazon so erlebt hatten.
Die Situation ist anders, wenn sich Käufer und Verkäufer nicht kennen und trotzdem kontrahieren wollen. Das ist der Markt, den eBay erschlossen hat. eBay ist ein Marktplatz, auf dem jeder Produkte kaufen und verkaufen kann. eBay hat über 133 Millionen Teilnehmer, die im vierten Quartal 2006 an mehr als 172 Millionen Einzeltransaktionen beteiligt waren. Über den Marktplatz eBay wurden im vierten Quartal 2006 mehr als elf Milliarden Dollar umgesetzt. Der Wert der meisten Transaktionen liegt unter USD 150, aber eBay ist auch der größte Gebrauchtwagenmarkt Amerikas. Und das bedeutet Transaktionswerte von Tausenden und Zehntausenden Dollars.
Weil Konsumenten in der Regel nicht selbst berechtigt sind, Kreditkarten anzunehmen, konnte eBay auch nicht darauf hoffen, dass Teilnehmer an eBays Onlinemarkt ihr Transaktionsrisiko auf Kreditkartenunternehmen auslagern könnten. Das stellte eBay vor ein beträchtliches Problem – wer, wenn nicht Kreditkarten, könnten die Funktion der Transaktionssicherung übernehmen? Nun könnten Juristen sagen:Wozu braucht eBay einen neuen Intermediär? Es gibt diesen Intermediär doch bereits. Er heißt Recht. Das ist völlig richtig. Aber im Recht sah eBay keinen geeigneten Partner – nicht, weil Verträge über die Grenzen von Rechtsordnungen via eBay geschlossen werden. Nein, das war nicht das Problem. Bei eBay war man einfach davon überzeugt, dass die Menschen für Konflikte von ein paar hundert Dollar Wert nicht den Rechtsweg beschreiten würden. Das Recht wäre ihnen zu teuer. Stattdessen würden sie den Verlust akzeptieren und eBay nicht mehr nutzen. Das aber konnte keinesfalls im Interesse eBays sein. Für eBay war damit die Lösung des Problems der Transaktionssicherung von oberster Priorität. Deshalb hat eBay drei Mechanismen entwickelt, welche die Rolle der Kreditkarten bei Amazon übernehmen. Diese drei Mechanismen sind das Fundament des Erfolges von eBay als Marktplatz.
Drei alternative Mechanismen der Transaktionssicherung Erstens: Jeder Transaktionspartner bei eBay bewertet nach dem Abschluss des Geschäftes sein Gegenüber.Weil jeder die bisherigen Bewertungen eines möglichen Transaktionspartners einsehen kann, kann sich so etwas wie Reputation herausbilden. Das Geheimnis hierbei ist, dass durch das Bewertungssystem die auf viele Transaktionspartner verteilte Information über das Verhalten eines eBay-Teilnehmers zu einem Gesamtbild zusammengefügt wird. Reputation wiederum ist nichts anderes als die Hoffnung, aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließen zu können.Wer eine hohe Reputation hat, der kann – das wissen Luxuslabels wie In- Lokale – für das gleiche Produkt mehr verlangen. Das Bewertungssystem bei eBay hat sich erstaunlich gut bewährt – es führt zu deutlich weniger Konfliktfällen als etwa die Verwendung von Kreditkarten, und das bei weit geringeren Kosten. Denn eBay stellt nur die Bewertungsinfrastruktur zur Verfügung, während die Transaktionspartner selbst die Zeit aufbringen, einander gegenseitig zu bewerten. Auf den ersten Blick eindrücklich ist auch, dass die weit überwiegende Zahl der Transaktionspartner ihre Gegenüber bewerten, selbst wenn sie unmittelbar davon nicht profitieren.
Zweitens kaufte eBay sich mit PayPal ein eigenes Zahlungssystem ein, das nicht nur bargeldlose Geldflüsse zwischen Transaktionspartnern erlaubt, sondern auf Wunsch auch das Transaktionsrisiko in großen Teilen übernimmt. Das funktioniert wie bei Kreditkarten: eBay verrechnet den Transaktionspartnern für die Durchführung einen Bruchteil des Transaktionswertes. Im vierten Quartal 2006 betrug dieses Disagio 3.66 Prozent des über PayPal verrechneten Transaktionswertes. Für eBay war das ein gutes Geschäft. Denn 3.66 Prozent Disagio standen 0.41 Prozent an Zahlungen aus dem Haftungsversprechen gegenüber.
Drittens bietet eBay den Transaktionspartnern die Möglichkeit an, etwaige Konflikte durch Mediation beizulegen. Dazu hat eBay eine Vereinbarung mit dem Internet-Unternehmen Squaretrade.com geschlossen, das seinen Kunden eine kostengünstige und zeitnahe Mediation über das Internet anbietet. In den letzten Jahren hat Squaretrade mit seinen paar Dutzend Mitarbeitern über zwei Millionen Streitigkeiten in 120 Ländern erfolgreich beigelegt. Neben eBay nutzen das Service von Squaretrade mittlerweile über 50.000 weitere Online-Anbieter.
Bewertungen, Haftungsübernahme und Online-Mediation: Das sind die drei von eBay gewählten Mechanismen zur Gewährleistung von Transaktionssicherheit. Der Erfolg gibt eBay recht, auch wenn sehr präzise Studien in den letzten Jahren deutlich gemacht haben, dass die von eBay eingesetzten Mechanismen auch gezielt missbraucht werden können.
Als Zwischenergebnis aber können wir festhalten: Das Beispiel eBay zeigt eindrücklich, wie nationales Recht als Konfliktvermeidungs- und -lösungsinstitution von anderen Mechanismen überlagert und jedenfalls teilweise auch verdrängt wird. Aber diese Überlagerung passiert nicht primär dort, wo wir sie vermutet hätten: bei grenzüberschreitenden Transaktionen, weil nationales Recht dafür nicht geeignet ist, sondern genau für jene Millionen alltäglicher Transaktionen zwischen Menschen einer Nation, für die nationales Recht gedacht ist. Das Recht wird sozusagen auf eigenem Boden von anderen Mechanismen überlagert und verdrängt, weil es für die Menschen als Konfliktlösungsmechanismus unattraktiv geworden ist.
Die (unsinnige) Antwort des Gesetzgebers Der Gesetzgeber vermeint mitunter, man müsse dieser Situation mit mehr Recht, mehr Regulierung begegnen. Man müsse den E-Commerce, man müsse Online-Marktplätze gesetzlich besser fassen. Das ist wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Unsinn. Die Nutzer von eBay haben sich ja nicht gegen das Recht entschieden, weil es kein Recht gibt, sondern weil ihrer Ansicht nach das Recht gegenüber anderen Mechanismen, wie Bewertungen und Mediation, keinerlei Vorteile bietet. Ebenso unsinnig ist die gegenteilige Ansicht: dass es ohne Recht auch keinerlei Konflikte mehr gäbe, dass sich also durch Reputation und Risikostreuung Streitigkeiten gänzlich vermeiden lassen würden.
Grundsätzlich korrekt sind hingegen Überlegungen, die darauf abzielen, das Recht für die Menschen wieder attraktiver zu machen. Dafür gibt es eine Reihe von bekannten Möglichkeiten. Der Gesetzgeber kann versuchen, die Kosten und den Zeitaufwand der Rechtsdurchsetzung gezielt zu vermindern. Er kann die Anreize für Betroffene in bestimmten ganz offensichtlichen Fällen des Vertragsbruches durch eine Art Siegerprämie nachhaltig erhöhen. Und er kann die Verwendung alternativer Konfliktlösungsmechanismen gezielt verteuern. All diesen Möglichkeiten ist gemein, dass sie Recht im Vergleich zu anderen Mechanismen attraktiver machen.
Hingegen unterscheiden sich diese drei Möglichkeiten dadurch, wem sie die Kosten dafür auferlegen. Vermindert der Gesetzgeber die Gerichtskosten, hat die Allgemeinheit die Differenz zu tragen. Siegerprämien bürden die Kosten der unterliegenden Partei auf,während eine Verteuerung alternativer Mechanismen primär die Teilnehmer von Online-Marktplätzen trifft. Ich erwähne dies, weil der Vorschlag, Recht attraktiver zu machen, gut klingt, aber von der Gesellschaft auch die Bereitschaft abverlangt, bewusst allen oder jedenfalls einigen Opfer aufzuerlegen.
Dagegen spricht auch die wirtschaftliche Effizienz.Wenn eine Institution wie das Recht ihrer ihr zugewiesenen Rolle nicht mehr gerecht wird und daher andere Mechanismen und Institutionen die Aufgaben des Rechts stückweise übernehmen, dann sollten wir nicht dagegen ankämpfen. Denn das bedeutet, Ressourcen dafür zu verschwenden, eine nicht mehr zeitgemäße Institution künstlich am Leben zu erhalten.
Die Notwendigkeit, Recht neu zu denken Wir sind versucht, Recht als etwas Statisches zu sehen, als fester Fels in der Brandung des stetigen Wandels. Aber Recht ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Es ist eine Institution, die wir für einen ganz bestimmten Zweck geschaffen haben.Wo und in dem Maße in dem Recht, so wie wir es kennen – territorial verankert und formal legitimiert –, als Institution seine Aufgabe nicht mehr erfüllt, weil die Menschen sich seiner nicht mehr bedienen, nimmt seine Bedeutung ab. Dabei aber entsteht kein Vakuum. An seine Stelle treten, wie ich erläutert habe, andere Institutionen und Mechanismen.
Und damit komme ich zum Kern meiner These:Wer Recht eng als nationalstaatliche Institution definiert, muss um den Fortbestand des Rechts bangen. Nur durch staatlichen Eingriff und höhere gesellschaftliche Ineffizienz werden wir dieses Recht bewahren können.Wer allerdings Recht weiter als Bezeichnung für friedensstiftende und konfliktlösende Mechanismen und Institutionen unserer Gesellschaft versteht, der wird die derzeitige Entwicklung als wichtigen institutionellen Generationswechsel erkennen, der vor allem auch für uns Juristen neue Chancen eröffnet. Lassen Sie mich dies an Hand eines Beispiels erklären. Sie alle wissen um die Bedeutung von Internet-Domainnamen. Jahrelang wurden Domainnamensstreitigkeiten in erster Linie vor Gericht ausgetragen. Das war nicht nur kostspielig und langwierig, sondern bevorzugte auch den unrechtmäßigen Inhaber eines Domainnamens. Er konnte ihn so lange weiterverwenden, bis die Rechtsfrage hinreichend geklärt war.
Diese Situation wurde jedenfalls für Domainnamen die in .com und .net enden, vor einiger Zeit geändert. Domainnamenstreitigkeiten werden nun zuerst einem zwingenden Schiedsverfahren unterworfen.Wer im Schiedsverfahren obsiegt, wird als Verfügungsberechtiger des Domainnamens eingetragen. Die unterlegene Partei kann, wenn sie den Schiedsspruch nicht anerkennen will, den Rechtsweg beschreiten.Weil das aber in vielen Ländern lange dauert, werden Schiedssprüche nur sehr selten angefochten. In aller Regel gilt der Schiedsspruch, was wiederum die Bedeutsamkeit des Schiedsverfahrens markant erhöht.
Aber wie läuft dieses Schiedsverfahren ab, wer entscheidet, und nach welchem Recht? Die Antwort mag überraschen. Das Verfahren läuft in der Praxis zur Gänze via E-Mail ab, und die Entscheidung ergeht innerhalb von 14 Tagen nach Einsetzung des Schiedsgerichts. Eine neue Gruppe von Intermediären hilft bei der Zusammensetzung des Schiedsgerichts. Schiedsrichter kann damit jeder werden, der die Voraussetzungen des Intermediärs erfüllt. Das ist ein wenig so, als stünden Gerichte miteinander in Wettbewerb, und die Streitparteien könnten wählen, welches Gericht sie anrufen möchten. Die Schiedsrichter wiederum wenden materielle Regeln und Verfahrensregeln an, die kein Gesetzgeber der Welt, sondern ein Unternehmen in Kalifornien festgelegt hat. In den letzten Jahren wurden auf diese Weise zehntausende Domainstreitigkeiten entschieden.
Das ist der institutionelle Generationswechsel, den ich meine: In Wettbewerb zueinander stehende Anbieter von Schiedsgerichten führen Verfahren auf der Basis eines nicht demokratisch legitimierten Regelwerkes durch, das in Entscheidungen von bedeutender wirtschaftlicher Tragweite für die Beteiligten mündet.
Dieses Schiedsverfahren wurde in der akademischen Literatur heftig kritisiert. Man verkaufe damit die Gerechtigkeit, wurde behauptet. Eine eingehende Analyse am Münchner Max-Planck- Institut für Urheberrecht aber zeigte, dass die schiedsgerichtlichen Entscheidungen so schlecht nicht waren, vielleicht auch deshalb,weil die Schiedsrichter in der Regel Anwältinnen und Anwälte sind, die sich in ihrer Praxis wiederholt mit Domainstreitigkeiten beschäftigt haben und so ein fundiertes Fachwissen vorweisen können. Auch die Verfahrensgerechtigkeit, so wurde festgestellt, ließe sich durchaus mit jener unseres nationalen Rechts vergleichen. Das mag die sachliche Begründung sein für die große Zustimmung, die das Schiedsverfahren bei der Mehrheit der Streitparteien findet.
Das ist die neue Generation von Recht, von effizienter, friedensstiftender Konfliktlösung für unsere Gesellschaft, die ich meine: Eine neue Institution, die durch Markt und Entscheidung legitimierte Regeln anwendet und so zu einem Ergebnis kommt, das von den Rechtsunterworfenen überwiegend anerkannt wird. Ihr fehlt nationales Recht und nationale Gerichte, aber weder die Gerechtigkeit noch die Fähigkeit, Konflikte beizulegen. Und sie hat Juristen in aller Welt ein neues Betätigungsfeld als Schiedsrichter eröffnet, in dem diese ganz offensichtlich vom Markt anerkannt eine weitgehend gute Figur machen. Die Schiedsgerichte sind die neuen Intermediäre, die an die Stelle der nationalen Gerichte getreten sind.
Ohne diese Intermediäre geht es nicht. Erlauben Sie mir ein letztes Beispiel: Derzeit machte Second Life, eine virtuelle dreidimensionale Welt, Furore. Sie wird bevölkert von Figuren, die Menschen über das Internet steuern. Fast alles unserer realen Welt ist auch in Second Life möglich. Die Menschen kommunizieren miteinander, sie plaudern, tanzen, singen, betreiben Sport, gehen ins Konzert oder einkaufen. Etwa 300.000 Benutzer in aller Welt sind im Schnitt mehr als 20 Stunden in der Woche online. Eine gute Million besuchen Second Life weniger häufig. Manche bieten virtuelle Häuser an oder virtuelle Kleidung, die gegen Geld – echtes Geld – erworben werden können. Die Teilnahme an Second Life ist kostenlos, aber wer sich ein Stück virtuelles Land für ein virtuelles Haus oder ein virtuelles Geschäft sichern möchte, der muss dieses Land vom Betreiber pachten. Die Wirtschaft in SecondLife floriert: Etwa 540 Millionen US Dollar werden so im Jahr umgesetzt, in Hunderten Millionen Einzeltransaktionen.
Hier haben wir Hunderttausende Menschen aus aller Welt, die sehr intensiv in dieser virtuellen Welt miteinander leben. Dementsprechend kommt es auch in Second Life zu Streitereien und Konflikten. Es menschelt.Nationale Gerichte sind zur Lösung dieser Konflikte ungeeignet. Es mag Sie überraschen, aber die Teilnehmer in Second Life haben bisher nicht damit begonnen, demokratische Strukturen zu schaffen. Dementsprechend gibt es in Second Life auch keine Rechtsordnung, keine Gerichte und keine staatliche Polizei.Vier Millionen Teilnehmer hatten dafür einfach noch keinen Bedarf. Trotzdem funktioniert Second Life. Vertreter eines engen Begriffs von Recht muss dies erschüttern. Aber die Teilnehmer in Second Life haben durch ihre spezifische Nachfrage zwei Institutionen entstehen lassen: ein Unternehmen, das Mediation und Schiedsverfahren anbietet, und einen Notar, der vorgelegte elektronische Dokumente beglaubigt – eine Institution der Konfliktlösung und eine der Konfliktvermeidung.Wer den Generationswechsel des Rechts versteht, den überrascht das nicht. Natürlich: Jede Veränderung bedeutet Abschied von Vertrautem. Auch ich bin im ersten Augenblick traurig, die Macht des mir vertrauten nationalstaatlichen, durch Parlamente legitimierten Rechts schwinden zu sehen. Aber in dem Maße, in dem sich unsere Gesellschaft verändert, müssen sich auch ihre Institutionen wandeln. Der Generationswechsel des Rechts in vollem Gange. Die Institutionen, die Verfahren und die Regeln der Konfliktvermeidung und der Konfliktlösung werden sich verändern, aber wie das Beispiel von Second Life so eindrücklich zeigt, das Bedürfnis nach dem Recht als Institution der gesellschaftlichen Friedensstiftung bleibt.
Vortrag gehalten am 14. März 2007 im Festsaal des Technischen Museums Wien auf Einladung der Rechtsanwaltskanzlei SCWP.
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