Overview
Ein Luftbild von Linz als kollektives Kunstereignis
Aus den Anfängen der Raumfahrt ist ein psychologisches Phänomen übermittelt, der sogenannte Overview-Effekt; er steht für Erlebnisse einer radikalen Änderung der Perspektive auf zwar theoretisch Bekanntes, das aber in direkter Wahrnehmung noch nicht reflektiert wurde. Der Begriff hat seinen Ursprung in der schockierenden Erfahrung der Erde als einziger, verletzlicher Bezugspunkt für Leben, der für einige Astronauten mit dem Anblick ihres Heimatplaneten im Weltraum zusammenfiel und mehr oder weniger gravierende Auswirkungen auf ihr esoterischreligiöses oder auch politisches Engagement hatte.
Ein solcher Overview-Effekt steht im Hinblick auf das Wissen darum, Objekt einer globalen und/oder mit sicherheitspolitischen Überlegungen argumentierten staatlichen Beobachtungsmaschinerie zu sein oder sein zu können, noch aus. Der „Schock“ bleibt vornehmlich entweder kriminellen und (egal ob zu Recht oder Unrecht) verdächtigten Subjekten vorbehalten, oder Leuten, die sich in den Alben einer googelnden Neugier wiederfinden. Niemand, es sein denn, er wäre denn ein ausgewachsener Paranoiker, hat für die Fühler der Surveillance ein Gespür entwickelt, das auch nur dem für Blicke gleichen würde, die einem vermeintlich treffen. Beispielsweise provozieren Schritte, die einem nachts auf dem Heimweg im gleich bleibenden Abstand durch die Gassen folgen, nach geraumer Zeit gewöhnlich eine körperliche Reaktion: Entweder man beschleunigt seinen Schritt, denn es bestünde ja die Möglichkeit, Opfer einer kriminellen Attacke zu werden, oder man unterdrückt diesen Impuls eingedenk der Wahrscheinlichkeit, dass jemand den gleichen Weg hat. Das Wissen um den virtuellen Verfolger, der sich in dem Umstand einer auf zehn Meter genauen Positionsbestimmung realisiert, die der Gebrauch des Mobiltelefons auf diesem Weg erlaubt, bleibt jedoch mehrheitlich ohne Resonanz.Wären die Prinzipien des Verdachtes und der globalen Paparazzi, die sukzessive eine technologische und politische Praxis entwickeln, spürbar, hätten Millionen von Menschen unter Beschwerden zu leiden. Aus diesem von kollektiver Erfahrung noch resonanzfreien Raum bezieht zuletzt die vulgärargumentative Individualisierung des Öffentlichen ihre Wirksamkeit, derzufolge sich niemand, der eine weiße Weste hat, vor Nachstellungen fürchten müsse, und Befürchtung als Indiz für Böses gewertet wird, das einer im Schilde führt.
War das Öffentliche in der politischen Philosophie und in der Praxis des Kulturellen vormals bestimmt durch eine relationale und nicht-egozentrische Sicht der Dinge – als der Kommunikations- und Handlungsraum, der zwischen den Menschen (Arendt) durch Relation erzeugt wird, in die sie sich in Verhandlung der Dinge zueinander setzen –, so wird das Öffentliche in dem Maße unterminiert, in dem das „Mittel“ seiner Erzeugung, die Kommunikation, als suspekt gehandelt wird. Vilém Flussers Bemerkung aus dem Jahre 1991 , die das Internet als die Technik einer Anthropologie anspricht, wonach wir „Knoten von Beziehungen sind, die erst im Verhältnis zu anderen wirklich werden“, erscheint angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung in der Tat von Gestern zu sein. Der vulgären Individualisierung mit ihrem Verlust an Welterfahrung und Weltbearbeitung folgt eine Trivialisierung des Öffentlichen. Denn ohne Erfahrung der relationalen Verhandlung mutiert das Wissen um die Verhältnisse rasch zur Kenntnisnahme der Art, dass die Erde sich um die Sonne dreht, und bestätigt dieses Weltbild mit demselben Gleichmut wie sein Gegenteil, demzufolge die Sonne ein Trabant der Erde zu sein hatte.
Das Öffentliche und der öffentliche Raum unterliegen scheinbar einem Substitutionsprozess zugunsten eines öffentlichen Interesse, in dessen Namen durch ein übergeordnetes, meist wirtschaftliches Interesse argumentierte Enteignungen vollzogen oder mit Sicherheitsinteressen argumentierte Fortschritte der staatlichen Zugriffsanmaßung durchgesetzt werden. Aber einen öffentlichen Raum ohne das Öffentliche gibt es nicht.
Trivialisierung durch Individualisierung kondensiert nicht nur in den diversen digitalen Foren der Selbstinszenierung (MySpace, YouTube etc.) exemplarisch aus, sondern auch und vor allem durch die begriffliche Reduktion und damit der Wahrnehmung des öffentlichen Raumes von einer „Verhandlungssache“ auf ein Nutzungsrecht zum Konsum eines ausgesuchten Sortiments von Angeboten, in dem die freie Zugänglichkeit (bis auf Widerruf) nur eines darstellt.Was unter „aufklärerischen“ Gesichtpunkten noch bedenklich erscheint, egalisiert sich zuletzt im Vergleich mit der hedonistischen gehandhabten Methode:Warum – wenn im System des globalen Sightseeing à la Google Earth ohnehin jeder/r jede/n beobachtet und alle zusammen die größte Reality-Show der Welt bilden – warum also sollte das Eine unter dem Vielen den Spaß an der Sache trüben?
Im Spannungsfeld eines Diskurses von Öffentlichkeit, (unfreiwilliger) digitaler Transparenz und (freiwilliger) Veräußerung von Privatheit „veröffentlicht“ sich auch das Festival durch eine Umwidmung städtischer Räume und Infrastruktur zu künstlerischen und diskursiven Handlungsflächen. Das Projekt Second City erinnert an das Öffentliche, das nie nur eine Funktion, sondern immer auch ein Synonym für Stadt und den Raum war, den es erzeugt, und zielt auf einen Overview-Effekt im Hinblick auf die Verletzlichkeit und das Potenzial ab, das der öffentliche Raum im Interesse des Öffentlichen ausbildet.
Schauplatz dieser Umwidmung von Stadtraum in Kunstraum bzw. von realen Raum in virtuellen Raum ist die Marienstraße mit ihren vielen leer stehenden, darin der Kulissenhaftigkeit virtueller Städte, wie in Second Life, ähnelnden Geschäftslokalen im Linzer Zentrum. Ars Electronica wird diese Räumlichkeiten nutzen und die Marienstraße zur „Second City“, zum Portal zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit umfunktionieren. Dort wo die reale Stadtkulisse nicht mehr funktioniert, dringt der virtuelle Raum ein und macht sich breit. Die Inszenierung der Marienstraße mit den Stilmitteln von Second Life macht die tatsächliche, aber unsichtbare Omnipräsenz von digitalen Räumen, die uns als eine Art zweite, mit unseren Sinnesorganen nicht wahrnehmbare Natur umgeben, sichtbar.
Dem Projekt liegt die kuratorische Maxime zugrunde, benutzte und vakante Stadt- bzw. Geschäftsräume, Plätze und Straßen nicht nur als Schauplatz, sondern als eine Ressource der künstlerischen Intervention und Adaption herauszustellen. Der so verwandelte Straßenzug wird zum Schauplatz für einen großen Teil des Festivalprogramms, das in kleine Elemente und Programmteile zerlegt (Ausstellungen, Installationen, Performances, Talks, Workshops etc.) in die Stadt hineinwächst. Diese kalkulierte Invasion des öffentlichen Raumes verdichtet sich am Samstag, beginnend mit der performativen Installation Siren von Ray Lee, die vom hoch gelegenen Freideck des Cityparkhauses aus den Sonnenaufgang begleitet.
Ein Gruppenbild von oben Highlight dieses Tages ist die gewissermaßen inverse Inszenierung eines an sich längst gängigen Beobachtungs- oder Kontrollszenariums, in dem jedoch das Beobachtet-Werden durch die aktive Rolle der Beobachteten ad absurdum geführt wird: Jede/r ist aufgerufen, im zeitlichen Raster eines hochauflösenden Luftbild-Scans der Stadt Zeichen der Wahrnehmung dieses Vorgangs in den Stadtraum zu setzen und damit eine eigene Botschaft gen Himmel zu senden.
Von einem in 1140 Metern Höhe über Linz kreisenden Flugzeug aus wird das gesamte Stadtgebiet lückenlos abgelichtet. Insgesamt 4424 Fotos entstehen im Verlauf dieses rund viereinhalbstündigen Überflugs. Ihre Auflösung lässt so gut wie nichts im Dunkel: Jedes einzelne Bildpixel bildet „acht Quadratzentimeter Linz“ ab.
Acht Quadratzentimeter sind daher das Mindestmaß und DinA4-große Blätter Papier schon ein probates Mittel, um sich bemerkbar zu machen. Unter diesen Voraussetzungen werden gezielt KünstlerInnen eingeladen, diverse Formen von Signaturen einer kreativen Präsenz für den Zeitraum des Überflugs zu entwerfen; ebenso werden KünstlerInnen gemeinsam mit Gruppen aus der Bevölkerung an solchen Zeichensetzungen arbeiten; vor allem aber gilt der Aufruf an die gesamte Bevölkerung, sich Bekundungen ihres Wissens um diesen Akt der Beobachtung einfallen zu lassen – sei’s von der spontanen Art, einfach die Arme auszubreiten, oder „konspirativ“, wenn etwa eine Menschenkette gebildet wird; sei’s dass einer in den Rasen seines Gartens ein deutliches Muster mäht oder dass Familien sich unter dem Segel eines Betttuches dem Blick von oben entziehen.
Mit der Aufforderung, einen deklarierten Bebachtungsvorgang als Bühne für die Inszenierung der Wahrnehmung und Interpretation dieses Vorganges zu nutzen, aus der Rolle des passiven Objekts herauszutreten und als handelndes Subjekt eine Gegebenheit zur Gelegenheit für kreativen Missbrauch umzudeuten, den Blick nicht zu senken, sondern „zurückzuschauen“, damit verbindet sich einerseits natürlich die Absicht, die „Fühler der Surveillance“ ins Bewusstsein zu rufen. Ein anderer intentionaler Aspekt betrifft die Idee von einem Portrait der Stadt als Gruppenbild ihrer BürgerInnen im Hinblick auf das Jahr 2009, in dem Linz europäische Kulturhauptstadt ist: eine Rolle und Auszeichnung, der eine topografische Zeichnung der Stadt erst dann entspricht, wenn sie auch als interpersonaler Handlungs- und Mentalitätszusammenhang erkennbar wird. Kunst – zumal im jenem strategischen Kontext, den der von „Kunst im öffentlichen Raum“ zur „Kunst des Öffentlichen“ korrigierte Begriff vielleicht am besten andeutet – hat sich als eine diesbezüglich sehr versierte Verhandlungspartnerin profiliert. Indem der gesamte Stadtraum als Kunstraum ausgewiesen wird, erhält die inflationär gebrauchte Wendung von einer ganzen Stadt, die zur Bühne wird, eine neue Bedeutung. Die Bühne wird nicht nur von Akteuren bespielt, sondern ist Teil der Handlung, in der sich die Akteure selbst als ein Kunstwerk zur Aufführung bringen.
Dieses „Stück“ Linz schaut zurück ;-) wird im WWW umfassend dokumentiert und in Auszügen einerseits in Form einer Ausstellung in den Kunstraum der Galerien, ein der Kunst eigenes Bezugssystem zurückgeführt, andererseits auch in den Auslagen im Stadtraum – dem ursächlichen Bezugssystem – präsentiert.
Cheese!
Text: Heimo Ranzenbacher
Idee: Martin Honzik, Gerfried Stocker Ein Projekt von Ars Electronica in Kooperation mit ORF Oberösterreich.
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