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Wie man Kunst immer am falschen Ort sucht


'Jon Ippolito Jon Ippolito / 'Joline Blais Joline Blais

Ein Wissenschafter setzt in einem Festplattennetzwerk eine Population sich kreuzender Computerviren frei, die sich zu einem komplexen Ökosystem entwickeln. Ein Hacker, der zeigen möchte, wie sinnlos es ist, Computerprogramme urheberrechtlich zu schützen, versteckt einen verbotenen Code in einer Bilddatei und postet diese auf der Website des U.S. Copyright Office. Online-Aktivisten schleusen Geld über das Internet an eine Gruppe, die Barbies Voicebox mit der von G. I. Joe vertauscht, sodass ahnungslose kleine Mädchen Barbiepuppen kaufen, die Befehle wie „Eröffnet das Feuer!“ bellen, statt „Gehen wir einkaufen!“ zu gurren.

Warum hat die Kunstwelt im letzten Jahrzehnt eine so geringe Rolle bei der atemberaubenden Kreativitätsexplosion im Internet gespielt? Michael Kimmelman schreibt in der New York Times, dass online keine interessante Kunst passiert. Studierende, die Websites gestalten wollen, entscheiden sich für Design- statt für Kunstfakultäten, und Museumskuratoren, denen Tierra, DeCSS-Kunst oder ®™mark ein Begriff sind, kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Weshalb kann sich die Kunstwelt nicht in diesen Kreislauf einbringen?

Bestimmt spielen viele Faktoren eine Rolle, doch der wichtigste heißt Faulheit. Nicht körperliche Faulheit – es gibt eine Menge Kuratoren, die auf der Suche nach Biennale-Wunderkindern und Kunsthochschulen-Starnachwuchs eifrig zwischen Kwangju und Kassel hin und herjetten. Nein, was die Kunstwelt lähmt, ist eine philosophische Faulheit: das Desinteresse – oder gar die Weigerung –, Definitionen eben jener „Kunst“ neu zu überdenken, die viele mit so großem Zeitaufwand aufzuspüren suchen.

Die Weigerung, Kunst zu definieren, ist nicht nur die einfachere Alternative, sondern hat auch intellektuelle Tradition. Marcel Duchamp hob die Kunstwelt aus den Angeln, als er einen simplen gekauften Gegenstand einfach neben Bronzeskulpturen und Ölbildern auf ein Podest stellte und ihn so in ein Kunstwerk verwandelte. Gewiss kann es sein, dass Duchamp sich über die willkürliche Grenzlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst lustig machen wollte, doch seit seinem Tod mutierten diese museuminfizierten Fahrradräder und Flaschentrockner von einer Kritik am Solipsismus der Kunstwelt in eine Rechtfertigung desselben. Wenn als Kunst alles durchgeht, was unter das Dach einer Kunstgalerie oder den Sturz eines Museums passt, dann können Kuratoren und Kritiker sich ihre Faulheit leisten.

Theoretisch mag diese kontextuelle Definition von Kunst aufgeschlossen und pluralistisch anmuten, doch in der Praxis werden so eine beachtliche Reihe kreativer Aktivitäten, die bislang aufgrund ihrer verteilten Natur außerhalb der heiligen Kreise der Kunstwelt geblieben sind, von vornherein ausgeschlossen. Die meisten dieser Werke sehen nicht aus wie Kunst. Viele stammen von Menschen, die sich nicht als Künstler bezeichnen. Und selbst wenn Kuratoren versuchten, sie in einen White Cube zu zwängen, würde die Entwurzelung dieser Werke aus ihrem eigenen Kontext – dem Internet – sie gerade jener Links, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, berauben, die sie eigentlich so interessant machen.
Wenn die Kuratoren Funken dieser neuen Kreativität aufspüren wollen, so müssen sie ihre herkömmlichen Galerieeröffnungen und Studiobesuche aufgeben, Browser starten, E-Mails an Kunden verschicken und sich mit einer Betrachtungs- und Interaktionsform auseinandersetzen, die ihre Kunstauffassung zwangsläufig verändern wird. Doch selbst ein aufgeschlossener Beobachter muss nicht auf Stringenz verzichten. Im Folgenden möchten wir eine erste Reihung der neu aufsteigenden Sterne dieser neuartigen Kunstpraxis vornehmen – ein Versuch, nicht nur zwischen neuen Genres zu differenzieren, sondern auch eine Reihe von Symptomen zu benennen, an denen wir die von der Internetkunst neu eröffneten Räume erkennen können.

Autobotografie

Seit Augustinus lassen sich Autoren vom eigenen Leben zu neuen Erzählformen inspirieren, doch nie zuvor hat eine Technologie wie die Telekommunikation autobiografische Details automatisch in einer Form präsentiert, die man unverzüglich auf der ganzen Welt mitverfolgen kann. Von Jennicam bis Weliveinpublic.com ist die Privatsphäre zu einer Ware geworden, die man gegen künstlerisches Kapital feilbietet. Doch ist das einfache Installieren einer Videokamera, die einen bei den alltäglichsten Tätigkeiten aufzeichnet, bereits ein künstlerischer Akt? Wenn nicht, wie viel Sekundärbearbeitung – wie etwa die exakte tagebuchartige Text-und-Bild-Schnittstelle von Tanya Bezrehs NewCenturySchoolbook.com – ist notwendig, damit der Betrachter diese "Autobotografie" nicht bloß als voyeuristisch erlebt? Und was passiert mit den auf Interaktion basierenden Konstruktionen von Subjektivität? Welche Art von „Persona“ lässt sich durch einige vom Betrachter ausgelöste „Clicks“ in einem Web-Projekt entwickeln? Und schließlich: Aus was für Daten besteht die Erzählung eines Lebens? Die Tagebücher von Jason Pettus sind eindeutig ein autobiografisches Statement, doch wie verhält es sich mit seinen Auszügen aus den Romanen anderer Autoren? Mit den Videos von Poetry-Slams? Den Aufgabenbeschreibungen für eine Konferenz, die er zu leiten beabsichtigt? Den Rezensionen seiner Arbeit im Artbyte-Magazin? Was geschieht mit dem Genre, wenn die Daten, die früher einmal Primärquellen waren, sich nunmehr für das autobiografische Werk selbst qualifizieren? Offensichtlich stellen diese Autobotografien unsere Vorstellungen von Subjektivität, Autorschaft und Publikum aus der Zeit vor dem Internet in Frage. Ihr Verdienst als Kunst könnte dann einfach davon abhängen, mit wie viel Unbehagen sie uns in Bezug auf unser Selbstkonzept erfüllen und wie viele neue Formen des – virtuellen oder materiellen – „Daseins“ sie anbieten.

Kodierte Muse

Einige der renommiertesten Online-Künstler scheinen Cornelia Sollfranks Ausspruch „Wozu Kunst machen, wenn das eine Maschine für dich tun kann?“ beherzigt zu haben. John Simons Every Icon generiert systematisch jedes mögliche aus 32 mal 32 Bildpunkten zusammengesetzte Bild. Mary Flanagans Phage taucht ins Unbewusste des Computers ein, indem es wahllos in den hintersten Winkeln der User-Festplatten gespeicherte Texte, Klänge und Bilder aufruft. Und jodi.org haben den Code selbst zum Gegenstand und Medium ihrer Kunst erkoren. Viele dieser Experimente mit Software-als-Kunst verkörpern die „prozedurale“ Ästhetik, für die Judson Rosebush 1989 eintrat. Seiner Ansicht nach besteht das Ziel der Computerkunst darin, die kleinstmögliche Anzahl an Programmiercodezeilen mit der größtmöglichen Reichhaltigkeit und Bedeutung zu versehen. Doch wenn dies der Maßstab für ästhetischen Erfolg ist, wie beurteilen wir dann das Verdienst solcher Werke im Vergleich zu so bemerkenswerten Errungenschaften der Scientific Community wie dem Mandelbrot- Set, dessen einzeilige Formel eine erstaunliche Fülle an komplexen, iterativen Formen generiert? Wenn Kunst eine Frage der Intention ist, wie gehen wir dann mit der Erfindung eines Geometers um, der die Natur nachbilden möchte?

Wenn der Code das kreative Medium ist, müssen wir uns auch damit befassen, wo wir nach der Kunst suchen sollen. Sehen wir uns die Produkte an – Simons Icons oder Flanagans visuelle Gestaltung – oder befassen wir uns mit dem Code selbst – mit den von jodi.org sichtbar gemachten Programmieranweisungen? Das Medium mag die Message sein, aber wenn sich weder Medium noch Message auf transparente Kommunikation beschränken, ist das vielleicht ein Moment zum Innehalten, eine Einladung zur Reflexion.

Schließlich sind wir es gewohnt, im Arbeitsvorgang ein Verdienst zu sehen – wir suchen stets den Pinselstrich des Künstlers auf der Leinwand. Wenn Maschinen Kunst schaffen können, wer bzw. wo ist dann der Künstler? Ist es die Maschine, die mit ihrer Arbeit das Werk erschafft, oder der Programmierer, der die Anweisungen für die Maschine formuliert? Der Zuseher, der per Mausklick den kunstgenerierenden Code aktiviert, oder der Architekt des neuesten Betriebssystems? Wessen Arbeit schafft hier Kunst? Wie man sieht, ist die Muse kodierter Kunstwerke ebenso promiskuitiv wie inspirierend und treibt ihr Spiel mit vielen interagierenden Spielern zugleich.

Visuelle Poetik

Schon seit sich die kreative Praxis in der Einzelperson bündelt, gibt uns die Originalität des Künstlers Rätsel auf. Kann Shakespeare als Originalautor gelten, wenn die Handlungen seiner Historienspiele von Plutarch stammen? War Michelangelos Sixtinische Kapelle ein Original, wenn es bereits genügend Text- und Gemäldeversionen der Schöpfungsgeschichte gab, um sie zum Klischee werden zu lassen? Das Verschmelzen bekannter Themen im Dienste der neuen Technologien bot schon seit jeher die Möglichkeit, die Tauglichkeit des Neuen zu testen, ohne die Verknüpfung mit der Tradition aufzugeben. Ein Beispiel für eine derartige Verschmelzung von Alt und Neu ist John Cayleys Noth'rs, das frei schwebende Textstücke von Proust zu einem audio-visuellen E-Poem verschmilzt, die Worte aufbricht und neu arrangiert, während der Computer die Bits und Bytes laut „liest“.

Derartige Arbeiten werfen die Frage auf, ob die Technologie eine so kraftvolle Fehllektüre des Originals zulässt, dass neue Einsichten, eine neue Form der „Originalität“ entstehen. Dies gilt besonders für Hypertext-Arbeiten, die Anlehnungen bei traditionellen Drucktechniken nehmen, den Text jedoch oft in unzählige divergierende Richtungen fragmentieren, die bei jedem Lesen andere Versionen ergeben.

Hypertext lotet die Vorteile des Bildschirms gegenüber dem Kodex aus, indem er visuelle und auditive Elemente zum Zwecke des Geschichtenerzählens einsetzt. Shelley Jacksons Patchwork Girl stützt sich auf eine grafischen Abbildung des fragmentierten Körpers von Frankensteins weiblichem Monster und auf eine visuelle Patchwork-Metapher, um die Splitter ihrer Geschichte und ihres Subjekts „zusammenzuflicken“. Anspruchsvollere textuellvisuelle Hybriden arbeiten oft mit einem versteckten Strukturierungslevel – z. B. JavaScript (Loss Glaziers E-Poetry ) oder Flash (Judd Morrisseys The Jew's Daughter) –, der von den AutorInnen verlangt, sich nicht nur als BildkünstlerInnen, sondern auch als ProgrammiererInnen zu betätigen.

Barbara Kruger und Jenny Holzer haben die Grenzen der Kunst erweitert, indem sie Text zum visuellen Medium erklärten und zugleich durch Poster-Print-Kunst gewisse Auffassungen von Originalität in Frage stellten. Heute definieren HypertextautorInnen – sowohl die SchreiberInnen der Originaltexte als auch die LeserInnen, die die verschiedenen Versionen generieren – die Erzählung durch die Verbindung von Text und Bild, Klang und Interaktivität auf eine Weise neu, die die Trennlinie zwischen Schriftstellerei und Bildender Kunst verschwimmen lässt.

Die Neuerfindung der Community

Einige der ehrwürdigsten Lokalitäten für Online-Kreativität befinden sich außerhalb des Web. Seit den frühen Neunzigern posten KünstlerInnen und TheoretikerInnen textbasierte Kritiken und Projekte auf elektronischen Bulletin-Boards und E-Mail-Listservern und nehmen an Multi-User-Textumgebungen wie MUDs und MOOs teil. Die TeilnehmerInnen dieser improvisierten Communities haben spielerische, unvorhersehbare Wege zur Vermengung ihrer Subjektivitäten gefunden – vom gegenseitigen Parodieren von E-Mail-Accounts über den Identitätentausch auf der virtuellen Bühne bis zum Verkauf ihrer Avatare über eBay. Welchen legitimen Beitrag können diese spontanen Online-Performances jedoch zu einer Kunst leisten, die sich als nacherzählbare Geschichte von Künstlern und künstlerischen Bewegungen versteht, wenn das Erbe der Kreativität so kurzlebig ist und die persönliche Identität der TeilnehmerInnen so starken Schwankungen unterliegt? Wie ein Großteil der Internetkunst implizieren auch diese Arbeiten, dass Kunst nicht unbedingt einen Autor braucht. Um solchen Formen der Kreativität gerecht zu werden, bedarf es einer Alternative zur traditionellen Auffassung der Kunstgeschichte als Entwicklung von einer künstlerischen Strömung zur nächsten, bei der immer eindeutig fest steht, auf wessen Werk man aufbaut und wessen Werk man hinter sich lässt.

Wenn Solfranks Net Art Generator und jodi.orgs Code die Kunstproduktion übernehmen und wenn KünstlerInnen in virtuellen Gemeinschaften ihre Identitäten parodieren, tauschen und verkaufen, so wird die unbestrittene Verbindung zwischen Autor und Kreation, zwischen Künstler und Werk ausgedünnt. Und wenn ganze Online-Communities an der Herstellung eines gemeinsamen Werkes – von kollaborativen Architekturen wie Marek Walczaks und Martin Wattenbergs Apartment bis zu Multi-User-Spielen wie Ultima Online – beteiligt sind, so wird damit die Vorstellung der individuellen Autorschaft bis zum Äußersten strapaziert. Platon hielt Wissen für einen gesellschaftlichen Akt, das Denken selbst war für ihn eine Art Dialog. Wir könnten nun in eine Ära eintreten, in der wir zumindest von einem Teil unserer Künste fordern, dass sie in gewisser Weise gesellschaftlich interagieren bzw. einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Ohne den Input vieler Menschen, aber auch zahlreicher nicht-menschlicher Entitäten werden wir nie in der Lage sein, die Welten, die wir heute bewohnen, auf angemessene Weise zu beschreiben oder über sie zu reflektieren.

Polit-Design

Treffen Softwaredesigner und Politaktivisten aufeinander, so lassen sich die Ergebnisse oft schwer kategorisieren. ®™mark, ein Online-Clearinghouse, das Geld und Ressourcen an Menschen mit subversiven Ideen weiterleitet, sponsert Hacks gegen geschlechtspolitisch bedenkliche Computerspiele, stellt gefälschte Websites ins Netz, die angeblich amerikanische Präsidentschaftskandidaten repräsentieren, und lässt Ersatzvertreter der Welthandelsorganisation auf internationalen Konferenzen imperialistisches Gedankengut verbreiten. Täuschungsmanöver wie die von ®™mark sind gezielter als Jux-Aktionen, aber weniger bierernst als politische Kampagnen oder Untergrundbewegungen. Dennoch handelt es sich nicht um politische Kunst im engeren Sinne, etwa in der Tradition von Gericault oder Picasso, da ®™mark, anstatt Themen in einem Kunstkontext darzustellen, tatsächlich in der realen Welt interveniert und etwa die Aufmerksamkeit von CNN oder der WTO auf sich lenkt.

Diese Form des „Hacktivismus“ definiert sich letztendlich weniger als eindeutiger politischer Standpunkt oder Darstellungsmodus, sondern vielmehr über die Verwendung der globalen Telekommunikationsinfrastruktur zur Subversion genau jener Regierungs- und Unternehmerinteressen, die ursprünglich zur Schaffung dieser Infrastruktur führten. Doch da ®™mark sich mit so vielen Kategorien befasst, mag eine Beurteilung ihres ästhetisches Verdiensts oder ihrer langfristigen Relevanz schwierig erscheinen. Sollte das Ausmaß der tatsächlich erzielten Schwächung des globalen Kapitals als Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg herhalten? Oder die Aufmerksamkeit, die den Aktionen in den Medien gewidmet wird? Oder die Fähigkeit der Künstler, ihr Talent dem Zugriff der Großkonzerne zu entziehen und zu deren Kritik einzusetzen? Ganz eindeutig regen uns diese hacktivistischen Praktiken zum Nachdenken über Macht und Machtmissbrauch in unserer Kultur an. Sie geben uns aber auch die Mittel in die Hand, um auf Basis derartiger Überlegungen zu handeln. Wenn man Kunst danach beurteilen kann, ob und inwiefern sie uns dazu bringt, unsere Stellung in der Welt zu überdenken, was lässt sich dann über eine Arbeit sagen, die uns nicht nur zum Nachdenken bringt, sondern auch zum Handeln ermutigt?

Neukartierung des Internet

Die Herausforderung, den Cyberspace abzubilden, hat Menschen mit unterschiedlichen Ambitionen auf den Plan gerufen. Manche, wie der Forscher Bill Cheswick des Industrie-Thinktanks Bell Labs, verfolgen das wissenschaftliche Ziel zu verstehen, wie das Internet sich selbst reorganisiert, um Schäden zu umgehen. Andere, wie die Künstlergemeinschaft I/O/D, haben sich ein eher künstlerisches Ziel gesetzt: Sie wollen den Usern abseits der von kommerziellen Internetbrowsern definierten Page-Metapher einen Einblick in das seitenlose Web zu ermöglichen. Trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen sind die von beiden Projekten produzierten Abbildungen von erstaunlicher Schönheit und scheinen die Geheimnisse der Internetstruktur schon beim bloßen Anblick preiszugeben. Die Palette von I/O/D ist etwas zurückhaltender; ihre Arbeit wird regelmäßig bei Online-Ausstellungen und auf kunstbasierten Listservern zitiert, während Cheswicks Design eher dem Populärgeschmack entspricht und außerhalb einer kleinen Gemeinde von Telekommunikationsforschern kaum bekannt ist. Gibt es, wenn man die die Endprodukte vergleicht, irgendeinen Grund, weshalb das eine Kunst sein sollte und das andere nicht? Wie jedes gute Kunstwerk reflektieren beide Abbildungen die Welt nicht nur so, wie sie ist, sondern erschaffen vielmehr die von uns bewohnten – geografischen, religiösen, politischen – Welten. Aber welche Welten erschaffen diese virtuellen Abbildungen? Und wie sollen wir sie bewohnen?

Zeugung künstlichen Lebens

Mary Wolstoncraft Shelleys Frankenstein würde wohl niemand unter Wissenschaft statt unter Literatur einordnen, heute aber erscheinen Tom Rays und Karl Sims' Forschungsarbeiten zum Thema synthetische Organismen öfter in wissenschaftlichen Publikationen als in Kunstmagazinen oder Museen. Wie können wir angesichts der Tatsache, dass es – von Aristoteles bis zum Fotorealismus – schon immer Ziel der Kunst war, die Natur zu imitieren, diese Verwirrung erklären? Unter anderem damit, dass die Arbeit der beiden Evolutionsbiologen die natürliche und die künstliche Welt umspannt. Die algorithmischen Kreaturen in Rays virtuellem Bestiarium Tierra vermehren sich, wetteifern um Ressourcen und entwickeln sich nach den Prinzipien der natürlichen Auslese – kurz gesagt, sie tun fast alles, was auch organische Kreaturen tun. Dennoch sind sie virtuelle Wesen. Vielleicht hat Ray die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft überschritten, indem er tatsächlich versuchte, Leben zu erzeugen, statt es einfach abzubilden. Aber ist virtuelles Leben Kunst oder Natur?

Arbeiten, die eine so heiß umstrittene Grenze überbrücken, erinnern daran, dass die Trennlinie zwischen Kunst und Natur nie so streng war, wie wir hofften. Dennoch wird man eine solche Arbeit in keinem Museum und in keiner Galerie finden – sie „lebt“ online, wo ihre Kreaturen sich fortpflanzen, miteinander konkurrieren, sich vervielfältigen und uns die vielen gemeinsamen Geheimnisse der Schöpfung und des Lebens vor Augen führen.

Implosion, Zersplitterung oder Neudefinition

Werden sich die Grenzen der Kunst ausweiten, um diesen rivalisierenden Bemühungen Platz zu geben? Oder werden sie unter dem Gewicht einbrechen und die Kunst auf den esoterischen Handel mit fetischisierten Gebilden reduzieren? Manche meinen, dass die Kunstwelt Recht hat, wenn sie diese rivalisierenden, durch die neuen Technologien hervorgebrachten Formen von Kreativität zurückweist und sich auf traditionelle Medien und Bewertungsmechanismen – von Ölfarben bis Auktionshäusern – zurückzieht. Wenn sich Künstler und Kunstexperten jedoch auf ein überholtes Kreativitätsmodell verlassen, riskieren sie von den glänzenden Errungenschaften in anderen Bereichen in den Schatten gestellt zu werden. Anderen Meinungen zufolge ist das Feuer künstlerischer Kreativität erloschen und wir sollten die Kategorie Kunst daher gänzlich über Bord werfen – dieses Zukunftsszenario zeichnet etwa Bruce Sterling in seinem Roman Heiliges Feuer. Eine unglückliche Konsequenz dieser Reaktion ist, dass wir keine Gelegenheiten mehr haben für intensives Zuhören und kontemplative Versenkung – eine Praxis, die im Zeitalter der Informationsüberlastung für das freie Denken unverzichtbar ist. Doch weder die Theorie der Implosion noch die der Zersplitterung erklären die durch die neuen Technologien eingeleiteten radikalen Transformationen. Was wir heute miterleben, ist weder eine Implosion noch eine Zersplitterung der Kunst, sondern vielmehr eine seismische Instabilität entlang der Bruchlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Um diese Volatilität zu bewältigen, muss unsere Definition von Kunst auch für Beispiele kunstähnlicher Kreativität offen sein, die in Disziplinen ohne direkten Bezug zur Kunstgeschichte oder zum Kunstmarkt entstanden sind. Wie die oben untersuchten Genres nahe legen, könnten nach einer derartigen Definition traditionelle Fähigkeiten wie das Verdichten von Sinn, das Etablieren eines Autors und das Mitreißen des Publikums zu Gunsten neuer Kapazitäten wie dem Verknüpfen von Ressourcen, verteilter Autorschaft und Gemeinschaftsbildung an Bedeutung einbüßen.

Damit diese Neudefinition allerdings rigoros durchgezogen werden kann, muss sich unser Blick unvoreingenommen nicht nur auf Kreativität außerhalb, sondern auch innerhalb der Museumswände richten. Für jeden Wissenschafter, dessen Forschungen in den Rahmen einer verbesserten Definition von Kunst passen, könnte es einen Maler geben, dessen Ölgemälde nicht mehr als Kunst durchgehen. Weist man eine kontextuelle Definition zu Gunsten einer funktionellen zurück, so heißt das gleichzeitig, Dekor, Spekulationen über den Warencharakter von Kunst und als Kunst verkleidete Eigeninszenierungen über Bord zu werfen – ob sie nun gut in den Duchampschen Rahmen passen oder nicht. Jüngere Generationen von KunstkritikerInnen, KuratorInnen und PhilosophInnen können nicht mehr durch bloßes Hinsehen beurteilen, ob etwas Kunst ist oder nicht – außerdem sind ihnen die Einsichten und die Strenge verloren gegangen, die aus einer solchen Fall-für-Fall-Beurteilung folgen. Statt dessen haben sie blind die rein eigennützigen Bewertungsmechanismen der Galerien und Auktionshäuser übernommen, mit dem bedauerlichen Resultat, dass heute erstmals seit Jahrhunderten außerhalb der Kunstwelt mehr Kreativität herrscht als innerhalb. Es ist höchste Zeit für die Kunstwelt, Duchamps Umgehung der Frage, was Kunst sein kann und sollte, zurückzuweisen und die Antwort jenseits des eigenen Tellerrands zu suchen.