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Wahrnehmungsphänomene bei Computerspielen


'Tobias O. Meissner Tobias O. Meissner

Das Phänomen der Wahrnehmung von Zeit

Wer virtuelle Formel-1-Rennen bestreiten will, beginnt in der Regel mit 10-Runden-Rennen, steigert dann auf Halbe Strecke (etwa 30 Runden in vierzig Minuten) und schließlich auf Ganze Strecke (ein volles Rennen über 60 bis 70 Runden mit der abendfüllenden Spieldauer von anderthalb Stunden). Fährt man Ganze Strecke zum ersten Mal, kommt einem die Anforderung unmenschlich vor. Spätestens nach vierzig Runden wird man müde, alles verschwimmt vor den Augen, Schmerzen treten auf im Rücken und in den Fingern. Nach mehreren Rennen hat man sich daran gewöhnt. Nach einer kompletten Saison kommt einem alles andere als Ganze Strecke inakzeptabel vor. Monate später spielt man dann zum ersten Mal ein NASCAR-Rennen. Diese Stock-Car-Rennen dauern doppelt so lange wie Formel-1-Rennen: geschlagene drei Stunden. Die anderthalb Stunden der Formel l schrumpfen zusammen zum heiteren Quickie. Schließlich gibt es dann noch die 24 Stunden von Le Mans. Irgendwann dann eine komplette Rallye Paris-Dakar. Zeit ist relativ. Die Leistungsgrenzen sind es auch. Darüber hinaus vergeht Zeit schneller, während man spielt. „Was? Schon fünf Stunden um? Ich hatte weder Hunger noch Durst. Wo ist die Zeit hin?“ Konsequenter Eskapismus. Ein Versuch noch. Dann noch einer. Noch einer. Der allerletzte. Der wirklich allerletzte. Aber jetzt aufzuhören wäre dumm, denn man ist doch gerade im Fluss.

Das Phänomen der Wahrnehmung von Schwierigkeit

Der Übung-macht-den-Meister-Effekt. Zeitlimits oder Geschicklichkeitstests, die am Anfang unüberwindlich scheinen, geraten mit der Zeit immer mehr in Reichweite. Schließlich scheitert man mehrmals nur noch knapp, kommt aber jedes Mal mühelos weiter als bei den ersten fünf Versuchen. Das Geschehen und man selbst verlagern sich auf immer höhere Niveaus. Was vorher schwer war, ist nun leicht. Was vorher leicht war, ist wieder schwer, nachdem man ein paar Wochen aus der Übung ist. Der Anfang und das Ende berühren sich immer.

Das Phänomen der Wahrnehmung von Details

Man beginnt selektiv zu sehen. Ein Spiel kann noch so reich an Texturen, Tapetenmustern und Objekten sein – wenn einem als Teil eines Rätsels ein Gegenstand fehlt, den man in eine sternförmige Öffnung einpassen muss, nimmt das Auge kaum noch etwas wahr außer ungefähr sternförmige Gegenstände. Im wirklichen Leben ist das Sinnesangebot viel zu vielfältig, als dass man dermaßen wählerisch vorgehen könnte. Das Computerspiel jedoch erlaubt diese Einengung der Sehweisen und bestraft sie nicht nur nicht, sondern belohnt sie sogar. Man sieht alles gleichzeitig und dennoch nur das wenige Wichtige.

Beim Rennenfahren gibt es den Tunnelblick. Man nimmt kaum noch etwas wahr außer dem direkt vor einem liegenden Fahrbahnabschnitt. Bei Adventures mit Erkundungsaspekt gibt es einen erweiterten Blick. Alle Details werden gescannt, aber die Hintergründe werden schon im Gehirn von den interaktiven Objekten getrennt, so dass man sich unsinnige Laufereien sparen kann. Man nimmt alles wahr, mehr sogar, als man in der Realität wahrnehmen würde, denn in der Virtual Reality ist ja nichts zufällig, alles kann von Bedeutung sein. Nein: Alles ist von Bedeutung. Die Bedeutung der bedeutungslosen Elemente ist es, die bedeutsamen zu tarnen.

Das Phänomen der Halluzinationen

Manchmal sieht man beim Computerspielen etwas, das gar nicht da ist. „Ist das da vorne ein anderer Rennwagen, hinter dem ich herfahre, oder handelt es sich lediglich um den grafischen Aufbaueffekt der Randbebauung? Hat sich dort etwas bewegt oder war das nur ein Flackern in der Grafik? Ist das ein Gesicht dort in den Felsen oder nur ein Schattenspiel?“

Da alle virtuell dreidimensionalen Gelände in Wirklichkeit nur plane Grafik sind, kann es zu optischen Missverständnissen kommen. Ein heller Bereich neben der Straße kann entweder der nach hinten fliehende weitere Verlauf der Straße sein oder eine aufwärts führende Felsböschung neben der Straße. Im ersten Fall fährt man weiter, im zweiten Fall kracht man gegen Gestein, weil man glaubt, etwas anderes als Gestein gesehen zu haben. Ein dunkler Bereich in einer Felswand kann entweder ein Höhleneingang sein oder lediglich der Schatten einer überhängenden Felsnase. Im ersten Fall ist dies unter Umständen der einzige Ausweg, der einem noch bleibt, im zweiten Fall vergeudet man Zeit, Energie und Gesundheit damit, dorthin zu klettern, weil man glaubt, etwas anderes als Gestein gesehen zu haben.

In William Gibsons großteils in der Computermatrix angesiedeltem Neuromancer-Universum spielt Voodoo zu Recht eine bedeutsame Rolle. Wenn das Spiel anfängt, seine eigenen Geisterbilder zu profilieren, ist dem freien Assoziieren kein Riegel mehr vorgeschoben. Wenn das Virtuelle seine eigenen Gerüchte, Lügen und Märchen generiert, dann wird es der Wirklichkeit dermaßen ähnlich, dass eine Unterscheidung kaum noch einen Sinn ergibt.

Das Phänomen der Übersetzung

Man nimmt Sehgewohnheiten aus Computerspielen mit in die Realität. Verschachtelte Fabrikgebäude mit umlaufenden Treppengängen und außen an Wänden angebrachten Leitern werden unter dem Aspekt der möglichst schnellen und unbemerkten Erkundung betrachtet. Die mit Regalen verstellten Areale von Kaufhäusern werden auf ihre Tauglichkeit für Shooter- Szenarien oder auf ihre Jump'n'Run-Bekletterbarkeit hin untersucht. Beim Fahren auf der Autobahn überlegt man, mit welchen Lenkmanövern man sich bei dreihundert Stundenkilometern einen Weg an den anderen Verkehrsteilnehmern vorbei bahnen könnte. Ein Junge lehnt an einem Fensterrahmen und murmelt: „Den da unten auf der anderen Straßenecke könnte ich mit einem dieser Lasergewehre aus diesem Spiel gerade noch erwischen.“

Die Realität wird aufgerastert, schärfer konturiert und in Hinsicht auf ihren Deckungs- und Reichweitengehalt bewertet. Alles Empfindbare wird zur Aktionszone, zum Abenteuerspielplatz. Potenzielle Straftäter sehen so die Welt, aber auch alle kreativen Menschen sehen so die Welt. Alle Autoren und alle Computerspielprogrammierer haben die Welt als Abenteuerspielplatz gesehen und anschließend versucht, ihre hastigen Notizen zu vermitteln.

Das Phänomen des Hinter-den- Spiegel-Sehens

Wenn der Spieler bei seinen Spielentscheidungen das Programmatische des Programms mitberücksichtigt, dann lüftet Dorothy jedes Mal den Vorhang des Zauberers von Oz. „Nein, es wäre Blödsinn, wenn ich erst wieder durchs ganze Landhaus zurücklaufen müsste. Der nächste relevante Ort ist sicherlich in der Nähe."

„Ich habe jetzt die eine Hälfte des Amulettes gefunden, die andere Hälfte muss hier auch irgendwo sein.“

„Hier liegen so viele Heilpakete herum, die werde ich bald brauchen.“

„Wenn hier in unmittelbarer Nähe des Finales so viel Munition für den Raketenwerfer zu finden ist, ist der Raketenwerfer die beste Waffe gegen den Endgegner."

„Wenn ich diese drei Knöpfe drücke, schiebt sich der Altar zur Seite, denn woanders geht es ja nicht mehr weiter.“

Je mehr Computerspiele man bereits gespielt hat, desto leichter fällt es einem, das erzählerische Wenn-Dann-System eines Spieles zu durchschauen. Dieses Wie-der-Programmierer- Denken erleichtert einem das Vorankommen und trübt nicht den Spielspaß, sondern bestätigt das eigene analytische Denken.

Es gibt aber auch von den Programmierern unerwünschte Effekte, die ein Spieler sich entweder selbst hinwegrechnet (z. B. Slowdowns beim Grafikaufbau) oder die er sogar nutzen kann (Grafikfehler, die einen durch geschlossene Türen hindurchsehen lassen). Meistens gehorchen diese Fehler-Effekte eigenen Parametern. Selbst eine Berechnungsverzögerung in einem hektischen Sportspiel tritt immer an derselben Stelle auf und kann vom Spieler in seine Aktionsstrategien miteinbezogen werden.

In einem solchen Fall wird der Spieler zum Subjekt einer Meta-Realität oder, genauer, einer Meta-Realitäts-Dreieinigkeit: die des Spieles an sich, die des Spieles inklusive seiner technischen Unzulänglichkeiten, und die, dass alles nur ein Spiel ist und ein Abschalten des Computers einen Rückweg in die wirkliche Welt darstellt.

Im Zeitalter der Virtualisierung von Freizeit ist Dorothy nicht einfach mehr nur ein neugieriges Kind. Sie hat die Charakterzüge eines Deep Blue angenommen, dem fortgeschrittensten Schachcomputer, den es zur Zeit gibt.

Die Spieler nehmen Zeit anders wahr.

Sie nehmen Schwierigkeiten anders wahr.

Sie sehen neuartige Details, sie halluzinieren und sehen Gespenster, sie transponieren in andere Daseinsebenen und blicken wie selbstverständlich hinter den Spiegel der ihnen zugewiesenen Rolle im Gesamtgefüge.

Sie sind Kinder, Greise, Maschinen und Abstraktion, alles gleichzeitig.

Aber sie sind all dies meistens nur nach innen, denn ihnen fehlt die Fähigkeit oder das Interesse daran, sich zu artikulieren.

Sie werden selbst zu Spiegeln, hinter die zu sehen andere dann lernen müssen.

Beate Geissler und Oliver Sann haben seit Anfang 2000 sogenannte „Lan-Events“ (Lan = local area network) veranstaltet, also Netzwerke, die ähnlich einer Versuchsanordnung aufgebaut sind. Ausgewählte Spieler aus Chat-Channels wurden für Aufnahmen eingeladen. Sie kommen aus unterschiedlichen Berufssparten und sozialen Hintergründen. Die vorliegenden Aufnahmen zeigen einen Ausschnitt der fotografischen Arbeit. Die Titel der Bilder setzen sich zusammen aus den Namen, die sich die Spieler selbst gegeben haben, und der Pulsfrequenz des einzelnen Spielers im Augenblick der Aufnahme.