Dritte Orte
'Andreas Hirsch
Andreas Hirsch
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'Christian Mikunda
Christian Mikunda
Für den Mediendramaturgen Christian Mikunda bietet das Konzept des „Third Place“, also des dritten Ortes, einen essenziellen Zugang im aktuellen Design von Shopping Centern ebenso wie von Museen. Solche „dritten“ Orte treten an die Stelle der „guten alten Plätze“ der Vergangenheit und arbeiten heute mit Strategien wie Stimmungsmanagement und sind oftmals so gestaltet, dass sie als Landmarks zum Bild heutiger Städte beitragen. Nach Mikunda ist die markante Zunahme der „Media Literacy“ mit verantwortlich für das Verschmelzen kultureller und ökonomischer Interessen mit den Methoden der Avantgarde. Sein Befund dieser Entwicklung am Beginn des 21. Jahrhunderts bildet einen wichtigen Kontext für die im TAKEOVER beobachteten Phänomene.
Hirsch: Kunst-Institutionen weltweit – insbesondere Museen, Kunsthallen etc. – haben in den letzten beiden Jahrzehnten einen deutlichen Wandel durchlaufen. Museumsneu- und Umbauten, Verbesserungen bei der Inszenierung, Vermittlung, Professionalisierung im Service und Marketing haben zu – teilweise beeindruckenden – Steigerungen der Besucherzahlen geführt. Tate Modern und die Standorte der Solomon R. Guggenheim Foundation sind prominente Beispiele für eine „Kunstindustrie“ als Teil der viel größeren Medienindustrie. Laufen den Kunstinstitutionen – sofern sie sich mit aktueller Kunst beschäftigen – nun aber die Künstler davon, weil sie nichts mehr davon haben, sich als „Künstler“ zu deklarieren?
Mikunda: Ich habe im Gegenteil eigentlich das Gefühl, dass die Künstler all diese Orte, an denen Kunst ausgestellt werden kann und die – im Vergleich zu früher – mit einer erhöhten Attraktivität versehen sind, immer attraktiver finden. Das angesprochene Phänomen ist sehr interessant und bezieht sich nicht nur auf die Orte der künstlerischen Präsentation, sondern auch auf einen bestimmten Typus halböffentlicher, inszenierter Orte. Es gibt in Amerika den Begriff des „Third Place“, des „dritten Orts“. Ein amerikanischer Soziologe hat diesen Begriff geprägt, der sich ursprünglich mit den „guten alten Plätzen“ beschäftigt hat: das „Beisl ums Eck“, der Friseur, wo man hingeht, usw. Er hat beklagt, dass es diese guten alten Plätze nicht mehr gibt, um dann zehn Jahre später zu entdecken, dass sie von neuen Plätzen abgelöst wurden. Diese Funktion wurde übernommen von den Shopping Centers und auch von den – inszenierten, mit emotionalem Mehrwert versehenen – Kaufhäusern sowie von den Museen und Galerien.
Der „First Place“ ist das gestaltete Heim, die eigene Wohnung, ein Konzept des 18./19. Jahrhunderts. Die Wohnung als Ort der Selbstreflexion, des Selbstausdrucks. Der „Second Place“ – und das hat man erst im 20. Jahrhundert entdeckt – ist der gestaltete Arbeitsplatz, der Arbeitsplatz, der den Mitarbeitern gut tut, was von den Unternehmen in Europa so richtig erst in den 50er-Jahren erkannt wurde.
Die „Third Places“ sind halböffentliche Orte, wobei interessant ist – weil das Beispiel Tate Modern gefallen ist –, dass es sich hier zugleich um Landmarks, um Wahrzeichen handelt. Das sind alles Orte, wo man hingeht, aber nicht unbedingt hingeht, um das Museum selbst zu besuchen, sondern vielleicht nur hingeht, um den Shop zu besuchen. Man bekommt trotzdem etwas von der Aufgeladenheit des Ortes mit, etwa im Falle des Louvre in Paris, wo man einfach die Pyramide und den Raum darunter mit den Shops und Cafés sehen möchte. Was diese Orte machen, ist auch „Mood Management“ – also Stimmungsmanagement. Das machen auch Shopping Center, bis hin zu Supermärkten. All diese Orte arbeiten mit denselben Methoden: Licht, Videoprojektionen, etc. Im Grunde ist da kein Unterschied zwischen Tate Modern und dem BILLA Supermarkt in Purkersdorf, der ein projiziertes Videofries hat, auf dem man Sonnenblumenfelder und ähnliches sieht. Man hat herausgefunden, dass der Aggressionslevel in Supermärkten relativ hoch ist, und mit solchen Methoden werden die Besucher emotional „eingewickelt“ – der Supermarkt als Seelenmassage.
Tate Modern hat diese große, spektakuläre Halle mit einem unglaublichen Raumgefühl, in der drei Türme stehen: Die Leute stellen sich eine halbe Stunde an, nur um auf einen dieser Türme – der ein Kunstobjekt ist – hinaufzusteigen und dort oben zwei Minuten auf einem Stuhl sitzen zu können und damit selber zum Objekt zu werden und einen bestimmten Blick von oben zu genießen, den man sonst nicht hat. Diese Halle ist eine einzige „Core Attraction“. Eine „Core Attraction“ ist ein Charakteristikum für jeden Third Place, eine zentrale Attraktion, die so spektakulär ist, dass man sie gesehen haben muss, die zum „Talk of the Town“ wird. Diese Orte – die früher nur Orte der Sammlung, der Bildung und der Selbstreflexion einer bestimmten sozialen Schicht waren – werden nun zu allgemein zugänglichen, erstklassigen Treffpunkten innerhalb der Stadt. Hier wie da handelt es sich um einen gestalteten Ort mit emotionalem Mehrwert, für den kein Eintritt zu bezahlen ist – auch Tate Modern hat freien Eintritt –, was ein weiteres Charakteristikum für den „Third Place“ ist.
Zunehmend werden diese „Third Places“ zu den neuen Wahrzeichen innerhalb der Stadt. Sie besetzen die kognitive Landkarte der Stadt mit Sinn. All diese neuen Orte der Kunstindustrie sind auch nach außen hin spektakulär. Das kann sehr plakativ, aber auch sehr avantgardistisch aussehen. Daniel Libeskind hat jüngst zwei solche Projekte realisiert bzw. projektiert, von denen man früher nicht gedacht hätte, dass man solche Objekte überhaupt miteinander vergleichen kann: das neue Jüdische Museum in Berlin und das geplante Shopping Center von Migros in Bern. Beide Projekte sind dekonstruktivistisch, beide sind starke Statements nach außen – der zerbrochene Davidsstern in Berlin, eine riesige, in die Landschaft hinein geöffnete Hand in Bern –, die entsprechende Brainscripts auslösen. Das ist charakteristisch für diese neuen Orte und für das Verschmelzen von kulturellen und kommerziellen Interessen und den Methoden der Avantgarde. Es sind elaborierte Architekten, Designer und Multimediakünstler, die überhaupt keine Berührungsängste haben, für solche Objekte zu arbeiten. Zunehmend werden die Museen „kommerzieller“ – im Sinne von ästhetisch mit einem emotionellen Mehrwert versehen – und damit Entertainment-Orte. Genauso werden klassische Verkaufsorte wie Shopping Malls zunehmend zu Orten auch der architektonischen Avantgarde und des Designs.
Vor zwei Jahren hat in London das Bluewater Center eröffnet, das erste Shopping Center der Welt, das von Design- und Kulturtouristen genauso besucht wird wie von Leuten, die einfach shoppen. Die alte Idee von „Design und Kunst für alle“ wird plötzlich in den Shopping Centern auf eine verblüffende Art und Weise Realität, und zwar nicht als „Kunst am Bau“, sondern als ein strategisch eingesetztes Mittel der dramaturgischen, dreidimensionalen Gestaltung eines „Third Place". So werden Orte wie Tate Modern oder die Guggenheim- Museen zu erstklassigen, betriebswirtschaftlich führbaren Orten des Verkaufs, des Konsums und der Konsumästhetik. Niemand findet mehr etwas dabei, dass diese beiden Welten eine Symbiose eingehen. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir durch die Allgegenwart der Medien so gewöhnt sind, diese Zeichen sogar der Kunst und der Avantgarde aufzunehmen und damit umzugehen. Im Werbespot kann man sich heute im Schnitt und in der Ästhetik Dinge erlauben, die früher nur in der Avantgarde möglich waren. Das liegt auch daran, dass die Geschicklichkeit der Menschen im Umgang mit Medien und Konsum – die sogenannte „Media Literacy“ – so weit gediehen ist, und das Umgehen mit den Codes dazu geführt hat, dass die Grenzen aufgebrochen sind. So, dass man in der Avantgarde kommerzielle Methoden verwenden und im Kommerziellen Codes der Avantgarde einsetzen kann. Es haben sich natürlich auch die ökonomischen Bedingungen verändert.
Hirsch: Das Verhältnis Werbung – Kunst war in den letzten Jahrzehnten von einer sich vom Zitat zur Exploitation steigernden Nutzung und Integration künstlerischer Inhalte, Formen und Strategien geprägt. Dieser „Brain Drain“ in Richtung Kommunikationsindustrie scheint sich nun noch zu steigern, wenn schöpferische Personen auf den Plan treten, die weniger Berührungsängste zur Corporate World haben als Künstlergenerationen vor ihnen. Wie stellt sich dieses Bild aus der Praxis von jemandem dar, der viele internationale Corporate Clients bei Projekten berät, wo auf viel schöpferisches Potential zugegriffen wird?
Mikunda: Ich glaube, diese Entwicklung liegt an der zunehmenden „Media Literacy“ nicht nur der Konsumenten, sondern auch der Kunst- und Kulturschaffenden. Es ist sozusagen ein gemeinsamer ästhetischer Pool entstanden. Wenn man sich die Entwicklung der Werbung in den letzten fünf Jahrzehnten ansieht: Werbung hat ganz klassisch als „Reklame“ begonnen, da wurde einfach ein Produktnutzen behauptet und laut nach außen posaunt. Dann kam die Image-Ebene dazu, die Ebene der versteckten Motive, der emotionalen Aufladung. Plötzlich gab es nicht mehr nur ein oder zwei sondern dreißig Fernsehkanäle, und dann kamen die ersten „neuen“ Medien auf.
Da gab es einen Umschwungpunkt. Leute haben vor Technik – Unterhaltungselektronik, Stichwort „Hi-Fi-Turm“ – und auch den ästhetischen Codes zunehmend keine Angst mehr. Die „Media Literacy“ hat gegriffen, die Werbung begann, komplizierter und verrätselter zu werden. Dinge, die einst Avantgarde waren, werden Bestandteil von Bumper Stickers in den USA. Daraus ist die dritte Ebene der Werbung geworden, die das Wortspiel, das Spiel mit den Zeichen nutzt: „Liberté, Egalité, Portabilité“ für die erste Generation von Laptops, „Veni, Vidi, Visa“ usw. Die vierte Ebene der Werbung setzte ein, als die Werbung begonnen hat, sich selber auf die Schaufel zu nehmen und die eigenen Methoden zu konterkarieren. Irgendwann ist dieses System in der Zeit von MP3 und Napster an eine Grenze gelangt, weil man sich nicht mehr aus einer neuen Welt der medialen Avantgarde die Zeichen ausborgt und die Zeichen zulässt. Ganz klassische Marken – wie etwa Nivea – wagen es, obwohl sie quintessenziell – also per definitionem unveränderbar – sind: Man gibt sie plötzlich ganz jungen Leuten in die Hand und lässt sie das Erscheinungsbild radikal verändern, ohne die Marke zu zerstören. Hier bedient man sich einer neuen Welt, so wie die Musikindustrie sich der DJs, der Clubbings und der Raves oder die Werbung sich einer Videoavantgarde als Zulieferer von Ästhetik bedient hat.
Hier gibt es nun möglicherweise einen fünften Schritt in der Entwicklung, wo man sich nicht mehr nur radikal der Ästhetik eines anderen Bereiches – etwa der Avantgarde – bedient, sondern diesen ganz hineinnimmt. Also nicht mehr nur die ästhetischen Codes bestimmter Gruppen benützt, sondern die ganzen Systeme der Szenen mit hineinnimmt und sich auch durchdringen lässt von diesen Szenen. Man lässt diese Systeme auch im ganzen Zyklus von Produktion bis Produktrezeption zu: Wo jemand vielleicht als Grafiker in einer Werbeagentur angestellt ist und zugleich seine eigene Musikproduktionsfirma hat, linke Soziologen, die gleichzeitig modeln usw. All dies passt offensichtlich deshalb zusammen, weil die Agenturen diese Lebenssysteme zulassen und sich mit ihnen aufladen.
Hirsch: Eine jüngere – bereits mit Computer, Games und Internet sozialisierte – Generation zählt nun nicht mehr nur zu den Rezipienten, sondern hat die verschiedensten Bereiche der schöpferischen Produktion erreicht. Ergeben sich aus der Sicht der strategischen Dramaturgie Veränderungen darin, wie die Inszenierung von Erlebnissen abläuft und welchen Charakter die Erlebnisse selbst haben?
Mikunda: Ästhetisch gesehen und was den Kunstmarkt betrifft, so finde ich revolutionär daran, dass es durch diese Entwicklung zu einer Generation gekommen ist, die erstmals das macht, wovon Berthold Brecht geträumt hat: das radikal interaktive Medium, oder – wie er in seiner klassischen Radiotheorie gesagt hat – das „Zurücksenden der Hörer". In den 70er-Jahren gab es in Deutschland die „offenen Kanäle“, wo die Seher zurücksenden konnten. Man hat dann herausgefunden, dass die Fernsehzuschauer nicht zurücksenden, weil sie es nicht können. Und wenn man etwas nicht kann, wird es langweilig, weil die ästhetische Dichte nicht da ist. Die Brecht'sche Radiotheorie ist dann doch Wirklichkeit geworden, und zwar ganz anders, weil wir in einer Patchworkzeit leben, in der die DJs bestehende Musik zusammensamplen und es die Technologien gibt, mit denen man das selber machen kann. Plötzlich ist hier eine Generation der jetzt Anfang Zwanzigjährigen gekommen, für die es nicht nur nicht mehr den Unterschied zwischen Mainstream und den klassischen Markenklamotten gibt, sondern bei denen sich auch die Grenzen zwischen Produzenten und Rezipienten der Ästhetik zunehmend auflösen. Hier müssen die großen Brands nach und nach lernen, auf diese neue Konsumentenschicht zu reagieren und Neues anzubieten, gerade was die Inszenierung ihrer Welten betrifft.
Hirsch: Die Grenzen zwischen den verschiedenen künstlerischen „Disziplinen“ verschwimmen zusehends, neue Rollenbilder entstehen erst zaghaft. Viele Projekte ab einer gewissen Größenordnung setzen intensive Kooperation von Spezialisten verschiedenster Bereiche voraus. Gibt es da Veränderungen gegenüber den etwa bei Oper oder Film gebräuchlichen Modellen vis-à-vis den Strategien in der Konzeption eines Theme Parks oder einer Shopping Mall?
Mikunda: Es gibt einen Paradigmenwechsel weg vom Disney-Espkapismus, aber auch weg vom hochwertigen, rein ästhetischen Eskapismus. Wir sind in einer Zeit, wo wir noch emotional zwischen zwei Jahrhunderten hängen und das 20. Jahrhundert noch nicht ganz verarbeitet haben, während das 21. schon mit allen neuen Technologien da ist. In Übergangszeiten von einem Wertesystem zum nächsten gibt es ein starkes Bedürfnis der Menschen nach Sinn, nach „Schauen, was trägt", was nimmt man mit an Werten von einer Zeit in die nächste, nach einem Abklopfen des Sinns.
Das Modewort des Jahres 2001 ist „Content“, nicht nur in der eMedia-Welt, sondern auch tatsächlich im Sinne des Wortes „Inhalt“. Deshalb haben sich die großen Marken vor etwa ein bis zwei Jahren auf „Content“ umgestellt. Wenn man sich eine Nike Town oder die internationale Kette von Parfümläden „Sephora“ ansieht, dann merkt man, dass es dort überall Installationen gibt, die einem vermitteln, was man dort eigentlich kauft. Das sind natürlich „Third Place“-Orte, wo man sehen kann, was passiert in der Welt der öffentlichen Inszenierung. Heute ist die Avantgarde der öffentlichen Inszenierung im Netz und an „Third Place“- Orten. Hier wird mit sinnlichen Erklärstrategien gearbeitet, das Entertainment wird mit Sinn verbunden. Bei „Sephora“ hat man im Eingangsbereich ein sogenanntes „Dufttheater“, da steht eine Dame, die einem in verschiedene Essenzen getauchte Duftstäbe reicht. So beginnt auch der klassische Point-of-Sale über die reine Ästhetik und den reinen Eskapismus hinauszugehen. Man macht etwas nicht mehr nur „schön“, sondern man holt sich einen möglicherweise sperrigen Architekten, der seine Handschrift hinbaut. Man integriert hier zunehmend hochwertige Architekten und Designer, weil man auch im Mainstream der Themenparks und Shopping-Malls die ganz individuelle Handschrift eines Künstlers, eines Architekten erleben möchte.
Die Menschen besuchen diese Orte ja, um sich auf eine tiefere Art emotional aufzuladen. Man geht heute in eine Shopping-Mall nicht mehr, um Marmor und Messing um sich zu haben und in einer Art Palast zu sein, wie es die Kaufhäuser des 19. Jahrhunderts waren. Man geht heute an Orte der Selbstreflexion über den ästhetischen Standard einer Zeit.
Das Interview mit Christian Mikunda wurde von Andreas Hirsch im Mai 2001 geführt.
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