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Neverwake
Zum Roman von Tobias O. Meissner

'Andreas Puff-Trojan Andreas Puff-Trojan

„Virt“ und „Neverwake“ – das sind die zwei Begriffe, die sich wie ein roter Faden durch den jüngsten Roman des jungen deutschen Schriftstellers Tobias O. Meissner – neverwake – ziehen. „Neverwake“ ist eine Tatsache, wie Meissner dem Leser gleich zu Beginn klar macht:

„neverwake ist die vorherrschende geisteshaltung des einundzwanzigsten jahrhunderts"


Was heißt das? Meissner führt den Leser in ein 21. Jahrhundert, in dem kriegerische Konflikte nicht einfach durch medienspektakuläre Sportkämpfe ersetzt worden sind – man erinnere sich an den Film Rollerball! –, sondern Kampf, Krieg, Duell finden im Cyberspace statt. Es sind extrem brutale, mit virtuellen Waffensystemen ausgestattete Online-Spiele, für die die Spieler eigene Figuren designen und sie mit Charaktereigenschaften wie Körper- und Widerstandskraft, Schnelligkeit und Akrobatik, Waffenfertigkeit und Mut ausstatten. Und dann aber rein ins Vergnügen! Sechzehnjährige Computerfreaks nennen sich „Suicider“ und „Smugglerboy“ und versuchen, sich aus der untersten Kampf-Liga in die „V-League“ hochzuarbeiten. Das bedeutet stundenlanges Training pro Tag, Stunden um Stunden vor dem Bildschirm, Stunden um Stunden im Cyberspace, in der virtuellen Welt, die keine wirkliche Wirklichkeit mehr hereinlässt. Man ist im „Neverwake“ angelangt. Was man real ist, ist egal, in der Virtualität muss man weiterkommen, seine Spielleistung optimieren, um ein echter „Virt“ zu werden. „Virts“, das ist die Cybergemeinde, und ein „Virt“ ist ein Player, einer, der es noch weit bringen will. „Virt“, so der Autor im „Glossar“ zu seinem Buch, kommt von „virtual“, von „virtuosity“, aber auch von „virtue“. Die Tugend besteht darin, den Cyberspace als die eigene, als die eigentliche Welt anzuerkennen. So setzt sich die Gemeinde der „Virts“ zusammen aus „cyberspacejunkies“, „online-outcasts“, „computerspielgladiatoren“, „netzwerknomaden“. Sie alle kämpfen tagtäglich, um – koste es, was es wolle! – in die „VLeague“ zu kommen: Dort spielen die Meister, dort werden die Duelle life übertragen, dort winkt Geld und Ruhm, dort wird man zum star for one game. Die Meister sind aber in der Regel nicht viel älter als die Computerkids, die gerade erst am Anfang ihre Karriere stehen. Mit spätestens dreißig hat man ausgespielt, ist ein psychischen Wrack, das eben in der Echtzeit der Arbeitswelt wenig Chancen hat. Denn für die „Virts“ gilt:

Schule war seit Einführung der Schulgebühren bei den Abkömmlingen sozial schwächerer Familien mächtig aus der Mode gekommen. Außerdem: Wer brauchte schon eine klassische Für-den-Arsch-Bildung, wenn er es als Virt im wahrsten Sinne des Wortes spielend zu Ansehen und Anwesen bringen konnte?


Nur die Senior-Players, die ausrangierten Virts, die über dreißig, wissen, dass die Verheißungen vom schnellen Geld im Cyberspace virtueller Trash sind. Einer wie Otis Esch weiß es, und dennoch kann er nicht aufhören zu spielen. Als mittelklassiger Drittligist schlägt sich dieser Virt von Kampf zu Kampf und verdient sein Geld als virtueller Sparringpartner für die Stars von morgen.

Da erhält Esch einen höchst seltsamen Auftrag. Eine Computerfirma hat ein völlig neuartiges Spiel entwickelt, ein Spiel, das seine virtuellen Welten durch Rückkoppelungen mit dem Gehirn des jeweiligen Spielers generiert. Die erste Version hat der legendäre Virt-Altmeister Laurence Tader getestet. Nur, Tader ist in Wirklichkeit nicht mehr aus dem Cyberspace zurückgekehrt: Sein Körper liegt im Koma, doch sein Geist spielt weiter und weiter. Esch soll nun Tader in die virtuelle Spielwelt nachreisen und ihn zurückholen. Der Versuch gelingt auch, Esch und Tader begegnen einander in der Virtualität, sie sprechen miteinander und der Super-Virt Tader gibt eines klar zu erkennen: Da sein Körper in der sogenannten Wirklichkeit künstlich ernährt wird, kann er im Cyberspace weiter und weiter spielen, er kann von Level zu Level aufsteigen, in ungeahnte Cyber-Galaxien vorstoßen, gegen immer unberechenbarere Gegner kämpfen, ein Kampf der nie-nie-nie enden wird. Hier, in diesem Spiel, ist Tader, wie er selbst sagt, „im Himmel“ angelangt. Hasta la vista, Baby! Und so kehrt bloß Esch in die Wirklichkeit zurück. Esch ist selbst als Virt noch Realist genug, um zu wissen, was er eben erlebt hat:

Ich habe heute das Paradies gesehen und es war die Hölle.


Tobias O. Meissner gelingt in seinem Buch neverwake Erstaunliches: Die Sprache und die Sprach-Bilder, die er im Text vorführt, sind ganz nahe dran am Trash-Vokabular der Cyberkids. Und doch wird die Faszination der virtuellen Spielwelten bis ins letzte Detail vermittelt. Man spürt beim Lesen, wie stark diese Droge wirkt, besser gesagt, wie sie wirken könnte, in einer nahen Zukunft, in der eine vernetzte Welt eine unendliche Anzahl von Cyberspielwelten online schalten könnte. Und durch die wirkliche Welt, wie sie im 20. Jahrhundert war, wie sie jetzt ist und wie sie wohl auch weiter sein wird, haben wir verdammt schlechte Karten in der Hand, um den Virts von morgen – also unseren Kindern – zu erklären, weswegen das Abtauchen in den Cyberspace schädlich sei. „Neverwake“ könnte tatsächlich eine der vorherrschenden Geisteshaltungen in der Zukunft sein.

Der Roman neverwake Thomas O. Meissner ist 2001 bei Eichborn/ Berlin erschienen.