www.aec.at  
Ars Electronica 2001
Festival-Website 2001
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Digital Shanachies


'Nora Barry Nora Barry

In einem wunderbaren Essay über das Geschichtenerzählen geht die Autorin A. S. Byatt auf die Märchensammlung Tausendundeine Nacht ein, deren grundlegende These darin besteht, dass Scheherazade, die Erzählerin, ihre erste Geschichte am Vorabend ihrer geplanten Hinrichtung zu erzählen beginnt. Ihre Erzählung fesselt den Sultan so sehr, dass er Scheherezade am Leben lässt, um zu erfahren, wie es weitergeht. In der darauf folgenden Nacht ersinnt Scheherezade eine weitere, ebenso spannende Geschichte, und wieder wird ihr Leben verschont. Drei Jahre lang hält sie sich buchstäblich durch Geschichtenerzählen am Leben. Ich liebe diesen Essay, weil er in meinen Augen unseren inneren Drang zum Geschichtenerzählen hervorhebt.

Das Faszinierende am Geschichtenerzählen ist, dass sich die Geschichte verändert, je nachdem wie man sie erzählt. Eine Gutenacht-Geschichte, die Vater oder Mutter ihrem Kind erzählen, unterscheidet sich von dem Buch, das das Kind alleine liest, aber auch von der Filmversion derselben Geschichte. Auf vielerlei Art liegt die Geschichte selbst in der Erzählform begründet. Der amerikanische Autor und Regisseur John Sayles schrieb, dass ihm Geschichten in einer prädestinierten Form einfallen, in der jeweils adäquatesten Erzählform: manchmal als Drehbuch, dann wieder als Sitcoms oder Theaterstücke. Dabei handelt es sich um völlig eigenständige Formen, die durch das Medium, in dem sie präsentiert werden, und die diesem Medium zugrundeliegende Technologie geprägt sind. Dies gilt ganz besonders für das Kino – immer schon war die (Erzähl)Form eines Films von der Technologie geprägt, angefangen von den ersten Stummfilmen über den Farbfilm bis zu den digitalen Filmen der heutigen Zeit. Mit jedem Schritt hat die Technologie die jeweilige Erzählung mitgestaltet. Dies gilt in gleichem Maße für Internet-Filme. Ihre Form ist dadurch beeinflusst, dass das Internet ein digitales, interaktives, Upstream/Downstream-Medium ist, wodurch sich der Internet-Film grundlegend vom Kinofilm unterschiedet.

Die grundlegenden Unterschiede zwischen
WebCinema und traditionellem Kino
Das Zusammenspiel von Internet und Geschichtenerzählen und die damit einhergehende Erschaffung einer neuen Form von Kino lässt sich in vier grundlegende Bereiche gliedern: 1. Vorführumgebung / 2. Ästhetik / 3. Verhältnis der Erzähler zu ihrer Geschichte / 4. Narration
1. Die Vorführumgebung
Internetfilme werden in einem gänzlich anderen Umfeld konsumiert als traditionelle Kinofilme oder auch Fernsehfilme. Statt mit hundert anderen Zuschauern in einem großen, abgedunkelten Kinosaal bzw. mit der Fernbedienung auf dem Sofa zu sitzen, sitzt der Zuseher hier am Schreibtisch, nach vorne gelehnt, und drückt sich beinah die Nase am Bildschirm platt. In dieser Position kann man sich kaum 60 bis 90 Minuten konzentrieren; daher sind Internetfilme zwangsläufig noch viel kürzer als herkömmliche Kurzfilme. Durch die optische Nähe wird die Geschichte selbst verkleinert, oftmals auch intimer, und es ergeben sich neue Handlungsstränge.
2. Die Ästhetik
Auch die Ästhetik hängt hier von Parametern wie Bildschirmgröße und Netzwerktechnologie ab. Das ist vielleicht mit ein Grund für die enorme Beliebtheit des Flash-Formats im Web. Doch für die Bereiche digitales Video (DV) bzw. digitaler Film müssen die Kader anders gestaltet sein, was die Darstellung körperlicher Bewegung etwas verlangsamt. Epen wie Lawrence von Arabien funktionieren hier nicht – der Bildschirm lässt zu viel Information unter den Tisch fallen. Action-Abenteuer eignen sich auch nicht besonders, da das Netzwerk die Action in geradezu schmerzlicher Zeitlupe wiedergibt. Für einige der erfolgreichsten Internetfilme wurde die Kamera tatsächlich fix montiert und die Akteure bewegten sich innerhalb eines starren Bildausschnitts.
3. Die Beziehung der Erzähler zu ihrer Geschichte
Was mich an der Technik des Geschichtenerzählens im Web am meisten fasziniert ist, dass hier zahlreiche Parallelen zur alten Kunst der mündlichen Überlieferung festzustellen sind. Die mündliche Überlieferung war ein extrem fließendes, interaktives Medium, bei dem der Erzähler sowohl Form als auch Richtung der Erzählung oft in Echtzeit verändern konnte. Auch den Ausgang der Geschichte konnte er gänzlich in Eigenregie bestimmen, es gab keine vorgelagerten Schichten – keine Redakteure, Kameraleute, Verleger – zwischen ihm und seiner Zuhörerschaft. Dasselbe gilt auch vielfach für Filmemacher im Web. Digitales Video and Desktop-Editing ermöglichen es ihnen, alles im Alleingang zu machen, ohne großes Team, sodass die Erzählung von einer einzigen Stimme geprägt ist. Durch die Interaktivität des Web ist ein direktes Feedback seitens des Publikums möglich, sodass die Form der Geschichte auf Basis der Zuschauerreaktionen abgeändert werden kann.
4. Die Narration
Im Unterschied zu traditionellen Medien zwingt das Internet den Erzähler nicht, sich auf eine einzige erzählerische Struktur zu beschränken. Diese Technologie eröffnet eine Reihe narrativer Möglichkeiten, einschließlich interaktiver, nicht linearer und herkömmlicher klassischer Erzählweisen. Für manche ist die Kommunikation im Internet selbst schon Narration – so würde aus Interaktion eine neue Erzählform geschaffen, was durchaus der Fall sein könnte.
Neue Formen der Narration im Web

a) Interaktive Narration
Hierzu gehören im Wesentlichen zwei Arten interaktiver Filme: zum einen die vorwiegend lineare Präsentation einer Geschichte, wo man entweder gewisse Dinge erreichen muss, bevor man zum nächsten Punkt gelangt, oder wo die Interaktion jeweils am Ende einer einem Kapitel vergleichbaren Sequenz stattfindet. Hier entscheidet der Zuseher dann, ob die Handlung in Richtung A oder B weitergehen soll. In beiden Fällen überträgt der Erzähler dem Zuschauer eine kontrollierte Anzahl an Auswahlmöglichkeiten, doch folgen alle diese Möglichkeiten im Wesentlichen dem allgemeinen Handlungsbogen. Die zweite Form interaktiver Narration ist eher eine Rahmenerzählung, bei der der Zuseher völlig frei entscheiden kann, wo die Geschichte beginnen und aufhören soll. Rahmenerzählungen dienten oft dazu, eine Reihe höchst unterschiedlicher Geschichten durch eine gemeinsame Klammer zusammenzuhalten. Boccaccios Dekameron kann hier ebenso als Beispiel gelten wie eben Tausendundeine Nacht. Die Rahmenhandlung bildet den Hintergrund bzw. Kontext für die einzelnen Geschichten, die in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden können. Entscheidend ist, dass sie alle durch den gemeinsamen Rahmen zusammengehalten werden. Das Internet selbst eignet sich ganz besonders für diese Form. Als Rahmen stellt der Filmemacher eine Rubrik „Über diesen Film“ auf eine Homepage und stellt dann ein Menü mit Kurzvideos zur Auswahl. Der Betrachter kann selbst bestimmen, was er wann sehen will und hat die völlige Entscheidungsfreiheit über Anfang, Mitte und Ende der Geschichte. Abgesehen davon, dass der Betrachter so größere Autonomie genießt, hat auch der Filmemacher größere Freiheiten, da er über einen längeren Zeitraum hinweg noch Szenen einfügen kann, ohne jedes Mal den ganzen Film neu schneiden zu müssen.
b) Datenbank-basierte Narration
Eine populäre Literaturtheorie besagt, dass es auf der Welt nur eine beschränkte Anzahl an Geschichten gibt und dass sich diese nur darin unterscheiden, wie sie erzählt werden. Märchen und Sagen sind perfekte Beispiele für diese Theorie. Die Handlung vieler Märchen kann man – erfreulicherweise – oft sofort wiedererkennen. Doch jede Kultur, jede Generation fügt der ursprünglichen Geschichte ein neues Element hinzu, wodurch eine neue Version der Geschichte entsteht. Cocteaus berühmte Erzählung Die Schöne und das Biest geht eigentlich auf den altgriechischen Mythos Cupido und Psyche sowie auf die norwegischen Erzählungen „Östlich der Sonne, westlich des Monds“ aus dem 19. Jahrhundert zurück. Durch ständiges Wiedererzählen bleibt die Geschichte zugleich frisch und bietet immer wieder neue Aspekte. Genau das passiert in Internetfilmen, die in der Tradition der Datenbank-basierten Narration stehen.
c) Weitererzählen
WebCinema auf Basis des Weitererzählens zählt zu den interessantesten Produkten dieser Internettechnologie. Es handelt sich dabei um die leicht erweiterte elektronische Version des Kinderspiels „Stille Post“, wo eine Person sich eine Geschichte ausdenkt, diese der nächsten Person ins Ohr flüstert, welche die Geschichte dann in abgeänderter Form der nächsten Person ins Ohr flüstert, usw. Zum Schluss wird die Endfassung laut vorgetragen. Sie unterscheidet sich oft beträchtlich von der ursprünglichen Version. Das Weitererzähl-WebCinema funktioniert sehr ähnlich: Ein Filmemacher arbeitet die erste Episode bzw. das erste Kapitel eines Films aus und stellt diese(s) sodann ins Netz. Teilnehmer auf der ganzen Welt können selbst mit eigenen Videos neue Kapitel hinzufügen oder dem Filmemacher Vorschläge für mögliche Handlungsstränge mailen.
d) lineare Kurzfilme
Lineare Kurzfilme im Internet sind vielleicht am ehesten mit der klassischen Narration vergleichbar. Es wird eine lineare Erzählform gewählt, die Geschichte wird jedoch in einer viel kürzeren Zeitspanne erzählt. Solche Web-Kurzfilme sind oft dramatische oder humorvolle Momentaufnahmen bzw. Stummfilme, in denen die Story von bewegten Bildern und vom Soundtrack getragen wird.
Verschiedene Genres des WebCinema

Mit der fortschreitenden Entwicklung des WebCinema haben sich einzelne Genres herausgebildet, von denen einige das traditionelle Kino reflektieren, während andere für dieses Medium einzigartig sind. Am leichtesten wiedererkennbar sind wahrscheinlich Witzfilme. Sie sind oft sehr kurz und werden normalerweise in Flash erstellt. Witzfilme sind das optische Äquivalent einer Pointe oder eines Scherzes. Sie sind leicht zugänglich und werden daher in einem furiosen Tempo per E-Mail über die ganze Welt verbreitet. Als weiteres Genre lässt sich der – wie ich ihn nenne – impressionistische Film festmachen. Impressionistische Filme gleichen vertonten Gemälden. Sie bestehen hauptsächlich aus bewegten, mit Originalmusik unterlegten Farben oder Bildern. Manchmal basieren die Bilder auf Flash, manchmal handelt es sich um digitale Videos in einem an den Experimentalfilm angelehnten Stil. Ein drittes populäres Genre sind die Life Stories, die mit von Ich-Erzählern präsentierten Kurzgeschichten vergleichbar sind. In einer Life Story sitzt der Erzähler normalerweise entweder direkt vor der Kamera und spricht direkt zum Zuseher oder er verwendet eine Voice-Over-Technik. Aufgrund der Intimität der Vorführumgebung sind Life Stories oft höchst persönlich und sehr erfolgreich.
Warum WebCinema?
Ich initiierte „The Bit Screen“ als Labor für filmisches Online-Geschichtenerzählen. Es handelte sich um ein persönliches Experiment, bei dem ich mir nicht sicher war, auf wieviel Aufmerksamkeit es stoßen würde. Ich startete die Site, indem ich ein paar Freunde anrief – FilmemacherInnen, DrehbuchautorInnen, TrickzeichnerInnen – und sie fragte, ob sie sich nicht überlegen wollten, was für eine Art Film sie für dieses neue Medium machen könnten. Zu dem Zeitpunkt, als ich meine Site einrichtete, waren Streaming-Videos noch ein sehr neues Medium. Die meisten Menschen benutzten 19.2er Modems auf Geräten der 486er Klasse, um auf das Web zuzugreifen, und Real Video existierte in Version 2.0. In drei kurzen Jahren verwandelte sich das Internet von einem Medium, auf das man durch Einwählen über das öffentliche Telefonnetz zugreift, zu einer Vielzahl von Medien, deren Möglichkeiten von langsamen Drahtlosverbindungen bis zu satellitengestützten Breitbandübertragungen reichen. Und mit jeder Variante, jeder neuen Version der Internettechnologie entstand eine neue Form des Geschichtenerzählens.

Doch unabhängig davon, wie breit das Übertragungsspektrum des Internet tatsächlich ist, wird es dennoch noch lange dauern, bevor man tatsächlich einen Spielfilm in voller Länge und guter Sendequalität über das Netz übertragen kann ... und sich diesen Film tatsächlich auf dem Computermonitor ansieht. Dennoch steht es außer Frage, dass WebCinema genau in diese Richtung läuft. Weshalb würde aber ein Filmemacher Web-basierte Geschichten erzählen wollen? Warum sollte er das Internet nicht als eine, wenn auch inadäquate, Plattform zur Vorführung von Erzählfilmen nutzen und darauf warten, bis weltweit Breitbandübertragungen in Hochgeschwindigkeit möglich sind? In einem Interview vor einigen Jahren meinte Bernardo Bertolucci, das Kino sei heute in seinen Augen "très fatigué". Meiner Ansicht nach hat er damit gemeint, dass kaum noch experimentiert wird. Die frühen Filmemacher haben sehr viel experimentiert; später jedoch legte man sich auf das linare 90-Minuten-Format fest und seit 70 Jahren entstehen mehr oder weniger alle Filme nach diesem Strickmuster. Doch das Internet gibt uns die Möglichkeit, neue Formen, eine neue Struktur zu schaffen und gleichzeitig über unsere derzeitigen Grenzen hinauszugehen, was das Wesen des Filmemachens nur bereichern kann. Wieso auch nicht? Je mehr wir experimentieren, umso mehr finden wir heraus. Sehen Sie sich die frühen Filme der Brüder Lumière an: Da finden wir einen ausgeprägten Sinn für das Entdecken, eine echte Begeisterung. Dasselbe Gefühl des Entdeckens und Experimentierens habe ich bei den Filmen in The Bit Screen. Und wie bei den Filmen der Brüder Lumière kann man auch hier beobachten, wie eine neue Filmsprache entsteht: eine Sprache, die bereits in herkömmlichen Kinofilmen verwendet wird, wie etwa in Time Code, Lola rennt und sogar Die Bettlektüre (The Pillow Book), wo man überall – optisch wie narrativ – die Sprache des WebCinema erkennt. Meiner Ansicht nach ist es wichtig, neue filmische Stoßrichtungen zu unterstützen – und diese Richtungen werden derzeit eben von Web-Filmen und Web- Filmemachern vorgegeben.

Ebenso wichtig ist vielleicht, dass sich im Web auch der Einzelne Gehör verschaffen kann. Märchenforscher haben mehr als tausend Versionen des Märchens vom Aschenputtel nachgewiesen, doch die meisten Kinder kennen heute nur die Disney-Version Cinderella, da Disney nicht nur die Produktion von Kinderfilmen, sondern auch von Kinderbüchern und –musik dominiert. Die Großkonzerne überwachen unseren Zugang zu Geschichten, die in der Zeitung, im Kino, im Fernsehen und in Büchern erzählt werden – nicht jedoch im Internet. Somit haben wir hier die Chance, ohne Einschränkung tausende Geschichten zu empfangen und weiterzugeben bzw. neue in Umlauf zu bringen und so die kulturelle Vielfalt und, wer weiß, vielleicht – ähnlich wie Scheherezade – sogar uns selbst am Leben zu erhalten.