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Ars Electronica 2008
Festival-Programm 2008
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Festival 1979-2007
 

 

Musik,Software und nachhaltige Kultur




„Eine Nation, die ihren Boden zerstört, zerstört sich selbst.“
Präsident Franklin D. Roosevelt in einem Brief an die Gouverneure, 26. Februar 1937

Wollen wir über die Grenzen geistigen Eigentums im Zeitalter einer neuen Kulturökonomie sprechen (oder, umgekehrt, darüber, welche neue Kulturökonomie in den heutigen Grenzen geistigen Eigentums möglich ist), müssen wir zuerst einmal diese beiden Begriffe definieren. Erst dann sind wir in der Lage, ihre Wechselbeziehungen und Interaktionen zu beschreiben und in der Folgenäher zu erörtern. Die Kulturdefinition der (englischen) Wikipedia liefert dafür einen guten Ausgangspunkt:

Unter Kultur (von lat. cultura, das sich seinerseits von colere, „bebauen“, herleitet)werden im Allgemeinen menschliche Handlungsmuster sowie die symbolischen Strukturen verstanden, die diesen Sinn und Bedeutung verleihen. Kulturen lassen sich als „Symbol- und Bedeutungssysteme“ auffassen, „die sogar von denen, die siegeschaffen haben, infrage gestellt werden, keine festen Grenzen besitzen, ständig in Fluss sind und miteinander interagieren und konkurrieren“. Unterschiedliche Definitionen von Kultur sind ein Ausdruck unterschiedlicher theoretischer Grundlagen für das Verständnis bzw. unterschiedlicher Kriterien für die Bewertung menschlichen Handelns.


Kultur manifestiert sich in Musik, Literatur, Lifestyle, Essen, Malerei und Bildhauerei, Theater, Film und dergleichen. Zwar wird Kultur mitunter konsumistisch als eine Art Ware (wie etwa Hochkultur, Massenkultur, Volkskultur, Populärkultur usw.) gesehen, für Anthropologen aber bezeichnet„Kultur“ nicht nur ein Konsumgut, sondern eher die allgemeinen Prozesse, die solche Güter hervorbringen und ihnen Sinn verleihen, sowie die sozialen Verhältnisse und Praktiken, in die derartige Objekte und Abläufe eingebettet werden. Für die Anthropologie umfasst Kultur also sowohl Kunst und Wissenschaft als auch Moralsysteme.(1) Wir sehen, dass der Begriff Kultur schon etymologisch mit der Idee von Grund und Boden zusammenhängt. Grund und Boden wiederum unterliegen den Gesetzen des Grund- und Immobilieneigentums, also einer Unterkategorie des Eigentums. Es ist zwar immer noch heftig umstritten, ob geistiges Eigentum überhaupt ein angemessener Begriff ist und nicht eher Verwirrung stiftet,(2) doch zeigt sich hier deutlich, dass Kulturökonomie und Theorien des Eigentums (egal ob geistiger oder anderer Art) in einer Jahrtausende währenden Symbol- und Rechtsgeschichte inzestuös miteinander verbunden sind. So wie Bauern sich bei der Bestellung landwirtschaftlicher Flächen auf den globalen Klimawandel einstellen müssen, so müssen auch wir, die wir Ideen kultivieren, den möglichen Folgen eines rechtlichen Klimawandels vorbeugen und unsere Methodenkreativer Kultivierung darauf abstimmen, wenn wir überleben wollen. Die wichtigste Voraussetzung für das Verständnis von Kultur – und damit auch ihrer Ökonomie – ist das Wissen um die „allgemeinen Prozesse, die solche Güter hervorbringen und ihnen Sinnverleihen, sowie die sozialen Verhältnisse und Praktiken, in die derartige Objekte und Abläufe eingebettet werden“. Darum sollte auch eine Kulturökonomie nicht unter dem Aspekt der Konsum- und Profitmaximierung gesehen werden, sondern unter dem der Nachhaltigkeit. Denn ohne Nachhaltigkeit sind kulturelle Errungenschaften auf lange Sicht dem Untergang geweiht. Wir wollen uns nun diese Frage der Nachhaltigkeit anhand zweier kultureller Subsparten, derMusik und der Software, etwas konkreter ansehen, wobei wir es schon recht bald mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten zu tun bekommen werden, die dieser Kontext und dieser Bereiche, für die wir uns entschieden haben, mit sich bringen. Alle Versuche zu definieren, was Musik ist, implizieren zwangsläufig auch eine Definition dessen, was Musik nicht ist. Herbie Hancock hat dieses Dilemma geschickt umgangen, indem er Musik einfach als possibilities(3) definiert hat. Denselben Gedanken äußerte übrigens 1850 schon Wagner gegenüber Liszt (wie Alex Ross in The Rest is Noise (4) mitteilt):

Ich habe unserer modernen Kunst an den puls gefühlt und weiß, dass sie sterben wird! Dies erfüllt mich aber nicht mit Trübsinn, sondern mit Freude … Der monumentale Character unserer Kunst wird verschwinden, das kleben und hangen an der Vergangenheit, die egoistische sorge für die Dauer und möglichste Unsterblichkeit werden wir von uns werfen: wir werden vergangen – vergangen, zukünftig – zukünftig sein lassen und nur in dem heute, in der vollen Gegenwart leben und dafür schaffen.


Im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit ist der Tod lediglich als das Ende des Lebens zu verstehen(Staub zu Staub), wogegen Aussterben das Ende der Geburt bedeutet. Wagner macht in seinem Brief an Liszt klar, dass man den Tod nicht zu fürchten braucht, solange geboren wird. Jedes System hingegen, das die Möglichkeit der Geburt gegen die Verlängerung des Lebens eintauscht, begeht einen schwerwiegenden Fehler, denn das ist irreversibel. Es ist eines der Hauptmotive von Ross’ Buch, wie sehr sich Künstler des 20. Jahrhunderts gegen die Konvention stemmten, an die Grenzen ästhetischer Wahrnehmung gingen, um die Möglichkeit der Geburt zu wahren. Das führte zu einer vollkommen unvorhersehbaren Nachkommenschaft: Aus den harmonischen und melodischen Wurzeln der traditionellen klassischen Musik entsprang die chromatische Syntax eines Liszt, Wagner, Mahler und Strauss. Extreme Chromatik führte zu Kompositionen mit hohem Dissonanzanteil. (Mahler hielt Salome für „eines der größten Meisterwerke unserer Zeit“ und konnte nicht verstehen, warum das Publikum die Oper auf Anhieb mochte.(5)) Auf die Dissonanz folgten die atonalen Werke Schönbergs, die eine ganz neue Schule begründeten, in der die Melodie durch Musikmathematik und die Zwölftonreihe ersetzt wurde.(6) Béla Bartók führte die klassische Musik durch die Einbeziehung von Volksmusiktechniken wie etwa „gebeugten“ Noten über die Grenzen des Zwölftonsystems hinaus.(7) Eine weitere Neuerung des 20. Jahrhunderts war der Jazz – eine Form gemeinschaftlichen Musizierens, bei der die Musik erst im Moment ihrer Entstehung fixiert wurde.(8) Neue Technologien, neue Instrumente, neue Genres verschoben laufend die Grenzen dessen, was als Musik galt. „Tonschönheit ist Nebensache“ lautete Paul Hindemiths Spielanweisung zu seiner zweiten Sonate für Bratsche allein.(9) Und John Cages Stück 4'33'' ist gar ein Werk aus völliger Stille.(10) So reihte sich eine Geburtsmöglichkeit der Musik rastlos an die nächste. Doch gehört zur Entwicklung der Musik mehr als eine Abfolge von Schulen und Theorien der Komposition und der Aufführungspraxis. Betrachten wir nur einmal diesen Auszug aus einem Essay von Greg Sandow:(11)

Nach und nach begannen sich die Gattungen [der Populärmusik und der Klassik] zu vermischen. Jede Seite entdeckte an der anderen etwas, worum sie sie beneidete. Liebhaber klassischer Musik (ich verwende diesen Begriff natürlich im Sinn des frühen 19. Jahrhunderts) waren neidisch auf die viel vollkommeneren Aufführungen von Konzerten populärer Musik. Und mit dem wachsenden Prestige der klassischen Musik wurden populäre Musiker wie Liszt allmählich dafür getadelt, dass sie nicht genug Beethoven spielten. Mit dem Fortschreiten des 19. Jahrhunderts verengten sich die Konzerte mehr und mehr auf die Musik der Vergangenheit. Zwischen 1815 und 1825 kam die bei den Konzerten einer führenden Wiener Musikgesellschaft gespielte Musik zu 77 Prozent von lebenden Komponisten und nur zu 18 Prozent von toten (niemand kennt die Todesdaten der Komponisten, von denen die restlichenfünf Prozent stammten). Bis 1849 hatte sich dieses Verhältnis fast genau umgekehrt.


Es liegt mir fern vorzuschreiben, welche Art Musik jemand hören sollte – ob die von toten oder von lebenden Komponisten –, aber es hat unleugbar enorme Folgen sowohl für die Kultur als auch für Komponisten, wenn der kulturökonomische Zyklus über die Lebenszeit des Komponisten hinausreicht. Eine der ersten Reaktionen auf diese schwierige Situation war die, solche Höreranteile als negativ korrelierend mit Qualität anzusehen. In Thomas Manns Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde prophezeit der Teufel Leverkühn, dass er zwar sein Leben lang nie Popularität erlangen, seine Zeit aber irgendwann kommen wird:(12) „Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch schlagen, auf deinen Namen werden die Buben schwören, die dank deiner Tollheit es nicht mehr nötig haben, toll zu sein. “Ross stellt diesen faustischen Pakt in einen größeren Zusammenhang:

Doch Mann wusste, was er tat, als er seinen Komponisten einen Bund mit dem Teufel schließen ließ. Fausts Pakt ist eine extreme Version der Art von Geschichten, die sich Künstler erzählen, um ihre Einsamkeit zu rechtfertigen. Als Eisler Manns Roman las, verband er ihn mit der wahrgenommenen Krise der klassischen Musik in der modernen Gesellschaft. „Große Kunst kann, wie der Teufel behauptet, heute in dieser untergehenden Gesellschaft, nur noch in völliger Isolation, Einsamkeit, durch totale Herzlosigkeit entstehen … [Doch Mann] erlaubt Leverkühn, von einer neuen Zeit zuträumen, in der die Musik zu einem gewissen Grad mit dem Volk wieder auf du und du steht.“ Andere Jahrhundertwende-Komponisten haben ihre Situation ganz ähnlich als Einzelkampf gegen eine barbarische, stumpfe Welt gesehen.


Noch einen Schritt weiter ging Schönberg mit seiner Erklärung:„[W]enn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.“(13) In diesem Kontext scheint jede Diskussion über die Fairness eines Copyright-Deals in höchstem Maß absurd, so als wolle man den Marktwert der eigenen Nachkommen festlegen. Mittlerweile haben neue Kunst- und Musiktheorien Platz gegriffen. Schönberg schrieb an Kandinsky: „Kunst gehört dem Unbewussten! Man soll sich ausdrücken! Sich unmittelbar ausdrücken! Nicht aber seinen Geschmack oder seine Erziehung oder seinen Verstand, sein Wissen, seinKönnen.“ An den Komponisten und Pianisten Ferruccio Busoni schrieb er:„Ich strebe an: vollkommene Befreiung von allen Formen, von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik.“(14) Und Gustav Mahler wird die Äußerung zugeschrieben: „Ich weiß für mich, dass ich, solang ichmein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiss keine Musik hierüber machen würde.“(15) Das alles zeigt uns, dass diese Komponisten kulturell und nicht ökonomisch dachten. So bequem es sein mag, die Verschlechterung der Lage lebender Komponisten irgendeiner neumodernen Technologie in die Schuhe zu schieben, ähnlich wie man mp3-Dateien und P2PTauschbörsen für den Niedergang kommerzieller Tonträger verantwortlich gemacht hat – die Chronik der Ereignisse stützt diesen Befund nicht. Der um 1849 dokumentierte Wandel des Musikgeschmacks vollzog sich 28 Jahre vor der Erfindung der Phonographen(16) und nahezu 60 Jahre vor der berühmten Aussage John Philip Sousas vor dem US-Kongress, „diese Sprechmaschinen“ würden „die künstlerische Entwicklung in diesem Lande ruinieren“(17). Die Verschlechterung war vielmehr die Folge eines kulturellen Wandels, wie wenn ein Wald von schnell wachsenden Weichgehölzen zu langsam wachsenden Hartgehölzen heranreift. Sousa sah Musikaufnahmen vor allem als Konkurrenz für seine eigenen Big-Band- Produktionen und übersah dabei völlig, auf wievielerlei Art die Technologie zur Entstehung neuer musikalischer Formen beitrug. Béla Bartók dekodierte mithilfe des Phonographen und stundenlanger akribischer Analysen die DNA der ungarischen Volksmusik und ebnete damit neue Wege für Klassik wie Jazz.(18) Die Verstärkung ermöglichte (ehe sie vollkommen überbeansprucht wurde)(19) neue Besetzungen und Aufführungsweisen. Der Rundfunk eröffnete völlig neue Schauplätze für Musikerlebnisse, wie z. B. einen Küchentisch, und demokratisierte damit einen vormals der Elite vorbehaltenen Bereich. Highfidelity, Langspielplatten (und später CDs) trieben die Demokratisierung des Musikerlebens weiter, indem sie Raum und Zeit überwanden. Dieser Kreativitäts- und Technologieschub führte zu einer entsprechenden Diversifizierung unserer kulturellen Angebote, einem neuen Spektrum ökonomischer Möglichkeiten und einer unvermeidlichen Störung des Status quo. In Bezug auf Nachhaltigkeit stellt sich daher die Frage, was überhaupt erhalten werden soll. Ross schreibt über die Boston Symphony Hall, wo an der Stelle, an der sich in einer Kirche das Kruzifix befände, in Stein gemeißelt der Name BEETHOVEN steht. Und er beschreibt die gängige Praxis, die Namen anderer europäischer Meister rund um die Auditorien in den Stein zu meißeln, womit unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich bei diesen Gebäuden um Kathedralen für die Verehrung importierter Musikikonen handelt. „Wie“, fragt Ross, „könnte der eigene Name jemals neben dem von Beethoven oder Grieg zu stehen kommen, wenn alle verfügbaren Plätze besetzt sind?“(20)War für eine Art Nachhaltigkeit ist das? Nicht die einer lebenden Kultur, sondern die eines Steinbruchs. Es ist ein feiges Museum, das sich seiner Bedeutung erst sicher sein kann, wenn seine Protagonisten längst tot sind. In der Landwirtschaft setzt sich in puncto Nachhaltigkeit gerade eine bemerkenswerte Entdeckung durch: Die Qualität des Bodens ist mehr als die Summe seiner Teile. Mutterboden entsteht in der Natur mit einem Tempo von 25 mm in 500 Jahren.(21) Intensive Bewirtschaftungsmethoden laugen den Boden mit der 10-bis 15-fachen Geschwindigkeit aus.(22) Heute wissen wir (zumindest wissenschaftlich), dass die chemische Ersetzung von Nährstoffen, die beim Anbau von Reihenfrüchten wie Mais oder Sojabohnen verloren gehen, den Boden nicht zur Gänze in seinen Naturzustand zurückversetzt. Was den Boden betrifft, ist Nachhaltigkeit also keine bloße Übung in chemischer Stöchiometrie, sondern ein ständiger organischer Prozess, der in einem angemessenen Gleichgewicht gehalten werden muss. Genauso wenig kann sich auch die kulturelle Nachhaltigkeit auf die Besteuerung eines Bevölkerungsteils zugunsten eines anderen beschränken oder eine Klasse von Menschen in den Dienst einer anderen stellen (ob aus Gründen gerechter Entschädigung oder nationalen Interesses oder beidem), sondern muss Kreativität und Entdeckung – wie es auch die Natur täte – ungehemmt ihren Lauf nehmen lassen, damit sie sich entwickeln und fruchtbar werden können. Zwar gab es, historisch gesehen, selten Trost für diejenigen, die von der kulturellen Entwicklung am meisten abhängig sind, doch haben ihre Bemühungen auch das Ganze der Kultur erhalten, statt es zu ihren Gunsten zu vermindern. Und genau um das Austarieren dieses Gleichgewicht geht es heute. Musik und Software gleichen sich darin, dass beide in einer Form notiert werden können, die als reiner Datensatz einen funktionalen Output hervorbringt. Die Walzen eines Pianola waren geradeso eine Art von Software wie die Lochkarten oder -streifen früher Computer. Und auch die Syntax von Musik, ihre Phrasierung, und die formalen Strukturen vieler klassischer Stile, die rekursive (ABA,ABBA, ABA CDC ABA) oder serielle Muster aufweisen, erinnern stark an rekursive und sequenzielle Software- Algorithmen. Musikalische Zitate funktionieren wie Unterprogramme in der Informatik – als kurzer Verweis, der die Bedeutungen und Emotionen dessen, worauf er referiert, abrufen, rekontextualisieren oder transformieren kann. Jazzstandards legen ein Set an standardisierten Interfaces und Konventionen fest, das ein breites Spektrum an Interpretationen ermöglicht, ähnlich wie interoperable Software zur Herstellung von Mashups verwendet werden kann. Doch die Software hat die Musik in einer fundamentalen und kulturell relevanten Hinsicht überholt: Sie hat sich über die reine Funktion (Gebrauchsmusik),(23) Bedeutung(24) oder Objektform(25) hinaus zu einem sich selbst erhaltenden und steuernden System(26) weiterentwickelt. Das ist auch das Thema eines neuen Buchs von Christopher Kelty mit dem Titel Two Bits: The Cultural Significance of Free Software. Kelty behauptet, und ich stimme mit ihm überein, dass der Hauptfortschritt der Free- Software-Kultur in ihrem Grundprinzip einer rekursiven Öffentlichkeit besteht. Kelty erklärt:(27)

Rekursive Öffentlichkeiten versuchen etwas herzustellen, das man – ein wenig enigmatisch – sich ständig „selbst ausgleichende“ gleiche Wettbewerbsbedingungen nennen könnte. Und genau durch diesen Versuch, sich selbst ausgleichende Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, widerstehen sie auch Formen der Macht und Kontrolle, die Wettbewerbsbedingungen zugunsten der einen oder anderen großen – staatlichen, wirtschaftlichen, beruflichen – Interessengruppe zu verzerren versuchen. Computernarren aber wollen nicht einfach die Wettbewerbsbedingungen zu ihrem Vorteil verändern – sie empfinden selbst keinerlei Zugehörigkeit oder Identität. Sie wollen sie vielmehr mit einer Art von Handlungsfähigkeit ausstatten, die durch die Handlungsfähigkeit vieler unterschiedlicher Akteure zustande kommt, dabei aber durch ihre technische und rechtliche Struktur und durch ihre Offenheit kontrolliert wird. Computernarren wollen nicht wie Kapitalisten oder Unternehmer miteinander konkurrieren, sondern nur dann, wenn sie sich sicher sein können, dass sie es (wie öffentliche Akteure) in einem fairen Wettstreit tun.


Durch die Annahme eines Regelkatalogs, demzufolge jedes Individuum dieser Öffentlichkeit nach Belieben Veränderungen und Verbesserungen vornehmen kann, also viele Personen zum Handeln ermächtigt sind, umgeht die rekursive Öffentlichkeit der freien Software sowohl in Stein gemeißelte feste Konventionen (Beethoven et al.) als auch die moralisch fragwürdige Maxime Strawinskys: „Mindere Künstler borgen, große Künstler stehlen!“ In der Welt der freien Software besteht kein Grund zu stehlen, sondern nur das Recht zu kultivieren, wo immer es für notwendig erachtet wird. Richard Stallman kennt die von Mahler und Schönberg beklagte Einsamkeit nur zu gut, aber er erfand die rekursive Öffentlichkeit nicht, um populär zu werden. Er erfand sie, um sein Leben zu ermöglichen. Wie könnte man nun die Lehren der Software auf die Musik übertragen? Es ist – fast – einfach: Sie muss lediglich die Prinzipien zur Schaffung einer rekursiven Öffentlichkeit übernehmen. Die Musik- Community legt zwar Konventionen wie Tempo, Vorzeichen, Stimmung u. dgl. fest, aber Rechtsfragen vernachlässigt sie und damit auch ihr eigenes Schicksal. Denn multinationale Interessengruppen von Rechteinhabern versuchen, die Wettbewerbsbedingungen zu ihren Gunsten zu verändern, indem sie ständig den Umfang und die Dauer ihrer Rechte ausweiten. Die Beweislage dafür ist überwältigend. Es reicht ein Blick auf das US-Copyright-Gesetz:(28)

Von 1790 bis 1909 galt das Copyright 14 Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit um weitere 14 Jahre. Von 1909 bis 1976 galt das Copyright 28 Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit um weitere 28 Jahre. Von 1976 bis 1998 galt das Copyright 75 Jahre oder 50 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Seit 1998 gilt es 95 bzw. 100 Jahre oder 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Seit 1998 stiegen zudem die Strafen für Dinge, die früher unter fair use fielen.


Mögen Komponisten und Interpreten anfangs noch geglaubt haben, dass ihnen diese zusätzlichen Einschränkungen einige Vorteile bringen, so wird zusehends klar, dass diese Gesetzesänderungen die Wettbewerbsbedingungen dahingehend verzerren, dass sie das Lebensende (der Mickey Mouse als einem urheberrechtlich geschützten kreativen Werk) immer weiter hinausschieben und damit neue Geburten, das Einmeißeln neuer Namen an neuen Veranstaltungsorten verhindern. Wie sonst ist zu erklären, dass die Rolling Stones 2006, 44 Jahre nach ihrer Gründung, eingeladen wurden, ein Konzert zu spielen, das sie selbst aus Altersgründen nicht besuchen dürften?(29) Das Feld der Musik gleicht einer Farm, deren Mutterboden derartig mit Pestiziden und Dünger traktiert wurde, die derartig kulturfeindlich und unnachhaltig geworden ist, dass sie sich nur noch zum Anbau staatlich geförderter genmanipulierter Organismen oder zum Friedhof eignet. Ich habe gesagt, dass die Lehren der Software für die Musik einfach seien – fast. Nun das „fast“ bezieht sich darauf, dass die Free- Software- Community zwar erfolgreich die Noten des Urheberrechts „gebeugt“ hat, um unendliche Geburtsmöglichkeiten zu schaffen, dass uns aber die Gerichte und Regierungen mit einem neuen Regelwerk „beschenkt“ haben, das wir nicht ablehnen können: Softwarepatenten. Softwarepatente wurden spätestens seit den 1980er Jahren als rechtliche Landminen(30) bezeichnet, was gut in unseren Begriffsrahmen von Kultur und Landbau passt. Wo die Ausweitungen des Copyrights den Boden überfordert haben, lösen die Softwarepatente mit ihren willkürlichen, unsichtbaren und unberechenbaren Folgen unter seinen Bebauern Angst und Schrecken aus. Es ist eine Rechtsanwendung, die sinnlos ist, ein Unfall, der sich zu einer unheimlichen Agenda ausgewachsen hat.

Lassen Sie mich mit einem weiteren Zitat von Greg Sandow schließen :Hier ein kurzer Bericht, der prägnant die Verschmelzung von Populärmusik und klassischer Musik darstellt. Er stammt aus dem Kapitel über die Kunst des Zuhörens im 19. Jahrhundert, mit dem Peter Gray sein Buch Die Macht des Herzens beginnt:

[Berlioz] erinnert sich, er sei irgendwann einmal dabei gewesen, als Liszt die Beethovensche Mondschein-Sonate mit hinzuerfundenen Trillern, Tremolos und Schnörkeln zugrunde gerichtet habe. Bei einem späteren Vorspiel jedoch, das Liszt für eine kleine Freundesgruppe gab, erwies er dem Stück mehr Ehrerbietung. Es war später Nachmittag, und die Lampe erlosch. Berlioz begrüßte das: Er fand, das dämmerige Halbdunkel sei für den Adagio-Satz der Cis-Moll-Sonate gerade richtig. Aber Liszt setzte noch eins drauf; er bat darum, alle Lampen zu löschen und das Kaminfeuer abzudecken. Dann, in totaler Finsternis, so erinnert sich Berlioz, „erklang nach einer kurzen Pause die prachtvolle Elegie, die er einst so seltsam entstellt hatte, in ihrer ganzenerhabenen Einfachheit; keine Note, keine Betonung war denen des Autors hinzugefügt. Es war der vom Virtuosen beschworene Geist Beethovens, dessen Stimme wir lauschten. Alle erbebten in tiefstem Schweigen, und als der letzte Ton verklungen war, sprach niemand – wir waren in Tränen aufgelöst“.


Und wohin führte das? Genau zu unserer heutigen Welt der klassischen Musik, in der die musikalischen Regeln der Vergangenheit allein maßgebend geworden sind. Wir hören in Stille zu; wie verehren die großen Komponisten; Konzerte müssen für uns komplex und erhaben sein. Nur eines ist komisch: Irgendwie haben wir die populäre Musik des 19. Jahrhunderts – furchtbar alberne Rossini-Opern, protzige Paganini-Konzerte – in das Pantheon der Klassik eingeschleust und das ergibt nun gar keinen Sinn. Die Welt der klassischen Musik hat nicht nur jeglichen Kontakt mit der sie umgebenden Kultur verloren; sie hat auch ihre eigene Vergangenheit vergessen. Wir sollten den Geschmack, das Einfühlungsvermögen und die Kunstfertigkeit, die Liszt bei seiner Aufführung an den Tag legte, durchaus in Ehren halten, aber wir sollten auch verstehen, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen, dem eigenen Kontext gemäße Aufführungen schaffen können. Wir sollten die Freiheit haben, jede Facette der Kreativität auszuloten, vom Konzept bis zur Umsetzung, in jedem Medium, zu jedem Zweck, damit wir uns nicht in der Absurdität unserer eigenen Ignoranz verheddern. Free Software, Open Source und Creative Commons(32) weisen uns den Weg, aber wir müssen die Kühnheit haben, die rekursive Modifikation künstlerischen Schaffens als die bedeutendste Kunst- und Kulturäußerung zu behandeln, zu der wir imstande sind. So werden wir nämlich unsere Musik und Kultur nachhaltig machen. Und wir können nur hoffen, dass mit dem immer breiter werdenden Verständnis für das Wesen von Musik, Kultur und Kreativität auch die Gesetze zugunsten einer Förderung von Nachhaltigkeit und nicht von Stasis umgeschrieben werden.

Aus dem Englischen von Wilfried Prantner.



(1) http://en.wikipedia.org/wiki/Culture zurück

(2) http://en.wikipedia.org/wiki/Criticism_of_intellectual_property zurück

(3) http://www.herbiehancock.com/music/discography/?aid=48 zurück

(4) Ibid, p. 9 zurück

(5) http://en.wikipedia.org/wiki/Atonality zurück

(6) http://en.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9la_Bart%C3%B3kzurück

(7) http://en.wikipedia.org/wiki/Jazz zurück

(8) Ross, p. 182 zurück

(9) http://en.wikipedia.org/wiki/4%2733%27%27 zurück

(10) http://www.artsjournal.com/greg/2006/10/_october_11_2006_greg.html zurück

(11) Ross, p. 34 zurück

(12) Ross, p. 39 zurück

(13) Ross, p. 57 zurück

(14) http://en.wikiquote.org/wiki/Gustav_Mahler zurück

(15) http://en.wikipedia.org/wiki/Phonograph_cylinder zurück

(16) Ibid zurück

(17) Vgl. eben da, S. 73zurück

(18) http://forums.allaboutjazz.com/showthread.php?t=32769 zurück

(19) http://blog.miraverse.com/?p=87 zurück

(20) Ross, p. 129 zurück

(21) United States Department of Agriculture, Soil Conservation Service, “Fact Sheet” (USDA, April 1993). zurück

(22) http://www.culturechange.org/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=107&Itemid=1 zurück

(23) http://en.wikipedia.org/wiki/Gebrauchsmusik zurück

(24) http://www.people.carleton.edu/~jlondon/musical_expression_and_mus.html zurück

(25) Ross, p. 108 zurück

(26) http://opensource.org/definition.php zurück

(27) http://gnu.org/ zurück

(28) Kelty, Christopher, Two Bits: The Cultural Significance of Free Software, Duke University Press,Durham 2008 p. zurück

(29) http://en.wikipedia.org/wiki/United_States_copyright_law zurück

(30) http://news.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/4584858.stm zurück

(31) http://www.gnu.org/philosophy/fighting-software-patents.html zurück

(32) http://creativecommons.org/ zurück