www.aec.at  
Ars Electronica 2001
Festival-Website 2001
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Takeover
about the thing formerly known as art

'Gerfried Stocker Gerfried Stocker

Die Idee von der digitalen Revolution hat ihre erste echte Krise. Nicht ihre erste wirtschaftliche – schon einmal fürchtete man um die großen Schlachtschiffe der Computerindustrie, als sie den entscheidenden Paradigmenwechsel von den Mainframes zum PC verschlafen hatten –, aber ihre erste kulturelle Identitätskrise. Gerade noch Leitmotiv einer besseren Zukunft, in der man meinte, mit den Volksaktien der Telcos und Dotcoms gar eine neue Form von kollektivem Besitz und Wohlstand als unerwartetes Resultat des globalen Neoliberalismus feiern zu können, beeilen sich die Kolumnisten der bürgerlichen Feuilletons, nun den Aktienabstürzen auch gleich die gesamte Idee einer auf Information und Virtualität aufbauenden Ökonomie hinterherzuwerfen.

Wie steht es da um die Medienkunst, die ihre Entwicklung und öffentliche Aufmerksamkeit im Wesentlichen denselben Dynamiken verdankt wie die New Economy? Kann Medienkunst – als Sammelbegriff für die künstlerische Einmischung in die technologische Realität unserer Welt verstanden – ihre innovative Dynamik erhalten? Behält sie im Sinne einer avantgardistischen Definition ihr Potenzial, wesentliche Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu leisten, oder werden ihre Kraft, ihr Glamour und ihre Attraktivität in der zunehmenden Alltags-Medien-Welt verblassen und in den Vitrinen der Museen entsorgt?

Ähnlich wie auf den Finanzmärkten sehen viele – die, die es schon immer gewusst haben – die Wiederkehr der guten alten Werte und ihre Beharrlichkeit gerechtfertigt. Doch etwas abseits von den Trends zeichnen sich bereits die Konturen des Neuen und Nächsten ab, denn die „digitale Revolution“ hat in ihrem Gefolge schon längst ganz spezifische Formen und Ausprägungen von Kunst verursacht, deren Aktionsfelder weitgehend außerhalb der Sphären des Kunstbetriebs angesiedelt sind und von diesem kaum wahrgenommen und akzeptiert werden.

Ein Creativity Burst ist im Gange, der weit über die quantitative Zunahme derer, die an gestalterischen Aufgaben und Herausforderungen im professionellen wie amateurhaften Milieu arbeiten, hinaus vor allem ein qualitatives Phänomen darstellt – eine Entwicklung, die vermehrt auch geografisch neue Schwerpunkte hervorbringt, u. a. im für Medienkunst geo-kulturellen Neuland der Emerging Economies. Zum Beispiel Malaysia, das trotz des massiven wirtschaftlichen Einbruchs bei der Asienkrise der 90er-Jahre seine Pläne zum Aufbau eines Mulitmedia-Super-Korridors durchgezogen hat und nun im Begriff ist, auch die Brainpower für die Nutzung dieser Infrastruktur mit neuen großzügig angelegten Multimedia-Universitäten oder mit den für uns befremdlich anmutenden Volksinternet-Schulungen zu schaffen, bei denen Tausende Leute gleichzeitig im großen Sportstadion von Kuala Lumpur den Umgang mit Computer und Internet lernen. Südkorea liegt um Längen vor Japan, wenn es um Vernetzung und auch Nutzung der IT geht, und unternimmt ebenfalls große Anstrengungen, in die Bereiche der Kreativ-Wirtschaft einzusteigen, und setzt dabei vor allem auf den ökonomischen Boom der Gaming Industry.

Die Dynamik des TAKEOVER kommt nicht aus den Ausbildungs-, Ausübungs- und Vermittlungsstätten der Kunst (auch nicht von jenen, die der zeitgenössischen Kunst zuordenbar wären), sondern von zum Großteil sehr heterogenen und vielfach nicht miteinander in Berührung stehenden Szenen, denen vielleicht nur so viel gemeinsam ist, als dass ihre Aktivitäten nicht bloß distanziert-reflektierende Reaktion auf die techno-sozialen Veränderungen sind, sondern selbst als Teil dieser daraus entstehen bzw. sich davon ableiten.

Computer und Internet – als Leittechnologien der aktuellen Veränderungen – wirken hier nicht nur als hochwertige Produktions- und Distributionsmedien, sondern auch als schnelles Referenzsystem, in dem Ideen, Talente und Fähigkeiten in einer inspirierenden Verknüpfung von Kooperation und Konkurrenz entstehen, verfeinert und perfektioniert werden.

Zu kurz greifen würde da der Vergleich mit der schon in den 60ern propagierten „dritten Kultur“ der Zusammenführung bzw. Versöhnung von Natur- und Geisteswissenschaften, da sich diese zu sehr auf die intellektuelle akademische Positionen beschränkt. Eher schon entsprechen die Beschreibungen einer auf Technologie aufbauenden Pop-Kultur, die aber längst nicht nur die Wired Nerds erfasst, sondern eine wesentlich breitere Schicht, die sich auf derartige postmodernen Divergenzen gar nicht erst einlässt und eine Selbstverständlichkeit an den Tag legt, die von vielen Gralshütern des intellektuellen Diskurses mit reichlicher Überheblichkeit und Kurzsichtigkeit gern als Belanglosigkeit oder Unengagiertheit abgetan wird. Wenngleich den Nintendo- und SMS-Kids die Technologie-Feindlichkeit/Angst/Ignoranz fern liegt und sie eher zu schneller Affirmation von Industriestandards neigen, sind sie alles andere als gesellschaftspolitisch indifferent.

Die per Handy und Internet gesteuerten Kundgebungen, die Cyber- und Online-Demonstrationen der digitalen Aktivisten richten sich nicht mehr nur gegen Umweltverschmutzung und neoliberaler Globalisierung, sondern auch gegen die Praktiken der Datenüberwachung und Informationskontrolle. Im englischen Menwith Hill enterten Greenpeace-Aktivisten eine Radaranlage, die zum globalen Abhörsystem „Echelon“ gehört, und besetzten dort einen Radarturm wie einst die Schornsteine und Kühltürme von Atomkraftwerken. Aktionen wie diese, aber vor allem die Demonstration von Seattle bis Genua zeigen, dass der Protest vom Netz auch auf die Straße weitergetragen wird.

Die Aufgabe der KünstlerInnen von morgen ist die eines Intermediators, eines Katalysators zwischen verschiedenen Wissensbereichen, Denk- und Gesellschaftsmodellen, Lösungsstrategien.

Ars Electronica wendet sich mit dem Festival TAKEOVER den ProtagonistInnen dieser Entwicklung zu, die unvoreingenommen und mit hohem Einsatz und Risiko in neue Territorien vorstoßen, in denen ihre Rolle und ihre Handlungsspielräume noch nicht definiert sind – sei es in brisanten gesellschaftspolitischen Settings, an wissenschaftlichen Fronten wie der Gen- und Biotechnologie oder in neuen ökonomischen Allianzen: Der Modus Operandi ihres Agierens, ihre Motivationen, Strategien und Zielsetzungen definieren sie als KünstlerInnen, und die progressive Wirkung ihrer Arbeit macht diese zu Kunst.

Die Szenerie ist geprägt von Umsteigern und Spin-offs, die ihre Softskills im direkten Umgang mit der Materie oder als Side-Products der meist nicht auf Kunst, sondern auf die Ausbildung von Medienarbeitern ausgerichteten Hochschulen für Mediendesign erwerben. Ein Potenzial von selbstbewusst agierenden ProfessionistInnen, die alle Voraussetzungen besitzen, die eigenen Ideen umzusetzen und nicht nur den Gestaltungsspielraum kommerzieller Software auszufüllen. Die eigentlichen institutionellen Ausbildungsstellen (Akademien und Universitäten) sollen/können auf keinen Fall aus der Pflicht genommen werden. Ziel muss es sein, sie nicht als letzte Bastionen zu sehen, um in die letztlich nicht mehr aufzuhaltende Medienentwicklung doch noch die Rituale der Kunst einzupflanzen, sondern (was von den Fachhochschulen nicht geleistet werden wird bzw. kann) kritisches Denken zur kulturellen und sozialen Relevanz neuer Medientechnologien in den Umgang mit diesen einzubringen. Dafür sind analytische Zugänge über die Semiosphäre der jeweiligen Technologien hinaus notwendig. Denn was ließe sich schon erwarten, wenn man zwar den handwerklichen Umgang mit dem Neuen lehrt, aber in der Reflexion und im Entwurf neuer künstlerischer Strategien nicht aus dem bestehenden Kodex austritt?

Die überkommen Zugangsrituale zur Kunst sind hinfällig, und viele kommen gar nicht mehr auf die Idee, sich um ihre Beglaubigung durch die Zirkel der Kunst zu bemühen. Die Abgrenzungen und Übergänge zwischen Kreativität und Kunst müssen vielleicht neu bewertet werden, doch wenn es um die Beurteilung der gesellschaftlichen Wirkung geht, ist diese Differenzierungen nicht länger relevant. Das Gezeter und Gezerre um die Berufsbezeichnung bzw. -berechtigung „KünstlerIn“ interessiert nicht mehr, es ist so unnötig wie jene Positionen, die dadurch verteidigt werden sollen.

Strategien der Kunst diffundieren immer häufiger und nachhaltiger in andere Bereiche der Gesellschaft. Die Kunst löst sich auf wie Mineralstoffe in einer Flüssigkeit, sie mag unsichtbar werden für die trägen Augen derer, die sie nur mit gewohnten Kriterien sehen wollen, sie verschwindet aber nicht, sie übernimmt Funktion und erzeugt Wirkung.

Ist man gewillt, das Internet nicht mehr bloß als ein technisches Kommunikationswerkzeug zu betrachten, sondern als sozialen und kulturellen Raum ernst zu nehmen, so wird klar, welch gigantisches Ausmaß die gestalterische Baustelle Internet hat. Das meint nicht nur die zu leistende Arbeit an den Oberflächen und Hüllen des Screen- und Webdesign, sondern auch und vor allem die Ausformung von Zugängen und Funktionalitäten, die Strukturierung von Handlungsräumen und -modellen: nicht nur Interface-Design, sondern auch Design als Interface zwischen der Intention des Users und der dem Content zu Grunde liegenden Intentionalität. Interface als Voraussetzungen für das Engagement des Users, als Verknüpfung des Content in einen sensorisch kognitiven Context des (Inter-)Agierens. Die Frage nach dem Human-Computer-Interface, also der Schnittstelle für die Begegnung zwischen Mensch und Maschine, zwischen realem Raum und virtuellen Domänen, ist nicht nur als gerätetechnische Fragestellung zu verstehen, sondern als eine nach den kulturellen und ökonomischen Lebensumständen, unter denen wir diese Begegnung vollziehen können.

Die Kunst von morgen wird gemacht von den Engineers of Experience in ihren Werkstätten der Welterfindung und Welterschaffung. Sie wird inszeniert zwischen Las Vegas und Tate Modern, zwischen IT-Algorithmen und Proteinsequenzen.

Die Landnahme der Kunst in den Domänen der Technologie und ihrer Geschäftsfelder ist ein wichtiger Beitrag, um jene dringend notwendigen Freiräume zu schaffen, in denen das Unerwartete, das Nichtgeplante, passieren kann. Dazu zählt – ohne sich in einer A-priori-Gegnerschaft zu begreifen – auch der Widerspruch, zu dem die Erklärungsmodelle der Wissenschaft die Künstler veranlassen.

Das von beiden Seiten lange betriebene Konzept der interdisziplinären Zusammenarbeit, die sich auf wechselseitige Dienstleistungen beschränkt, ohne zu einem Austausch von Denk- und Handlungsweisen bzw. -modellen zu führen, hat wesentlich zur Diskreditierung dieser wichtigen Koalition von Kunst und Wissenschaft geführt und weder Kunst noch Wissenschaft weitergebracht. Interessante Resultate sind nur dort zu finden, wo die Settings der Zusammenarbeit aus verschiedenen Gründen beide Seiten dazu zwingen, Neuland zu betreten.

Das avantgardistische Prinzip der Kunst, treibende Kraft und Impulsgeber für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu sein, hat sich verlagert: Wissenschaft, sub- und popkulturelle Nischen, Business & Entertainment, Software Engineering etc. sind die Locations der spannenden aktuellen Entwicklungen.

Vor allem die Game-Industrie ist ein Multimilliarden-Dollar-Markt, in dem die Kunst natürlich erst mal keine Rolle spielt. Aber über die Games kommen neue Themen, neue Erzähl-, Ausdrucksund damit mediale Kommunikationsformen, die im Begriff sind, zum vorherrschenden Kulturmodell zu werden. Wer dies bezweifelt, möge sich die Entwicklung der Film-Technologie/ Kunst/Industrie ansehen und daraus Schlüsse ableiten. Die Verfilmung von Tomb Raider markiert eine Wende, mit der der Film zum Merchandising-Produkt des Games wurde.

Im kulturell wie ökonomisch durchschlagenden Erfolg des digitalen Gaming hat sich aber nicht nur ein Business Modell manifestiert, sondern auch die VR-Technologie durchgesetzt, wenngleich in ziemlich anderer Form, als lange angepriesen. Nicht die Geräte, sondern die Methode, mit Content und seiner Vermittlung umzugehen, das Erschaffen von nicht-realen Welten und deren computergestützte Darstellung als emotional erlebbare Wirklichkeiten, an und in denen der User teilnimmt, mitentscheidet und mitgestaltet, sind letztlich die Vision der VR, die sich im Erfolg der Spiele-Industrie wieder findet – auch ganz ohne Datenhelme und Cybergloves.

Etwas abseits vom kommerziellen Sektor findet sich in den Games auch immer wieder die Kritik bzw. Auseinandersetzung mit dem Gegebenen, der realen existierenden Welt, indem die Regeln der Naturgesetze wie des jeweiligen gesellschaftlichen Kodex gebrochen bzw. umgeschrieben werden (Stichwort „Hacking the Rules“). Was oft als Flucht kritisiert wird („ ... die reale Welt ist schlecht genug – wozu brauchen wir noch eine virtuelle ...“) entpuppt sich als viel versprechende Strategie der Analyse und als Werkzeug zur Entwicklung und Evaluation von Alternativ- bzw. Gegenmodellen – wie wir es von der Literatur seit jeher gewohnt sind, nur mit dem Unterschied, dass die unmittelbare Anwendungssituation der Games, vor allem in den vernetzen Shared Environments der Multi-User-Games, auch gleich das Austesten solcher Strategien erlaubt – welche Veränderungen können sich als gemeinsame Wirklichkeit durchsetzen?

Der vornehme Rückzug auf kunstimmanente Positionen mag manchen als Option erscheinen, er taugt aber weder als Basis für den Entwurf von Alternativen und weiterführenden Konzeptionen, noch ist er geeignet, die Rolle zeitgenössischer Kunst in der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung zu sichern.

Die Frage nach den Machern der Kunst beschäftigt sich aber nicht nur mit jenen, die sie hervorbringen, sondern auch mit denen, die sie verwalten und bewirtschaften. Branding und Franchising als Strategien der Marktpositionierung und -dominanz, das Bemühen um Rekontextualisierung und Kanonisierung der Medienkunst, um diese in den Raum der Kunst zurückzuvermitteln, rufen große Skepsis hervor. Die Trägheit traditioneller Kunstinstitutionen und die zunehmende Privatisierung der Kunstförderung verstärken den Trend einer jungen Künstlergeneration, sich eigene Plattformen, Kooperationen und Business-Modelle aufzubauen, und der anhaltende Braindrain in die Medien- und Werbewirtschaft könnte den Kunstbetrieb bald wie eine Geisterstadt zurücklassen.

Was einst unter dem Begriff der Medienkunst rubriziert werden konnte, hat sich in eine Vielzahl neuer künstlerischer Genres verzweigt: symbiotische Formen, deren Definitionen eher an wissenschaftlich- technischen Disziplinen, an Interface Development und Information Architecture oder an Net-Culture und Lifestyle der Gaming Communities orientiert sind als an den Ismen des Kunstdiskurses.

Getragen wird diese Entwicklung von Personen, die ihre Identität zwischen Künstler, Ingenieur, Sozialarbeiter und Experience-Designer ansiedeln und aus einem klaren Verständnis nicht nur der technologischen, sondern auch der damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte agieren: Coder und Hacker, Open Sourcer, Circuit Bender, die sich der technologischen Komponenten bemächtigen und Gebrauchsanleitungen ignorieren, die Geräte und Systeme gegen ihre Marktbestimmung zum Einsatz bringen und mit dieser analytischen und kritischen Bearbeitung an der Gestaltung unserer Gegenwart teilnehmen – Kunst als Testdrive für die Zukunft.

Augenfällig ist, dass die Vereinnahmung der Medienkunst durch die bildende Kunst nicht länger durchgeht. Die Kunst von morgen ist die Kunst der Medien, sie ist genauso Musik und Performance wie sie Hardware-Handwerk und Software- Konzept ist. Dafür müssen die Kunsttheorien erst geschrieben werden.