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Unser neues öffentliches Leben: Web 2.0


'Felix Stalder Felix Stalder

Der Oberbegriff „Web 2.0“ subsumiert eine Reihe von Technologien, mit denen Benutzer Multimedia-Inhalte auf einfache Weise im Web veröffentlichen und miteinander verlinken können.(1) Verschiedene Komponenten dieser sich neu entwickelnden Infrastruktur gibt es bereits so lange wie das Internet oder zumindest das World Wide Web. Als benutzerfreundliches Konglomerat verschiedener Technologien sind sie allerdings sowohl, was ihre rasante Verbreitung als auch die zunehmende Kommerzialisierung derartiger Technologien betrifft, erst in den letzten Jahren in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.(2) Fast alle bekannten Web-2.0-Plattformen (wie etwa Wikipedia, YouTube oder Flickr) entstanden ebenso wie die meisten Blogging-Systeme erst nach der Jahrtausendwende. Heute ist es für Benutzer so einfach wie nie zuvor, Inhalte (allein oder in Kooperation mit anderen) im Web zu veröffentlichen; häufig werden dabei bei bereits von anderen publizierten Inhalten Anleihen genommen. Millionen Menschen auf der ganzen Welt nutzen diese neuen Technologien. Die umfassenden Möglichkeiten zur Vernetzung, die solche Systeme durch dynamische Feeds, Trackbacks, Mashups und verschiedene Arten von Metadaten bieten, unterscheiden sie auch von privaten Tagebucheinträgen, Berichten oder Aufzeichnungen. Dennoch haben die im Web publizierten Inhalte häufig einen persönlicheren Einschlag und erwecken den Eindruck(3), dass sie die persönliche Meinung der Autoren und nicht den offiziellen Standpunkt bestimmter Institutionen oder von anderen Gremien gefilterte Ansichten spiegeln.(4) Als Folge dieser Entwicklung ist eine weitere Veränderung und Neuerung sich bereits seit Längerem abzeichnender Trends zu beobachten, die zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen der Sphäre des Privaten (jene Belange, die nur den Einzelnen und sein direktes persönliches Umfeld betreffen) und des Öffentlichen (jene Belange, die die Gesamtgesellschaft betreffen bzw. betreffen sollten) führen.(5) Im Lauf dieser Entwicklung wird das Leben jener Benutzer, die sich mit derartigen Technologien beschäftigen, gewissermaßen zunehmend öffentlich. Diese Art der Öffentlichkeit ist allerdings nicht die uns vertraute Form, die das Öffentliche mit staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein und staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein mit dem Demokratischen verbindet. Doch um welche Art von Öffentlichkeit handelt es sich dann?

Im Folgenden werde ich versuchen, dieser Frage auf drei Ebenen nachzuspüren. Ich beginne dabei mit der Ebene des Individuums, das an diesem komplexen, parallel verlaufenden Experiment der „Selbstveröffentlichung“ teilnimmt, und zwar in der doppelten Wortbedeutung:Veröffentlichung im Sinn von „Inhalte selbst veröffentlichen“ bzw. „sich selbst veröffentlichen“. In einem zweiten Schritt werde ich die verschiedenen Gruppen, die aus diesen Aktivitäten hervorgehen, näher analysieren, bevor ich schließlich einige der Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Gesellschaft anspreche. Meine Analyse unterliegt dabei drei Einschränkungen. Einerseits konzentriere ich mich in meinen Ausführungen ausschließlich auf die westliche Welt; nicht nur, weil Web-2.0-Technologien in diesem kulturellen Kontext entstanden sind, sondern auch weil diese Technologien in Hinsicht auf mögliche Anwendungsfelder und ihre weitere Entwicklung noch nicht voll ausgereift sind. Dies ist bei derartigen Infrastrukturen nicht selten der Fall.(6) Es erschiene mir daher unpassend, einen techno-deterministischen Standpunkt zu vertreten und anzunehmen, dass Technologien in verschiedenen kulturellen Kontexten die gleichen gesellschaftlichen Auswirkungen zeitigen.(7) Zweitens werden Web-2.0-Technologien und ihre Nutzung in der Gesellschaft auf diesen drei Ebenen von einer Reihe von Faktoren bestimmt, die in keinem Zusammenhang (weder online noch offline) mit diesen Technologien stehen. Im gesellschaftlichen Leben haben bestimmte Entwicklungen nie nur eine einzige Ursache. Drittens werde ich die weiterhin unzureichende Gleichstellung der Geschlechter in diesem Bereich nur am Rande streifen. Empirische Untersuchungen belegen etwa, dass sich die Lücke zwischen Männern und Frauen in Hinsicht auf die Nutzung von Internettechnologien (zumindest in den USA) zwar zu schließen beginnt, dieses Ungleichgewicht im Bereich der Web-2.0-Anwendungen aber nach wie vor relativ stark ausgeprägt ist (70 Prozent der Männer nutzen Web-2.0-Technologien).(8)

Auf der Ebene des Individuums geht der Boom der Web-2.0-Anwendungen über die allgemein zunehmende Individualisierung der Gesellschaft hinaus.Wie generell zu beobachten ist, wurde die „Entwicklung des Selbst“ zu einem grundlegenden Charakteristikum unserer heutigen Gesellschaft.(9) In den letzten fünfzig Jahren verlagerte sich der Prozess der Identitätsbildung von relativ stabilen, hierarchischen Institutionen (Familie, Arbeitsplatz, Kirche) hin zum Einzelnen und seinem selbst gewählten Umfeld. In den 1960er Jahren wandten Bürgerbewegungen, in deren Zentrum der Freiheitsgedanke stand, sich gegen das Modell einer stark bürokratisierten Gesellschaft; das Modell des an klare Hierarchien der Großunternehmen gebundenen, so genannten „organization man“(10) und seiner „eindimensionalen“ Persönlichkeit wurde abgelehnt. (11) Fast 40 Jahre später hat diese Entwicklung in Form der „Kreativwirtschaft“ den (kommerziellen) Mainstream erreicht und zur Entstehung des „kreativen Imperativs“ geführt, wie die Kulturkritikerin Marion von Oosten diesen Trend bezeichnete: eines systemimmanenten Zwangs, der auf den Einzelnen ausgeübt wird, sich möglichst kreativ und ausdrucksstark zu zeigen.(12)

Durch eine Kombination von Push- und Pull-Prozessen hat ein großer Teil der Bevölkerung ein erhebliches Maß an kulturellem Kapital (jene kulturellen Ressourcen, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen) erworben; die Menschen verspüren verstärkt das Bedürfnis, einzigartig zu sein, sie sehen sich mit neuen komplexen Möglichkeiten des Selbstausdrucks konfrontiert und begeben sich auf die Suche nach Anerkennung und Reputation. Die althergebrachte Arbeitsteilung im Kulturbereich, die darin bestand, dass einige wenige hoch individualisierte Kulturproduzenten für eine relativ undifferenzierte Masse von Konsumenten arbeiteten, wird von einer neuen Kultur, die ich mangels eines besseren Ausdrucks als Kultur des Prosumerismus bezeichne, ergänzt, die von Individuen gestaltet wird, die gleichzeitig Benutzer und Produzenten sind. Der neue kulturelle Archetyp ist der DJ, der bei einem Live-Auftritt Musiknummern auswählt und neu mixt, nicht der Schriftsteller, der allein vor einem leeren Blatt Papier sitzt – obwohl auch dieses Klischee vielleicht bereits überholt ist und wohl durch das Bild des Bloggers ersetzt werden sollte, der uns (in Echtzeit) einen persönlich gefärbten Einblick in einen ihm relevant erscheinenden Ausschnitt der Realität gewährt. Für die Benutzer bietet die neue Infrastruktur komplexe Möglichkeiten, ihre Beziehung zur Welt neu zu definieren, unabhängig davon, mit welchem Ausschnitt der Welt sie sich beschäftigen: den Eskapaden ihrer Katze, skandinavischem Necro Metal oder der Erderwärmung. Web 2.0 lässt die Zuseher zu Teilnehmern werden. Manchmal ist der Unterschied zwischen diesen Rollen derart marginal, dass er fast schon unerheblich erscheint, mitunter sind die Folgen dieses Wandels jedoch beachtlich und können etwa dazu beitragen, dass Regierungen gestürzt werden oder Unternehmen in für sie unangenehme Situationen geraten. Die spektakulärsten Fälle dokumentieren klar eine Entwicklung, die sich meiner Meinung nach auch in allen anderen Bereichen abzeichnet. Die Vernetzung des eigenen Lebens mit der Außenwelt ist kein passiver Akt des Beobachtens, sondern eine aktive Intervention, nicht zuletzt deshalb,weil bestimmte Ausschnitte der Realität als wichtig erachtet werden und ihnen erhöhte Aufmerksamkeit zuerkannt wird,während andere ignoriert werden. Gleichzeitig erfolgt durch derartige Interventionen auch eine Wertung der Leistung der Benutzer; es wird bewertet, ob sie in der Lage sind, diese vernetzten Verbindungen herzustellen und so Bedeutung in einem Meer von Störgeräuschen zu generieren. Da dies jedoch primär durch die selbstbestimmten Bemühungen von Freiwilligen erfolgt (auch wenn manche damit Geld verdienen), wird Bedeutung in erster Linie auf einer sehr persönlichen Ebene erzeugt. In diesem Prozess wird daher gleichzeitig eine individuelle Identität und eine neue Welt erschaffen.

Es scheint logisch, dass dies zu einer Form der psychologischen (Selbst)Erfahrung beiträgt, die sich stark vom vorherrschenden Modell unterscheidet, das davon ausgeht, dass die Welt in unserem Inneren, unser Selbst, sich von der Außenwelt distanziert hat. Das kartesianische „cogito ergo sum“, demzufolge wir uns letztlich nur unserer Fähigkeit zu denken sicher sein können, ist heute ein weitaus weniger überzeugender Ausgangspunkt für weitere Überlegungen als noch vor einigen Jahren. Wir bewegen uns vielmehr in einer Welt des „vernetzten Individualismus“, in der die Selbstidentität des Individuums (nicht nur in Bezug auf das Bild, das der Einzelne von sich selbst hat, sondern auch in Bezug auf das Bild, das andere von uns haben) nicht länger unabhängig von seiner Position in einem relationalen Netzwerk betrachtet werden kann.(13) Das ist ein subtiler, jedoch grundlegender Wandel, der zwar nicht von Web 2.0 verursacht, durch derartige Technologien jedoch vermutlich beschleunigt wurde. Das Konzept des „vernetzten Individualismus“ lässt bereits anklingen, dass Individualismus weder eine Atomisierung der Lebensformen noch irgendeine andere Form eines dystopischen Lebenskonzepts bedingt, in dem der Mensch sein Leben isoliert vor einem Computerbildschirm verbringt. Es gibt keinen „unveränderbaren Zustand“.(14) Vielmehr spiegelt dieser Ausdruck Formen von Identität wider, die zwischen dem vollkommen autonomen Individuum, das tief in seiner Privatsphäre verwurzelt ist, und dem gesichtslosen Mitglied eines Kollektivs, dessen Persönlichkeit der Gruppenidentität untergeordnet werden kann, oszillieren.

Auf der Ebene von Web 2.0 zeigt sich dieses neue Gleichgewicht zwischen Individualität und Gesellschaftsdenken als neu entstehendes, klar definiertes Kooperationsmuster. Menschen sind weder ausschließlich rücksichtslose Egoisten, die eine Maximierung der eigenen Ressourcen anstreben (homo economicus), noch selbstlose Mitwirkende an einem kollektiven Projekt (Geschenkökonomie). Es existiert vielmehr eine Zwischenebene. Wie Aguiton und Cardon, Forscher der France Telecom R&D, betonen, ist Web 2.0 durch „schwache Kooperationsformen“ gekennzeichnet.(15) Kooperation bedeutet üblicherweise, dass Menschen zunächst ein gemeinsames Ziel definieren und sich dann auf die Erreichung dieses Ziels konzentrieren. Die Zielfestsetzung erweist sich häufig als schwierig und erfordert ein erhebliches Maß an Verhandlungen zwischen allen involvierten Parteien, bevor die eigentliche Arbeit aufgenommen werden kann. Kann dieser Prozess nicht abgekürzt werden (etwa durch marktorientierte oder hierarchisch getroffene Entscheidungen), verläuft dieser Prozess nicht immer optimal. In Web 2.0 kooperieren allerdings bisweilen sehr große Gruppen auf sehr produktive Weise (nach ihren eigenen Kriterien). Der Grund dafür dürfte sein, dass die Zusammenarbeit erst nach einem konkreten Anlass aufgenommen wird und nicht von langer Hand geplant wurde. Da Web 2.0, wie bereits erwähnt, auf dem selbstbestimmten Engagement von Freiwilligen basiert, arbeiten die Benutzer primär für sich selbst. Sie publizieren ihre Werke und nehmen dabei Bezug auf die Inhalte anderer. Sobald ihre Gedanken veröffentlicht und so für andere sichtbar wurden, besteht die Chance – sei sie auch noch so klein –, dass sie auf andere Benutzer stoßen, deren Beiträge oder Gedanken die eigenen Überlegungen auf sinnvolle Weise ergänzen. Kooperation beginnt daher auf einer sehr niedrigschwelligen Ad-hoc-Basis. Wikipedia ist dafür ein gutes Beispiel. Die große Mehrheit der an Wikipedia Mitwirkenden ist nur an einer kleinen Zahl von Beiträgen beteiligt. Die Benutzer veröffentlichen vielleicht einmal einen Eintrag zu einem Thema, das ihnen am Herzen liegt. Dabei erkennen manche, dass andere sich für das gleiche Thema interessieren und sie treten vielleicht aufgrund dieses gemeinsamen, gegenseitig dokumentierten Interesses in Interaktion (wofür sie sich interessieren, ist nebensächlich). Diese Art der Kooperation erfordert minimale Koordination und keine Planung oder vorherige Vereinbarungen. Es handelt sich um eine Form der schwachen Kooperation, die auf schwachen sozialen Bindungen basiert.(16) Vor diesem Hintergrund wird vielleicht das Interesse einiger weniger am Gesamtprojekt erweckt und sie beginnen, sich stärker auf die Administration des Systems und weniger auf ihren eigenen Beitrag zu konzentrieren. Dadurch signalisieren sie den anderen Administratoren, dass sie übermäßig engagiert sind, und werden so vielleicht zu Mitgliedern des Kernteams, in dem schwache Kooperationsmuster langsam von konventionelleren, d. h. stärker geplanten Formen der Kooperation abgelöst werden. Schwache und starke Formen der Kooperation ergänzen sich also in Web 2.0; wesentlich ist jedoch, dass man kein Mitglied werden und sich nicht mit dem Gesamtprojekt identifizieren muss, um am Kooperationsprozess teilnehmen zu können. Indem man jedoch etwas von sich preisgibt und (in seiner Freizeit und ohne Bezahlung) anderen Einblick darin gewährt, was einem wichtig ist, erweisen Benutzer sich als vertrauenswürdige Kooperationspartner. (17) Nicht alle haben jedoch an derartigen Kooperationsformen Interesse und das Ausmaß der Kooperation hängt stark vom Umfeld ab, in dem man aktiv wird. Im Fall von politischen Blogs ist das Ausmaß der Kooperation, d.h. die Weitergabe und Vernetzung von Informationen, sehr hoch. Doch auch in relativ individualistisch organisierten Plattformen wie etwa der Fotoplattform Flickr tritt einer von fünf Benutzern einer Gruppe von Gleichgesinnten bei und nutzt die vom System gebotenen Kooperationsmöglichkeiten.(18)

Dies lässt vermuten, das Menschen grundsätzlich an Kooperation und der Weitergabe von Informationen – dies umfasst auch immer Information über sich selbst – interessiert sind, wenn auch nur in einem bestimmten Umfang und auf eher pragmatische Weise. In den meisten Fällen gehen Menschen flüchtige und kurzlebige Verbindungen ein,was natürlich nicht bedeutet, dass sie manchmal nicht auch längere und intensivere Beziehungen pflegen; aus pragmatischen Gründen sind längere Beziehungen jedoch eher selten. Es ist vielleicht besonders diese Form der schwachen Kooperation, die Menschen veranlasst, etwas von sich selbst preiszugeben, in der Annahme, dass die „Öffentlichkeit“ auf jene Gruppen, mit denen sie kooperieren, bzw. auf den eingeschränkten Kontext, in dem sie diese Informationen zur Verfügung stellen, beschränkt ist. Dies zeigt, dass Individuen die Konstruktion ihrer Identität ebenso wie die Konstruktion der Welt als etwas betrachten, das sie nicht im Alleingang bewältigen können, dass jedoch die komplexen, vielschichtigen Lösungen, die traditionell zur Lösung dieses Problems zur Verfügung standen, nicht länger attraktiv sind.(19) Vielmehr wird das Problem durch verschiedene kleiner angelegte, pragmatisch ausgerichtete Interventionen gelöst: Man versucht, möglichst flexibel auf Ad-hoc- Situationen und neue Herausforderungen zu reagieren.

Wenn unsere Selbstidentität und unsere Wahrnehmung der Außenwelt von pragmatischer Ungewissheit und Fragmentarisierung bzw. Neuzusammensetzung gekennzeichnet sind, dann ist es naheliegend anzunehmen, dass auf der Ebene der Gesellschaft eine der Folgen dieser Entwicklung eine Fragmentarisierung der öffentlichen Sphäre in verschiedene Subsphären ist. Diese werden durch die vorherrschende interne Kultur sowie eine Reihe von Regeln, die auf pragmatische Weise von jenen erlassen werden, aus denen sich diese Öffentlichkeit zusammensetzt, zunehmend differenziert gestaltet. Da Menschen gleichzeitig mehr als einer dieser Subsphären angehören und sich auch zwischen diesen bewegen, führt dies zwar nicht zu einem Zusammenbruch der sozialen Kommunikation, es wird allerdings die bereits existente Krise jener Institutionen verstärkt, die für ihr Funktionieren ein traditionelles öffentliches Umfeld benötigen. Verglichen mit der Unmittelbarkeit und Authentizität, die diese neuen Kooperationsformen bieten können, weil die Kooperationspartner in diesen flüchtigen, klar definierten Beziehungen keine langwierigen Kompromisse eingehen müssen, erscheint der Diskurs der öffentlichen Sphäre, besonders im politischen Bereich, zunehmend künstlich und unehrlich – nicht zuletzt, weil Politiker Kompromisse eingehen müssen, um sich Mehrheiten zu sichern und Gesamtlösungen bieten zu können, die dem hohen Maß an Singularität der vielförmigen, bunten Lebensstile der Menschen nie gerecht werden können.(20) Politik und die damit verbundene öffentliche Sphäre scheinen von Zynikern dominiert zu werden.

Die meisten Menschen scheinen anzunehmen, dass die Inhalte, die sie mit anderen teilen, großteils von jener Gemeinschaft rezipiert werden, für die sie erstellt wurden. Man könnte dies als beschränkte Privatsphäre bezeichnen. Aus der Sicht der Benutzer ist diese Annahme oft richtig. Auf der Ebene der Systembetreiber entsteht jedoch ein neues Metawissen über die engen Verbindungen zwischen verschiedenen Benutzern, die oft nicht einmal diesen selbst bewusst sind. Gesellschaftliche Verbindungen werden plötzlich in einem Ausmaß sichtbar, das vor Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Allerdings nicht für alle. In diesem Kontext ist die Annahme einer beschränkten Privatsphäre ebenso falsch wie die Annahme einer gegenseitigen Transparenz, was bedeuten würde, dass man einen ebenso großen Einblick in die Aktivitäten der anderen erhält, wie diese Einblick in die eigenen Aktivitäten haben. Die Betreiber der Infrastruktur wissen über jede Transaktion im System Bescheid und können die Zusammensetzung der Gesamtgesellschaft (oder zumindest eines Ausschnitts derselben) exakt (und in Echtzeit) nachverfolgen. Diese Sichtbarkeit ist jedoch einseitig. Gewöhnliche Benutzer haben keine Möglichkeit, Zugang zu jenem Wissen, das die Provider über sie und ihre Aktivitäten haben, zu erlangen oder dieses gar zu überprüfen. In dieser neuen Welt der Sichtbarkeit und Horizontalität entstehen daher neue Zonen der Unsichtbarkeit und neue Hierarchien. Es ist schwierig vorherzusagen, wie und in welcher Form diese genutzt werden oder ob wir uns dieser Entwicklung gegebenenfalls überhaupt bewusst werden. Dies birgt ein hohes Potenzial an „sozialer Klassifikation“, wie der Soziologie David Lyon jenen Vorgang bezeichnete, der dazu führt, dass unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten (und automatischer Diskriminierung) konfrontiert sind.(21) Mit dieser Entwicklung geht natürlich auch ein hohes Maß an Überwachung durch den Staat einher - denn es scheint unwahrscheinlich, dass dieser nicht versuchen wird, potenziell wertvolle Informationen zu nutzen. Es scheint allgemein eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen der Auflösung der Privatsphäre der Bürger und der zunehmenden Verschwiegenheit und Geheimniskrämerei der Verwaltungseinrichtungen (private oder öffentliche) zu bestehen. Saskia Sassen beschreibt dies als „die Privatisierung der eigenen Macht durch die Machthaber“(22). Inwieweit dies die Antwort der Mächtigen auf die neue Macht der Bürger ist, die diese durch moderne Kooperationstechnologien erlangen, bleibt zu klären.(23)

Natürlich basiert keine dieser Entwicklungen ausschließlich auf Web-2.0-Technologien; ich bin jedoch der Meinung, dass derartige Technologien diese Entwicklungen auf ihre eigene charakteristische Art und Weise beschleunigen und beeinflussen, wie ich in diesem Beitrag aufzuzeigen versucht habe. Diese neuen Technologien haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Gestaltung der Öffentlichkeit. Es eröffnen sich beispielsweise neue Möglichkeiten, bislang Fremde kennen zu lernen und mit ihnen in einen sinnvollen Austausch einzutreten und neue Kooperationen einzugehen.Vielleicht befinden wir uns an der Schwelle zu einem Goldenen Zeitalter der freiwilligen Kooperationsbeziehungen, einer Art von bourgeoisem Anarchismus.(24) Gleichzeitig jedoch können diese neuen Manifestationen von Öffentlichkeit, die als Gegengewicht zur politischen Macht fungieren, das Verschwinden der traditionellen Sphäre der Öffentlichkeit (noch?) nicht kompensieren – trotz verschiedener neuerer Entwicklungen, die durchaus Anlass zur Hoffnung geben(25). Es könnte daher sein, dass wir einer Hochblüte der freien Kooperation innerhalb eines autoritären politischen Rahmens entgegensehen.(26)

Aus dem Englischen von Sonja Pöllabauer

(1) O’Reilly, Tim: What is Web 2.0?, http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html, 2005 [30.9.2005].zurück

(2) Web 2.0:„Meet Venture Capital“, in Technology Review, http://www.technologyreview.com/Infotech/14879/ [19.10.2005].zurück

(3) In verschiedenen Fällen hat sich gezeigt, wie einfach es ist, im Zusammenhang mitWeb 2.0-Technologien Firmenaussendungen oder strategische Mitteilungen als persönliche, authentische Berichte auszugeben.zurück

(4) Unter „gefiltert“ verstehe ich Inhalte, die bestimmte institutionelle Filter durchlaufen haben (etwa eine Begutachtung durch Herausgeber oder Fachkollegen).zurück

(5) Für eine frühe Analyse dieser historischen Wandels vgl. Sennett, Richard: The Fall of Public Man: On the Social Psychology of Capitalism, Vintage Books, New York 1974.zurück

(6) Vgl. etwa Hughes, Thomas P.: Networks of Power: Electrification in Western Society 1880–1930, John Hopkins University Press, Baltimore und London 1983.zurück

(7) Smith, Merrit Roe und Marx, Leo: Does Technology Drive History? The Dilemma of Technological Determinism, MIT Presse, Cambridge,MA, und London 1994.zurück

(8) Pew Internet und American Life Project: A Typology of Information and Communication Technology Users, http://www.pewinternet.org/pdfs/PIP_ICT_Typology.pdf [6.5.2007].zurück

(9) Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age, Stanford University Press, Stanford, CA 1991.zurück

(10) Whyte,William H.: The Organization Man, University of Pennsylvania Press, University of Pennsylvania 2002 [1956].zurück

(11) Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, dtv, München 1994.zurück

(12) Be Creative! Der Kreative Imperativ, Ausstellung im Museum für Gestaltung, Zürich (30.11.2002–2.3.2003), http://www.k3000.ch/becreative/.zurück

(13) Castells, Manuel: Die Internet-Galaxie. Internet,Wirtschaft und Gesellschaft, VS-Verlag,Wiesbaden 2005.zurück

(14) Baudrillard, Jean: The Ecstasy of Communication, Semiotext(e), Brooklyn, NY 1988zurück

(15) Aguiton, Christophe und Cardon, Dominique: „The Strength of Weak Cooperation: An Attempt to Understand the Meaning of Web 2.0.“, in Communications & Strategies 65, 2007.zurück

(16) Das Konzept der „schwachen sozialen Bindungen“ wurde von Mark Granovetter geprägt, der entdeckt hatte, dass Menschen wichtige Informationen (etwa bei der Arbeitsuche) eher von zufälligen Bekannten (mit denen sie über schwache gesellschaftliche Bindungen verbunden waren) und nicht von engen Freunden (mit denen sie über starke gesellschaftliche Bindungen verbunden waren) erhalten. Granovetter, Mark: „The Strength of Weak Ties“, in American Journal of Sociology (May) 78/6, 1360-1380, 1973.zurück

(17) Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in diesem Bereich kann vielleicht dadurch erklärt werden, dass die Preisgabe von Informationen über sich selbst für Frauen weiterhin mit einem größeren Risiko verbunden ist.zurück

(18) Vgl. Aguiton, Christophe und Cardon, Dominique 2007.zurück

(19) Castells, Manuel: Die Macht der Identität. Das Informationszeitalter:Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Bd. 2, Leske + Budrich, Leverkusen 2001.zurück

(20) Beck, Ulrich und Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994.zurück

(21) Lyon, David (Hg.): Surveillance as Social Sorting: Privacy, Risk and Automated Discrimination, Routledge, London und New York 2002, s. S. 57 in diesem Katalogzurück

(22) Sassen, Saskia: Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton University Press,
Princeton und Oxford, 179–184, 2006.zurück

(23) Kluitenberg, Eric: The Society of the Unspectacular, Präsentation bei INFOWARROOM, De Balie Centre for Culture and Politics in Amsterdam, 8./9. Juni, http://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-1-0706/msg00010.html, 2007.zurück

(24) Brooks, David: Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite, Ullstein, München 2001.zurück

(25) Benkler, Yochai: The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom, Yale University Press, New Haven, Conn., 212–272, 2006.zurück

(26) Dieser Text wurde unter den Bedingungen von Attribution-NonCommercial-ShareAlike 3.0 veröffentlicht, http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/.zurück