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SymbioticA, das kollaborative Forschungslabor für Kunst und Wissenschaft


'Oron Catts Oron Catts / 'Stuart Bunt Stuart Bunt

Was ist SymbioticA?

SymbioticA ist ein Forschungslabor mit Sitz am Institut für Anatomie und Humanbiologie der University of Western Australia, das sich aus künstlerisch-humanistischer Perspektive mit wissenschaftlicher Erkenntnis im Allgemeinen, speziell aber im Bereich der Biotechnologien, auseinandersetzt. Es ist die erste Forschungseinrichtung, die Künstlern Gelegenheit gibt, sich auf einem biowissenschaftlichen Institut praktisch mit Biotechniken zu beschäftigen. Die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen speziell in den Life Sciences haben tief greifende Auswirkungen auf die Gesellschaft, ihre Wert- und Glaubensvorstellungen sowie ihren Umgang mit Individuen, Gruppen und der Umwelt. Die Zusammenarbeit von Kunst, Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft wird international als wesentlicher Innovationsmotor und Erfindungsantrieb und als Möglichkeit zur Erforschung, Entwicklung und Kritik möglicher Zukunftsszenarien gesehen. Wissenschaft und Kunst erklären die uns umgebende Welt auf ihre jeweils eigene Weise und können sich gegenseitig ergänzen. Künstler können als wichtige Katalysatoren für kreative und innovative Entwicklungen fungieren. Es besteht also ein Bedarf danach, dass sich KünstlerInnen und Fachleute aus den Humanwissenschaften an der Untersuchung der potenziellen und hinterfragbaren Zukunftsszenarien, die sich aus den genannten Entwicklungen ergeben, beteiligen.

SymbioticA bietet den Rahmen für eine solche interdisziplinäre Forschung sowie andere wissens- und begriffsbildende Aktivitäten und gibt ForscherInnen die Möglichkeit, unabhängig von den Anforderungen und Beschränkungen des gegenwärtigen Kultur- und Wissenschaftsbetriebs rein von Neugierde geleitete Untersuchungen durchzuführen. SymbioticA ermöglicht ferner neue künstlerische Fragestellungen, bei denen KünstlerInnen aktiv mit den Werkzeugen und Techniken der Wissenschaft arbeiten – nicht nur um sie zu kommentieren, sondern auch um ihre Möglichkeiten auszuloten.

SymbioticA nimmt Studierende und Absolventen aller Fachrichtungen, KünstlerInnen wie WissenschaftlerInnen in diese interdisziplinären Forschungsteams auf, die innovative Wege in den neuen Technologien beschreiten und deren potenzielle gesellschaftlichen Auswirkungen erkunden. Das Programm bietet KünstlerInnen Zugang zu einer Fülle wissenschaftlicher Materialien und Verfahren. SymbioticA ist als ein sich offen entwickelndes Zentrum für künstlerische Untersuchungen konzipiert, das für Interessenten aus ganz Westaustralien und darüber hinaus zugänglich ist. Es soll sich zu einem Ressourcenzentrum für Forschungen in Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft (hauptsächlich den Biowissenschaften) entwickeln und gewährt sowohl kurz- als auch langfristige Forschungsaufenthalte. Das Stipendiatenprogramm berücksichtigt vorrangig KünstlerInnen, die mit praktischen Biotechniken arbeiten.

Die Postition von SymbioticA an der University of Western Australia

Das Institut für Anatomie und Humanbiologie steht, was die Bandbreite und Vielfalt der Forschungsinteressen seiner Mitarbeiter betrifft, ziemlich einzigartig da. Der gegenwärtige holistische Ansatz des Instituts geht auf den Humangenetiker Len Freedman zurück. Er bestand darauf, dass das Institut sich der Gesamtheit der menschlichen Biologie, also sämtlicher Aspekte unseres Menschseins, annimmt und – weit über die reine Anatomie hinausgehend – auch menschliche Beziehungen, Evolution, Rasse- und Genderfragen mit einbezieht und den menschlichen Körper von der Grobmechanik bis zur Mikrobiologie erforscht. Ein zentrales Moment dieses humanistischen Ansatzes ist eine – auch an vielen anderen Anatomieinstituten gepflogene – lange Tradition der Zusammenarbeit mit Künstlern. Die Korridore des Instituts sind mit Kunstwerken gesäumt. Der Bildhauer und Maler Hans Arkveld arbeitet seit mindestens 30 Jahren mit dem Institut zusammen, und auch andere KünstlerInnen haben zeitweise dort gewirkt. Aber wiewohl hier viele KünstlerInnen ihre Beobachtungen angestellt und sich ihre Inspirationen geholt haben, so hat doch keiner von ihnen die Labors zur Produktion seiner Kunstwerke benutzt.

SymbioticA ist heute ein Forschungslabor wie jedes andere auf dem Institut. Oder doch nicht? Die Spannung, die sich aus dem zwiespältigen Verhältnis von SymbioticA zu den akademischen Disziplinen ergibt, führt zu Kooperationen, die nirgendwo anders möglich sind. Bei SymbioticA können Künstler heute in verschiedenen Forschungseinrichtungen des Instituts arbeiten. Sie können die Laboratorien für Molekularbiologie, Gewebekultur, Neurowissenschaft und Biomechanik sowie die biologischen Bildgebungsverfahren (IAAF) nutzen. Außerdem haben sie auch Zugang zum CTEC, der hypermodernen chirurgischen Trainingseinrichtung mitsamt dem internationalen Hill-Chirurgie- und Medizinworkshop und einem haptischen Virtual-Reality-Raum.

SymbioticA wurde von der Westaustralischen Lotteriekommission und der University of Western Australia (UWA) finanziert. Hauptaufgabe der Lotteriekommission ist die Bereitstellung von Geldmitteln „zum Wohl Westaustraliens“. Damit können die Gelder für Kunstwerke wie Sozialprojekte und wissenschaftliche oder medizinische Forschung verwendet werden. Dies gewährleistet eine hohe Flexibilität und ermöglicht die Finanzierung von Projekten wie SymbioticA, die durch das Raster der traditionellen Fördertöpfe fallen, aber eindeutig zum Wohl Westaustraliens beitragen. Die UWA versteht sich in hohem Maß als Teil des westaustralischen Gemeinwesens, dessen Unterstützung und Steuergeldern sie ihre Existenz verdankt. Die Universität hat drei Ziele: Forschung auf Weltklasseniveau, Lehre und gesellschaftliche Relevanz. SymbioticA beschert Westaustralien eine einzigartige Institution und erhöht dessen Position im internationalen Ranking der Innovationsstandorte. SymbioticA ist eine gemeinnützige Institution und kann als solche frei mit verschiedenen Betriebsformen experimentieren. Um aber in der harten Realität der kapitalistischen Umwelt, in der das Forschungsprogramm operiert, überleben und doch seine Integrität und künstlerische Freiheit wahren zu können, muss es sich zu einem gewissen Grad auf vorherrschende Sprachregelungen und Gepflogenheiten einlassen – und das ohne seinen kritischen Ansatz aufzugeben und das Kooperationsmodell einem Wettbewerbsmodell zu opfern. SymbioticA arbeitet gegenwärtig gemeinsam mit der Universität und einer externen Consultingfirma (Mainsheet Corporate) an einer Machbarkeitsstudie, um mögliche Geldgeber und eine nachhaltige Betriebsform zu finden. Dabei vertrauen wir darauf, dass die akademische Erfahrung der Universität und das betriebsanalytische Know-how von Mainsheet den Fortbestand von SymbioticA als sich frei entwickelndes symbiotisches Hybrid verschiedener, manchmal konfligierender Weltanschauungen sichern werden.

Aktuelle Projekte

SymbioticA Research Group

Der Gruppe gehören KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, ProgrammiererInnen und IngenieurInnen an. Sie forscht an Projekten, die Kunst mit Tissue Engineering, Neurowissenschaft, Biomechanik, Physik und Robotik verbinden, und arbeitet mit anderen Forschungsteams zusammen. Gegenwärtig arbeitet die Gruppe an dem Projekt Fish & Chips (mehr darüber im Artikel „Fish & Chips – Stand der Forschung“ im projektbezogenen Teil des Katalogs).

Fish & Chips und ethische Fragen

Fish & Chips ist das erste von SymbioticA konzipierte und entwickelte praktische Biokunst- Projekt. Als bahnbrechendes interdisziplinäres Forschungsprojekt hat es Fragen aufgeworfen, die im universitären Forschungssystem bisher unbekannt waren. Diese Fragen betreffen nicht nur SymbioticA, sondern sämtliche Organisationen oder Individuen, die mit biologischem Material Kunst produzieren. Historisch gesehen, ist der Gebrauch biologischen Materials in der Kunst nichts Neues, wenn er auch kaum beachtet wurde (Pinselhaare, Leinwände, Farben, Holz). Ästhetische Überlegungen bestimmten auch die Züchtung von Tier- und Pflanzenmutanten wie Koi-Karpfen und Orchideen. Die künstlerische Verwendung biologischer Materialien im Rahmen der biomedizinischen Forschung verschärft allerdings die moralischen Probleme, mit denen die Gesellschaft konfrontiert ist. Eines davon betrifft den Einsatz von Tieren, wie etwa der Goldfische, die bei den Fish & Chips-Experimenten herangezogen werden.

An einigen Fischhirnen wurden elektrophysiologische Messungen vorgenommen, und ein Teil ihres Zentralnervensystems wurde für Gewebekulturen verwendet. Einige Fische mussten sterben, damit wir das notwendige Wissen und Verständnis zur Erreichung der Ziele von Fish & Chips gewinnen konnten. Einige Versuchsergebnisse sind zwar wissenschaftlich relevant, aber das Projekt selbst ist als kybernetisches Kunstwerk angelegt. Bevor wir die Arbeit überhaupt in Angriff nehmen konnten, mussten wir daher die Genehmigung des universitätseigenen Ethikbeirats für Tierversuche einholen, um die Experimente überhaupt als Kunstprojekt durchführen zu dürfen. Dies verursachte eine gewissen Bestürzung, weil es sich um eine Situation handelte, mit der die Universität noch nie direkt konfrontiert war.

Der Ethikbeirat für Tierversuche war zu dem Zweck eingerichtet worden, über die berechtigte Verwendung von Tieren in wissenschaftlicher, nicht aber in künstlerischer Forschung zu entscheiden. Aus diesem Grund rekrutieren sich seine Mitglieder aus den Bereichen Naturwissenschaft, Medizin und Veterinärmedizin, denen Mitglieder von Tierschutzorganisationen wie der RSPCA beigestellt waren. Der Ethikbeirat sah sich außer Stande, in dieser Sache zu entscheiden. Schließlich wurde die pragmatische Entscheidung getroffen, vorerst den wissenschaftlichen Nutzen der Arbeit zu bewerten und in der Folge einen Diskussionsprozess über die Verwendung von Tieren für künstlerische Zwecke einzuleiten. Das Ziel war, nach einer harten öffentlichen Auseinandersetzung ein repräsentatives Komitee zusammenzustellen, das in der Lage wäre, eine Bewertung als Kunstwerk und als Werk der Wissenschaft abzugeben. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen und zeigt, inwiefern diese Art der Forschung die Grenzen zeitgenössischen Denkens erweitert und die Gesellschaft zur Auseinandersetzung mit gewissen ethischen Problemen herausfordert, welche der weit verbreitete Einsatz der Biotechnologie noch mit sich bringen wird.

Die Forschung über Fish & Chips wird weitergehen, aber die ethischen Fragen für SymbioticA sind weiterhin ungelöst. Eines der Anliegen von SymbioticA ist die Organisation von Diskussionsforen zur Entwicklung von Richtlinien und Mechanismen, mit denen die Verwendung von Tieren in der Biokunst evaluiert werden kann. SymbioticA versucht aber auch, noch andere sicherheitstechnische, ethische und sonstige Probleme in Angriff zu nehmen, die mit der Entwicklung neuer Projekte sicherlich entstehen werden – Fragen wie die Verwendung menschlichen Gewebes oder anderer menschlicher und tierischer Überreste, das Ausmaß genetischer Manipulationen, die Konsequenzen der Entwicklung und Kontrolle fühlender Wesen, der Umgang mit halblebendigen Objekten, die Verwendung gefährlicher und pathogener Stoffe und vieles andere mehr. Überdies wird es eine Regelung für das Ausbildungsniveau und Definitionen für eine verantwortliche Arbeitspraxis in Gewebekultur-, Mikrobiologie- und ähnlichen Labors geben müssen.

Das Tissue Culture & Art Project (TC&A)

Das Tissue Culture & Art Project (begonnen 1996) ist ein künstlerisches Forschungs- und Entwicklungsprojekt-in-Progress über Verwendungsmöglichkeiten von Gewebekulturen als künstlerisches Ausdrucksmittel. Das TC&A-Team züchtet Gewebeskulpturen, „halblebendige“ Objekte, indem es Zellen auf Trägergerüste aufbringt und in Bioreaktoren kultiviert. Das Ziel dieser Arbeiten besteht letztlich in der Kultivierung und langfristigen Erhaltung von Gewebegebilden unterschiedlicher geometrischer Komplexität und Größe und damit in der Schaffung eines neuen künstlerischen Genres. Dies geschieht zum Zweck, problematische futuristische Objekte zu kreieren, die zum Teil künstlich konstruiert, zum Teil gezüchtet/ gewachsen sind. Diese halblebendigen Objekte bestehen sowohl aus synthetischen Materialien als auch aus der lebenden Biomasse komplexer Organismen. Es sind Gebilde (Skulpturen), die die Grenze zwischen Gewachsenem und Fabriziertem, zwischen Belebtem und Unbelebtem verschwimmen lassen und eine weitere Herausforderung an unsere Wahrnehmung des Körpers und der konstruierten Umwelt sowie unser Verhältnis zu ihnen darstellen. Das Kooperationsmodell von TC&A mit dem Institut für Anatomie und Humanbiologie spielte eine wesentliche Rolle für die Gründung von SymbioticA. Durch die Verwendung von praktischen Biotechniken und die Begründung eines neuen Paradigmas auf dem Gebiet des Tissue Engineering, hat das TC&A den für den Aufbau von SymbioticA nötigen Sachbeweis geliefert. Das TC&A benutzt SymbioticA weiter als Basis für die Fortsetzung seiner Erforschung und für die Produktion von halblebendigen Skulpturen. TC&A entwickelt bei SymbioticA einen künstlerischen Werkzeugkasten, gestützt auf Konzepte des Tissue Engineering. Dazu gehören: künstlerische Zelllinien (Zellen, die nach künstlerischen Eigenschaften ausgewählt und beschrieben werden), Bioreaktoren (die für die Züchtung von Zell- und Gewebekulturen notwendigen Umgebungen, entworfen für künstlerische und didaktische Zwecke), Bildgebungs- und Überwachungssysteme sowie der Entwurf und die Herstellung von dreidimensionalen Polymergerüsten.

Grenzüberschreitungen: künstlerische Erkundungen von Strukturen und Wachstumsprozessen durch wissenschaftliche Visionen

Phil Gamblen & Mark Gray-Smith waren die ersten Stipendiaten bei SymbioticA. Sie erhielten ein einjähriges Forschungs- und Entwicklungsstipendium vom New Media Arts Fund des Australia Council. Ihr Projekt gab den Anstoß zur künstlerischen Beschäftigung mit komplexen und innovativen wissenschaftlichen Beobachtungsmethoden und -technologien, mit dem Ziel, eine Reihe von Strukturen in diesem Bereich zu kartografieren und darzustellen. Schwerpunkt ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit war die Sichtbarmachung und Abbildung drei- und vierdimensionaler Strukturen.

SymbioticA ist eine Ausnahmeerscheinung. Doch die mittels Technologie gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse verbreiten sich immer weiter und damit steigt auch die Notwendigkeit, die Implikationen dieser neuen Manipulationsmethoden und die Richtungen, in die sie uns führt, zu erforschen. SymbioticA bietet eine Plattform für eine solche Forschungstätigkeit, die sich hauptsächlich mit den potenziellen Gegenwarts- und Zukunftsszenarien beschäftigt, mit denen uns die Life Sciences konfrontieren. Dies geschieht durch eine symbiotische Beziehung der „zwei Kulturen“ in der Hoffnung, dass das so entstehende Verhalten unser Bewusstsein für die Welt und die Folgen unserer Handlungen erweitert, ohne unseren Sinn für das Spiel und das Wunderbare zu mindern.

www.symbiotica.uwa.edu.au