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wetware


'Wolfgang Maass Wolfgang Maass

Wenn Sie Wasser über Ihren PC schütten, so wird er nicht mehr funktionieren. Der Grund dafür ist, dass man nach einer über 500 Millionen Jahre andauernden Entwicklungsgeschichte von Systemen zur Informationsverarbeitung (1) neuerdings Geräte wie Ihren PC entwickelt hat, die eine trockene Umgebung erfordern. Leider haben diese neuen Geräte, die aus Hardware und Software bestehen, einen Nachteil: Sie sind nicht so leistungsfähig wie die älteren Systeme zur Informationsverarbeitung, die man Nervensysteme oder Gehirne oder allgemeiner Wetware nennt. Diese überlegenen Systeme zur Informationsverarbeitung wurden so gebaut, dass sie im Wasser, genauer gesagt im Salzwasser, funktionieren, offenbar deshalb, weil viele der ersten Organismen mit Nervensystemen aus dem Meer kamen. Wir tragen in unserem Gehirn ein entferntes Echo dieser Urgeschichte der Informationsverarbeitung: Die Neuronen in unserem Gehirn sind eingebettet in eine künstliche Meeresumgebung, eine Salzwasser-Lösung. Die enge Beziehung zwischen der Wetware in unserem Gehirn und der Wetware in evolutionsgeschichtlich älteren Organismen, die immer noch im Meerwasser leben, hat sich sogar als recht vorteilhaft für die Hirnforschung herausgestellt. Zum Beispiel sind die Neuronen im Tintenfisch 100 bis 1000 Mal größer als die in unserem Gehirn und können daher leichter untersucht werden. Trotzdem gelten die mathematischen Gleichungen, die Hodgkin und Huxley aufstellten, um die Dynamik eines Neurons im Tintenfisch zu modellieren (wofür sie 1963 den Nobel-Preis erhielten), auch für die Neuronen in Ihrem Gehirn. In diesem kurzen Aufsatz möchte ich Ihnen einen Einblick in die dem Tintenfisch und Menschen gemeinsame Welt der Informationsverarbeitung in Wetware geben.

Ein grundlegendes Problem, das die Natur lösen musste, um Informationsverarbeitung in Wetware zu ermöglichen, war die Frage der Kommunikation: Wie können Zwischenergebnisse der Informationsverarbeitung eines Neurons an andere Neuronen oder an Output-Geräte wie zum Beispiel Muskeln gesendet werden? Im PC werden Ströme von Bits über Kupferdrähte geschickt. Aber Kupferdrähte waren vor einigen hundert Millionen Jahren noch nicht erhältlich und außerdem funktionieren sie im Meerwasser nicht so gut. Als Lösung fand die Natur das sogenannte Aktionspotenzial oder Spike. Der Spike kann als atomare Einheit der Informationsübertragung in Wetware angesehen werden und entspricht daher dem Bit in Hardware und Software.

Spike ist ein sehr rascher Anstieg der elektrischen Spannung im Neuron, der ungefähr 1 ms (= 1/1000 Sekunde) währt und vom Neuron durch eine lange Faser, das Axon, das am Zellkörper befestigt ist, ausgesendet wird. Dieses Axon übernimmt die Funktion eines isolierten Kupferdrahtes in der Hardware. Die graue Masse Ihres Gehirns enthält in jedem Kubik-Millimeter (mm3) etwa 4 Kilometer solcher Axone. Diese Axone haben eine große Zahl von Verzweigungspunkten (siehe den Axonenbaum auf der rechten Seite in Abb. 1), an denen ein Spike meist dupliziert wird, sodass er in möglichst viele Verzweigungen hineinkommt. Auf diese Weise wird ein Spike von einem einzigen Neuron an einige Tausend andere Neuronen übertragen. Aber um wirklich von einem Neuron zu einem anderen zu gelangen, muss der Spike über einen recht komplizierten Schalter laufen, die sogenannte Synapse.

Wenn ein Spike am Ende eines Astes des Axonenbaums eine Synapse erreicht, genauer gesagt den präsynaptischen Teil der Synapse (siehe Abb.3), kann er den Auslöser dafür geben, dass ein kleiner Behälter, gefüllt mit speziellen Molekülen („Neurotransmitter“), blitzschnell mit der Zellwand des präsynaptischen Neurons verschmilzt und auf diese Weise den Neurotransmitter in die extrazelluläre Flüssigkeit (das Salzwasser) herauslässt. Wenn nun so ein Neurotransmittermolekül auf eine spezielle Kombination von Molekülen („Rezeptor“) in der Zellmembran des nächsten Neurons trifft, wird ein Kanal in der Zellwand des nächsten Neurons geöffnet, durch die geladene Moleküle (Ionen) in die nächste Zelle hineinströmen und auf diese Weise eine Erhöhung oder Erniedrigung (abhängig vom Typ des Kanals, der geöffnet wird) der Membranspannung um ein paar Millivolt (1 Millivolt = 1/1000 Volt) bewirken. (2) Man nennt diese EPSP (excitatory postsynaptic potential), wenn sie die Membranspannung erhöhen, und sonst IPSP (inhibitory postsynaptic potential)

Im Gegensatz zu den Spikes, die alle gleich aussehen, hängt die Gestalt und Größe dieser sogenannten postsynaptischen Potenziale sehr stark von der konkreten Synapse ab, die sie hervorgerufen hat. Tatsächlich wird die Gestalt und Größe des postsynaptischen Potenzials auch abhängen von der momentanen „Stimmung“ dieser Synapse, genauer vom zeitlichen Muster der Spikes, die diese Synapse vorher erreicht haben, sowie von der jeweiligen Feuer- Reaktion des postsynaptischen Neurons. Zusätzlich hängt die Größe dieses postsynaptischen Signals auch ab von Signalen, die die Synapse in der Form anderer Moleküle (z. B. Neurohormone) durch die extrazelluläre Flüssigkeit erreichen.

Oft wird die Frage gestellt, ob man die Wetware in unserem Gehirn „scheibchenweise“ durch Silizium-Chips ersetzen könnte, die deren Funktion übernehmen. Man stößt dabei schon bei der Synapse auf das Problem, dass im Gegensatz zum Transistor eine Synapse kein fixer Schalter ist, der jeden Tag das gleiche Input/Output-Verhalten zeigt. Die Kanäle und Rezeptoren einer Synapse bewegen sich innerhalb der Zellmembran, sie verschwinden sogar und werden durch neue Rezeptoren und Kanäle ersetzt, die von einer lebenden Nervenzelle ständig nachproduziert werden, in Abhängigkeit von den „Erfahrungen“ der Synapse und der in der DNA niedergelegten Information. Man nimmt sogar an, dass die ganze Erfahrung und das Gedächtnis eines lebenden Organismus (die „Software“) physikalisch in der Form der gegenwärtigen Zustände der Synapsen des Organismus realisiert ist (ein menschliches Gehirn hat ca. 1.000.000.000.000.000 Synapsen). Das bedeutet, dass sich eine Synapse in Ihrem Gehirn nächstes Jahr möglicherweise ganz anders verhalten wird, während ein heute angefertigter Silizium-Klone dieser Synapse ständig mit der „alten“ Synapse von heute weiterarbeiten müsste.

Das postsynaptische Potenzial, das von den ungefähr 10.000 Synapsen erzeugt wird, die typischerweise zu einem Neuron hin konvergieren, wird mittels eines Baumes von leitfähigen Fasern („dendritischer Baum“, siehe Abb. 1) zum Zellkörper des Neurons und damit zur dort befindlichen „Triggerzone“ weitergeleitet. Jedes Mal, wenn die Summe der postsynaptischen Potenziale an dieser Triggerzone die „Feuerschwelle“ erreicht, erzeugt das Neuron einen Spike, der über das Axon weitergeleitet wird. (3)

Die Frage ist nun, wie ein Netzwerk von Neuronen mit Spikes Informationen verarbeiten kann. Einen qualitativen Eindruck von der Dynamik eines solchen Netzwerks erhält man durch eine online erhältliche Computer-Installation, von der in Abbildung 1 eine Momentaufnahme gezeigt wird. Leider können dort anstelle der über 10.000.000.000 Neuronen in Ihrem Gehirn nur drei Neuronen simuliert werden, aber man sieht dass selbst dieses winzige Netzwerk schon eine sehr komplexe Dynamik entfalten kann. (4) Das sagt uns aber immer noch nicht, wie unser Gehirn mit Spikes Informationen verarbeiten kann. Daher schauen wir uns in Abbildung 6 das (unvollständige) Protokoll einer tatsächlichen Informationsverarbeitung im Gehirn an. Die von 30 (mehr oder weniger zufällig aus dem Sehzentrum im Gehirns eines Affens ausgewählten) Neuronen ausgesendete Folge von Spikes (sogenannte Spike Trains) wurden über einen Zeitraum von 4 Sekunden protokolliert, wobei der Zeitpunkt des Feuerns eines dieser Neuronen jedes Mal durch einen kleinen senkrechten Strich markiert wurde. Wenn wir zum Beispiel auf dieselbe Weise die Information protokollieren würden, die unser Gehirn innerhalb von vier Sekunden von unseren Augen erhält, so würde eine ähnliche Abbildung mit 1.000.000 (anstatt 30) Zeilen entstehen, weil alle visuellen Eindrücke in der Retina in der Form von Spike Trains von ungefähr 1.000.000 Neuronen an das Gehirn weitergeleitet werden.

Man hat früher gemeint, dass das einzige relevante Signal im Output eines biologischen Neurons die Häufigkeit seines Feuerns ist. Man sieht aber sofort aus Abbildung 6, dass sich die momentane Häufigkeit des Feuerns eines Neurons ständig ändert und die zeitlichen Abstände zwischen den Spikes viel zu unregelmäßig sind, um innerhalb der experimentell ermittelten Rechenzeit des Gehirns von ca. 150 Millisekunden eine gute Abschätzung der gegenwärtigen Häufigkeit des Feuerns des betreffenden Neurons zu erhalten. Neuere experimentelle Untersuchungen (siehe zum Beispiel [Rieke et al., 1997, Koch 1999, Recce 1999]) zeigen in der Tat, dass das gesamte raum-zeitliche Muster des Feuerns von biologischen Neuronen für deren Informationsverarbeitung relevant ist. Man kann den Output eines Systems von Neuronen also eher mit einem von einem großen Orchester gespielten Musikstück vergleichen, zu dessen Wiedererkennung es nicht ausreicht zu wissen, wie oft jeder Musiker gewisse Töne gespielt hat. Charakteristisch für ein Musikstück ist vielmehr, wie jeder Ton in eine Melodie oder in einen Akkord eingebettet ist. Man nimmt an, dass in ähnlicher Weise Gruppen von Neuronen in biologischen Systemen die von ihnen ausgesendeten Informationen durch das Muster kodieren, mit dem jedes Neuron in der Gruppe relativ zu den anderen feuert. Daher ist die Kommunikationsweise innerhalb unseres Gehirns einem Musikstück sehr viel ähnlicher als die von der gegenwärtigen Generation von Computern bevorzugte Kommunikationsweise mittels eines Stroms von Bits. Die Untersuchung der theoretischen und praktischen Möglichkeiten, mit raum-zeitlichen Mustern von Pulsen Information zu verarbeiten und zu kommunizieren, hat in den letzten Jahren eine neue Generation künstlicher neuronaler Netzwerke entstehen lassen: pulsbasierte künstliche neuronale Netze. In diesen wird die von der gegenwärtigen Computer-Generation bevorzugte künstliche Synchronisation durch der Biologie abgeschaute Methoden ersetzt, Informationen in raum-zeitlichen Mustern zu kodieren. Dies eröffnet für den Informatiker eine faszinierende neue Welt, nämlich die Möglichkeit, Zeit als eine bisher in unseren Rechnern brachliegende Dimension zu erschließen (siehe [Maass, Bishop, 1999] für eine Übersicht zum gegenwärtigen Stand der Forschung). Erfreulicherweise kann man diese Strategien auch relativ leicht in neu entwickelter elektronischer Hardware anwenden [Mead, 1989, Deiss et al, 1999, Murray, 1999]. Diese Hardware erfordert nicht mehr, dass alle Komponenten mittels eines globalen Zeittakts synchronisiert werden, was eine beträchtliche Energie-Ersparnis bewirkt. (5) Ein großes ungelöstes Rätsel ist noch die Organisation der Informationsverarbeitung in Wetware. Wir kennen noch keine für Wetware geeigneten „Betriebssysteme“, nicht einmal für die Wetware des Tintenfisches. Daher konzentriert sich unsere gegenwärtige Forschung auf die gemeinsam mit Neurobiologen durchgeführte Untersuchung der Organisation von Informationsverarbeitung in Mikroschaltkreisen im Gehirn, also den stereotypischen lokalen Verbindungsstrukturen von Neuronen, die sich im ganzen Gehirn wiederholen und die offenbar die unterste Ebene der Organisation von Informationsverarbeitung im Gehirn bilden (siehe Maass, Natschläger, Markram]).

Anmerkungen

(1)
Vor etwas 500 Millionen Jahren traten die ersten Organismen mit Nervensystemen auf. Man kann aber auch argumentieren, dass die Entwicklungsgeschichte von Systemen zur Informationsverarbeitung noch weiter zurückreicht: nämlich 3 bis 4 Milliarden Jahre, als Zellen erstmals auf die vielfältigen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung mittels R NA (und später DNA) stießen.zurück

(2)
Eine Animation ist online erhältlich von www.wwnorton.com/gleitman/ch2/tutorials/2tut5.htm.zurück

(3)
Eine Animation dieses Vorgangs ist online erhältlich von www.wwnorton.com/gleitman/ch2/tutorials/2tut2.htm.zurück

(4)
Beschreibungen und Hintergrund Informationen dazu sind ebenfalls online erhältlich, siehe [Maass, 2000b], [Maass, 2000a], [Maass, 2001]. Die von www.igi.TUGraz.at/demos/index.html erhältliche Installation wurde programmiert von Harald Burgsteiner und Thomas Natschläger, mit finanzieller Unterstützung der Steiermärkischen Landesregierung.zurück

(5)
Wetware erfordert nur einen Bruchteil der Energie, die unsere gegenwärtige Generation von Hardware verbraucht. Unser Gehirn, dessen Anzahl von Schaltern mindestens so groß ist wie die in den größten Supercomputern, verbraucht nur 10 bis 20 Watt.zurück