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Pixel + Space Management
Die Inszenierung von (Erlebnis-)Welten im realen und virtuellen Raum

'Michael Shamiyeh Michael Shamiyeh

In unserer postkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft, in der existenzielle Bedürfnisse bei weitem gedeckt sind und die Berufswelt als äußerst ernüchternd und desillusionierend angesehen wird, (1) wächst beim Menschen zunehmend das Verlangen nach emotionaler Anregung, d. h., konkret wird der Geldwert erbrachter Leistung gegen emotionale Konsum-Erlebnisse eingetauscht. Der neue Typ des „Erlebniskonsumenten“ sucht daher gar nicht mehr die Wirklichkeit, das Authentische, sondern die perfekt in Szene gesetzte Illusion. Und diese bekommt er heute im Großformat: Bereits 1998 existierten mehr als 30 größere Themenparks in Frankreich, etwa 20 in Großbritannien, 15 in Spanien, zehn in den Niederlanden, sieben in der Schweiz, fünf in Belgien und drei größere Parks in Dänemark. Glaubt man den Statistiken, so sollen bereits 22 Millionen (rund jeder Vierte!) deutsche Bundesbürger und 2,6 Millionen (rund jeder Dritte!) Österreicher jährlich zu diesen Erlebniswelten pilgern. Im EU-Raum wird die jährliche Besucherzahl von Themenparks auf rund 150 Mio. geschätzt; noch immer verhältnismäßig wenig im Vergleich zu den 250 Millionen Besuchern, die bereits Mitte der 1990er-Jahren in etwa 100 der größeren Themenparks der USA gezählt wurden.

IT’S TRUE BECAUSE IT’S REAL! (2)
Aber schon längst beschränkt sich das Angebot der Superlative nicht mehr nur auf „Parks”. Das Synthetische hat die streng umrissenen Mauern der Parks längst verlassen, um die reale Welt in der Form einer großen „Show“ selbst zu vereinnahmen, in der die Wirklichkeit zum Spektakel und das Reale zum Themenpark ohne Öffnungszeiten wird. Denn ist man in Themenparks gezwungen, diese am Abend zu verlassen und in den Strudel des wirklichen Lebens zurückzukehren, so wandelt sich nun unser gesamtes Leben in eine Art Unterhaltungsmedium. Ähnlich einer Bluttransfusion erfolgt die Transfusion des Realen, mit dem Unterschied, dass das, was nach der Prostitution des Imaginären zurückbleibt, nur die Halluzination des Realen in einer idealisierten und simplifizierten Version ist. Sämtliche Lebensbereiche wie Politik, Religion, Bildung, Literatur, Handel, Architektur und Städtebau, also schlichtweg alle Bereiche, werden auf Grund der bewussten Verwendung von dramaturgischen Techniken sukzessive in Ableger des Showbusiness verwandelt, bei dem es vor allem darum geht, ein erlebnishungriges Publikum zu erreichen und dessen Bedürfnisse zu befriedigen. Als Beispiel für dieses Phänomen wäre an dieser Stelle die jüngste Werbekampagne des Jeansproduzenten Diesel zu nennen. Im TV und im kostenlos erhältlichen Boulevardmagazin „It’s Real“ konnte man die Karriere einer vom Lande kommenden Sängerin Joanna in sämtlichen Details realitätsnah mitverfolgen. Die Wahl der vollkommen frei erfunden Personen und alltäglichen Schauplätze – die die Verhältnisse unserer heutigen anonymen breiten Masse widerspiegelt – ermöglicht es dem Publikum, sich mit der inszenierten Handlung zu identifizieren, sich dadurch von der Show verzaubern zu lassen, und so letztendlich latent für Jeans der Marke Diesel zu begeistern.

Im Bereich der Architektur und des Städtebaus sind hier vor allem die Ambitionen von Disney Enterprise zu nennen. Der große Vorreiter und Initiator des Imaginären hat nun die Phase des simplen Kulissenzaubers verlassen, um die reale Welt selbst in sein synthetisches Universum zu integrieren: etwa den New-Yorker Times Square! Denn an Stelle eines herabgekommenen Schmuddelviertels wird das Viertel unter der Leitung von Robert A.M. Stern in ein (von Disney kontrolliertes) Zentrum für Theater, Unterhaltung und Reklame verwandelt. (3) Der Fall des NY Times Square ist aber nicht einzigartig. Die gegenwärtige Erneuerungsbewegung des US-amerikanischen Städtebaus – der New Urbanism – folgt diesem Beispiel. Ganze Regionen werden gemäß dem Disney-Syndrom in eine städtische Welt voller Reminiszenzen an die unterschiedlichsten Stadtbaukulturen der nordamerikanischen Gründerzeit verwandelt, wenngleich auch nicht immer Disney selbst im Spiel ist. Celebration oder Seaside sind nur die bekanntesten Beispiele. In ihnen vermischt sich das Inszenierte mit dem realen Alltagsleben dermaßen, dass die Inszenierung – die Kulisse – als solche nicht mehr identifiziert wird. (4)
„Mit einem gut gemachten Film erreicht man im Internet schnell ein Millionenpublikum“, erklärt der WienerFilmemacher Virgil Widrich. „Und man kann längere Geschichten erzählen. Sechs Minuten im Fernsehen sind ja irre teuer.“ (5)
Die Werbekampagne des erst kürzlich in den USA angelaufenen Steven Spielberg’s Film A.I. – Artificial Intelligence steht für eine neuerliche Wende im Eroberungszug des Synthetischen. Denn wie ein kulturelles Ebola-Virus ist nun der Trend hin zur Inszenierung sämtlicher Lebensbereiche in die virtuelle Welt vorgedrungen. Tausende Internet- User begaben sich Anfang dieses Jahres in eine eigens im WorldWideWeb erschaffene Welt, um nach Evan Chans Mörder zu suchen. Er ist der Kern dieser unorthodoxen, gigantischen Marketingstrategie, die das neugierige Publikum in einen überaus komplexen Krimi mit jeder Menge („realer“, aber doch frei erfundener) Personen und Schauplätze verwickelt. So gelangt man zum Beispiel auf Grund von Hinweisen auf Filmplakaten und Trailers auf die private Webpage einer gewissen Jeanine Stella, einer Robotertherapeutin. Von ihrer Webpage wird man dann auf die Homepage der (fiktiven) „Bangalore World University“ verwiesen, an der sie lehrt und an der 1,3 Millionen Studenten studieren. Die folgenden Links untermauern den Eindruck der tatsächlichen Existenz der Personen und Schauplätze. Das Gefühl des Realität und des Dabeiseins in „Echtzeit“ wurde von den Machern der inszenierten Welt auf vielfältigste Art und Weise noch verstärkt: Zum Beispiel, kann man die überall im Netz angeführten Telefonnummern tatsächlich anrufen – man hört dort dann Ansagen. All jene, die sich bei der Anti-Roboter-Bewegung „Unite and Resist“ registrieren ließen, erhielten am 13. April 2001 einen Telefonanruf und eine metallische Stimme sagte: „Wir beobachten dich. Einen schönen Tag noch.“ Kurz, Steven Spielbergs Film und PR-Kampagne ist der Versuch, eine Inszenierung im Medium Film über die Schnittstelle des virtuellen Raums (Internet) mit dem realen, gebauten Raum in Beziehung zu setzen und somit die physischen Schranken bisheriger Inszenierungen zu sprengen. Er nimmt somit vorweg, was sich gegenwärtig allerorts im kleineren Maßstab zu etablieren scheint.

Ohne es wirklich zu merken, untergräbt die Widernatürlichkeit des Eventkonsums, die Sehnsucht nach dem Surrogat, so ziemlich alles, was wir bisher gewohnt waren, als Zivilisation zu bezeichnen. 1968 legte Robert Venturi mit Denise Scott Brown und Steven Izenour die Bedeutung der Ikonografie im Kontext von Las Vegas dar. (6) Rund 25 Jahre später musste Venturi aus Anlass des Wandels von Las Vegas seine These korrigieren – nämlich insofern, dass wir nun eine Veränderung weg vom Zeichen hin zur Szenerie verfolgen können. (7) Heute, erneut fünf Jahre später, kann man Venturis These entgegensetzen, dass wir einen neuerlichen Wandel erleben: von der Szenerie, der offenkundigen Inszenierung des Realen, hin zur Halluzination des Realen, der Vorstellung einer Realität.

Der Architektur fällt bei Inszenierungen bzw. beim In-Szene-Setzen eines Publikums eine besondere Rolle zu. Denn wie die Gedächtnisforschung mehr und mehr nachweist, braucht man aus mnemotechnischen Gründen das Vehikel der räumlichen Zuordnung, wenn man etwas auffinden oder wieder finden will, wenn man also navigieren will. Dies gilt für (inszenierte) reale Räume ebenso wie für virtuelle Räume – die sich genau aus diesem Grunde trotz ihrer zumal fantastischen Inhalte am Vorbild der Architektur orientieren. Es ist daher seltsam, dass angesichts dieser Tatsachen der Architekt am Beginn des 21. Jahrhunderts scheinbar blind ist hinsichtlich der enormen Auswirkungen dieses alle Lebensbereiche vereinnahmenden Trends. Stöbert man zum Beispiel in den Aufzeichnungen der ANY-Konferenzen, eine der bedeutendsten Plattformen zeitgenössischen Architekturdiskurses, so finden sich keinerlei Beiträge zu diesem Thema. Vielmehr wird durch Recherchen offenkundig, dass das öffentliche Interesse an Architekten – die, wohlgemerkt, keine Ambitionen haben sich durch Produktion von „Unterhaltungsarchitektur“ anzubiedern, wie Charles Jencks es schon einmal vortrefflich formulierte (8) – zunehmend im Schatten so genannter „Entertainment- Architekten“ schwindet. So verlor zum Beispiel Zaha Hadid, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Architektinnen, im Wettbewerb um die Hochhaus- bzw. Blockbebauung Ecke 42nd Street und 8th Avenue (Times Square NY) gegen D’Agostino Izzo Quirk Architects (Retail/ Entertainment Architects). (9)

Im Schatten der Bild-Ingenieure verlieren Architekten zunehmend an Terrain. Es drängt sich die Frage nach den Ursachen für diese gegenwärtige Situation der Architekten auf: Viele aktuelle Strömungen führen zu einem grundlegenden Missverhältnis zu den Bestrebungen der Bild-Ingenieure: Die grundlegende Absicht dieser Bild-Ingenieure bei der Konzeption von inszenierten Welten ist die Kreation einer (anderen), wie auch immer gearteten, Realität. Das heißt, sämtliche Anstrengungen laufen darauf hinaus, eine Realität, gleich ob diese historisch oder wissenschaftlich möglich ist, zu konstruieren bzw. in Szene zu setzen und diese dem Betrachter möglichst realistisch und glaubwürdig zu präsentieren. Um dies zu ermöglichen – gleich ob im virtuellen oder realen Raum – bedarf es eines gezielten Managements von Pixels/Räumen bzw. des Einsatzes spezieller Mechanismen. Im Folgenden sollen diese im Kontext gegenwärtigen Bemühungen in der Architektur erörtert werden.
REFERENZ/ REFERENZLOS
Bei der Konstruktion von inszenierten Welten geht es darum, dass das, was glaubhaft vermittelt werden soll, den realen Fakten möglichst nahe kommt; sprich, dass ein enger kausaler Zusammenhang zwischen dem, was man sagt, und dem, was man darstellt, besteht. Um dies zu ermöglichen, bedienen sich die Bild-Ingenieure rhetorischer Mechanismen, die hinreichend kraftvoll und aussagekräftig sind, einen derartigen Effekt zu erzielen. Kurz, wesentlich für den Erfolg einer konstruierten Realität ist sowohl ihre Verständlichkeit als auch ihre Glaubwürdigkeit, also die Fähigkeit, die konstruierte Realität glaubhaft kommunizieren zu können. Dem Erstellen von intersubjektiv verständlichen Verweisen bzw. Anspielungen mittels Codes, gleich ob diese der Sprache oder der Form etc. angehören, fällt daher besondere Aufmerksamkeit zu, denn was man niemals zuvor gesehen hat, kann man auch nicht decodieren.

Im Gegensatz zu den so genannten „visuellen Künsten“ wie etwa der Malerei oder dem Film etc. wird der Prozess der Vermittlung bei gebauten Inszenierungen (sofern es sich nicht um eine Kulisse handelt) etwas komplizierter, da das Gebaute in zweifacher Hinsicht repräsentiert: Wir wissen, dass, wie alle Produkte einer Kultur, auch das Gebaute seiner bedeutungsvermittelnden Natur nicht entkommen kann. Weder das Wort noch das Bild, ja, nicht einmal eine minimale Geste kann als „neutral“ oder als intentionslos ohne jegliche Bedeutung betrachtet werden. „Form“ impliziert immer eine Beziehung zu einem Referenten, der präsent wird.

Die gesamte Palette von Freizeitparks wie etwa jene von Disney bis hin zu den Entwicklungen des New Urbanism (Celebration, Seaside etc.) und der Urban Entertainment Centers (Universal City Walk, Canal City Hakata/Fukuoka) machen deutlich, dass die Applikation von allgemein verständlichen Codes von der Ebene der Architektur (Oberfläche, Gebäudetypologie) bis hin zum Städtebau (Stadttypologie) Anwendung findet. Es ist demnach auch nicht verwunderlich, dass zum Beispiel bei Celebration oder Seaside auf die traditionelle europäische Stadt zurückgegriffen wird, deren Konzeption die Unterscheidung zwischen repräsentativen öffentlichen und privaten Gebäuden leicht verständlich kommuniziert. Diese „konstruktivistische“ Vision von Realität ist den Architekten nicht fremd, da sie eine der ureigensten Positionen der Architektur (zumindest seit der Renaissance) war und noch immer ist, zumindest für jene, die der unkritisch-postmodernen Linie nahe stehen, wie etwa die Architekten von Seaside, Andres Duany und Elizabeth Plater-Zyberk, oder aber auch Leon Krier mit seinem jüngst geplanten Poundbury-Projekt (10) , einem neuen Stadtteil von Dorchester. Denn seit jeher bestimmte den Architekturdiskurs die Frage, mit welcher Realität denn Architektur seine figurativen Relationen bestimmen sollte bzw. wie sie codiert bzw. repräsentiert werden sollte. Wurde bis zur Moderne die Realität des Gebauten in der Vergangenheit und lieferte dies auch ausreichenden Beweis über deren Wahrheit, so versuchte die Moderne eine zukünftige Realität zu vermitteln, deren Ambition die Schaffung einer neuen Gesellschaft, eines neuen Menschen und einer neuen physischen Realität war. Ihre „Wahrheit“ versuchte man durch den Einsatz technologischer Mittel zu untermauern. Das „Reale“ blieb und bleibt dabei jedoch immer selektiv dargestellt.

Um nun das eingangs angesprochene Entstehen von Diskrepanzen bzw. des Missverhältnisses zwischen den Absichten der Architekten und jenen der Bild-Ingenieure zu konkretisieren, bedarf es einer genaueren Betrachtung der gegenwärtigen Bemühungen in der Architektur – nämlich einer Betrachtung der so genannten Linie der Dekonstruktion sowie auch der (neuen) Linie des Post-Realismus (wie diese als Mangel eines geeigneteren Begriffs vorerst bezeichnet soll).
DEKONSTRUKTION
Die Glaubwürdigkeit von inszenierten Welten hängt sehr stark von dem ab, was überhaupt repräsentiert wird, von der Effizienz, mit der die Repräsentation ihre Erscheinung als möglichst plausibel und real in Erscheinung treten lässt, und von den eingesetzten Mechanismen, die diesen Effekt ermöglichen. Wesentliches Augenmerk kommt daher dem gekonnten Einsatz von Referenten zu.

Die poststrukturalistische und postmoderne Kritik versuchte eine Reihe von Instrumenten zu entwickeln, die es ihr erlaubte, außerhalb der bestehenden Ursache-Wirkung-Beziehung (form follows function) zu operieren. Daher machte sie sich Techniken der Dekonstruktion von Sprache oder des Spiels mit Differenz zu Eigen, um latente, unterdrückte oder unbewusste Inhalte zu offenbaren.

Ein beträchtlicher Teil der Architektur nach den 1960er-Jahren hat sich dieser Linie der Argumentation angeschlossen. Im Wesentlichen lassen sich hierbei jedoch zwei divergierende Lösungsansätze in der Befreiung des funktionalen Determinismus herauskristallisieren. Einerseits die europäische Linie mit Team 10, Archigram oder Archizoom, die ihre veränderte Haltung zur orthodoxen Moderne in einer Zurückhaltung von räumlichen Festlegungen im Entwurfsprozess zum Ausdruck brachten, und zum anderen die anfängliche amerikanische Linie, vertreten durch die New York Five oder Architekten wie Venturi und Moore, die sich durch ihre Ideen über „Spiel“ oder „Ambiguität“ mit der Manipulation der Sprache auseinandersetzen. In Asien wären an dieser Stelle Architekten wie Isozaki, Shinohara, und Kurokawa zu nennen, die – ausgebildet in der metabolistischen Disziplin – Alternativen zu den strukturalistischen Modellen mittels zufälliger Prozesse und durch Zuflucht in der Subversion von Sprache suchten.

In den 1980er-Jahren hat diese Richtung von Forschung einen mehr oder minder persönlichen Umschwung durch die Arbeit von Coop Himmelblau, Peter Eisenman, Frank Gehry, Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Daniel Libeskind und Bernard Tschumi erhalten. Im Gegensatz zur vorigen Generation setzten diese so genannten dekonstruktivistischen Architekten ihre Arbeit weniger in Hinblick auf die Manipulation von Sprache fort, sondern durch die Entwicklung einer Serie von Techniken, die es ihnen erlaubte, ihre Arbeit auf einer abstrakten Ebene zu halten, um dem Recycling von architektonischer Sprache, wie es etwa ihre Zeitgenossen praktizier(t)en, zu entkommen. Sämtliche Bestrebungen dieser Gruppe von Architekten laufen somit primär darauf hinaus, die Architektur so zu verändern, dass sie nicht mehr als Quelle für Referenzen fungiert.

Impliziert die Arbeit an der Architektur gewöhnlich den Hang zum Vermittelten, zum Simulierten, zum Virtuellen, so wird mit dem Einsetzen der poststrukturalistischen und postmodernen Kritik, spätestens aber mit dem „dekonstruktivistischen“ Umschwung in den 1980er-Jahren, der aufgebaute Diskurs wegen seines abstrakten Charakters chaotisch, wenn nicht gar unverständlich. Kurz, die Unmöglichkeit, eine allgemein verständliche und kohärente Realität zu konstruieren, erklärt die Diskrepanz zwischen konzeptiven Bestrebungen der Architekten dieser Architekturauffassung und jenen der Bild-Ingenieure von inszenierten Welten.
POST-REALISMUS
Die Position der Dekonstruktivisten deckt natürlich nicht das gesamte Feld der gegenwärtigen architektonischen Produktion ab. An dieser Stelle sei daher eine Richtung angesprochen, die sich in keinerlei Weise die Techniken der Dekonstruktion zu Nutze macht und es trotzdem schafft, die Architektur von jeglichen Verweisen zu entblößen. Was somit bedeutet, dass es auch dieser Gruppe von Architekten nicht gelingen vermag, die Voraussetzungen für einer erfolgreiche Inszenierung einer (anderen) Realität zu erfüllen. Für die Darstellung der charakteristischen Züge dieser Position bedarf eines kleines Exkurses:

Wie bereits erläutert, ist die konstruktivistische Vision von Realität eine der ureigensten Positionen der Architektur. In einer Art Tautologie wird die Realität in zweifacher Hinsicht – nämlich auch durch die Figuration des Gebäudes – repräsentiert. Heute operiert gewissermaßen die gesamte Palette der Bild-Ingenieure der inszenierten Welten bis hin zur unkritischen Postmoderne in diesem Feld. Wie das Schloss von Disneyland deutlich zeigt, werden zum Beispiel die Detaillierung des Steins und seine konstruktive Verwendung (Gewölbe, Torbogen etc.) gezielt als rhetorische Mittel eingesetzt, um (möglichst jeden) Betrachter die jeweilige Realität allgemein verständlich zu suggerieren.

Die kritische Seite der Postmoderne hat uns exemplarisch vorgeführt, dass die Beziehung zwischen Betrachter und dem konstruierten Bild einer Realität nicht immer erfolgreich im Sinne einer glaubwürdigen Illusion sein muss, sondern, ganz im Gegenteil, dass die jeweiligen Elemente einer Konstruktion sich feindlich gegenüber stehen können (oder sollen) und dadurch den konstruierten Charakter der Illusion preisgeben. Mit anderen Worten: Die eingesetzten rhetorischen Mittel stellen zwar jede Menge an Bezügen (zu einer Realität) her, letztendlich läuft aber die Gesamtkomposition der Inszenierung auf die Zerstörung derselben hinaus. (Die ungewollte, aber gesetzlich vorgeschriebene Notausgangsbeleuchtung etwa im Reich der Ägypter im Infotainment-Center World-of-Living zu sehen, wäre hier als Beispiel zu nennen.)

Um beim rhetorischen Mittel des Steins bleiben zu können, muss an dieser Stelle sowohl auf Karljosef Schattner mit seinen in den frühen 1960er-Jahren geplanten Universitätsbauten in Eichstätt als auch auf Herzog & de Meuron mit ihrem in den 1980er-Jahren geplanten Haus Tavole in Italien verwiesen werden. In beiden Bauwerken spielen das Steinmauerwerk als „lokales“ Element und ein Stahlbetonrahmen als „internationales“ Element in einer Art und Weise ineinander, welche die Wand und den Rahmen in eine fast schizophrene Beziehung setzt. Wie Wolfgang Pehnt (11) und Alan Colquhoun (12) an anderer Stelle bereits ausführlich kommentierten, ist es fast unmöglich, das Gebäude als Synthese zu lesen. Verweist die Lagerung und die Fugenausbildung des Trockenmauerwerks noch unmittelbar auf die lokale Gegebenheit bzw. Bautradition, so verweist die strenge Geometrie und Materialität des (Stahlbeton-) Rahmens selbst auf ihre Internationalität. Das heißt, die eingesetzten Codes erfüllen zwar jeweils für sich ihre Rolle als Referent, verunmöglichen aber (ganz bewusst) die Konstruktion einer kohärenten Realität.

Seit Anfang der 1990er-Jahre wird nun eine Tendenz in der Architektur erkennbar, deren Ziel es ist, die verwendeten Materialien in ihrem Einsatz so zu einem Extrem zu führen, dass sie sich mit Ausnahme des puren „Seins“ jeglichen Funktionen – auch jener des Referenten – entziehen. Die Steine der Wand, wie sie in der von Herzog & de Meuron geplanten Dominus Winery im Napa Valley zur Anwendung kommen, erhalten sowohl durch ihre Naturbelassenheit als auch durch die Art, wie sie die Wand konstruieren, eine dermaßen starke physische Präsenz, dass ihre Realität nicht mehr wahrgenommen wird im Sinne einer Repräsentation, sondern realisiert wird wie in einer Art Schock. Der Charakter des „Steinernen“ wird der Wand sozusagen nicht mehr als Bild appliziert, sondern durch die starke Präsenz des Steins selbst verkörpert. Die veränderte Absicht in der Konzeption wird deutlich – nämlich weg von der Realität als ein Effekt von Repräsentation hin zum Realen als Trauma.

Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich seit den frühen 1990er-Jahren auch im Œuvre von Rem Koolhaas. Als Beispiel wären hier u. a. das Congrexpo in Lille (z. B. Polsterung im Vortragssaal) oder das Educatorium der Universität in Utrecht zu nennen. Im Unterschied aber zur Arbeitsweise von Koolhaas gehen Herzog & de Meuron über die Ebene der puren Materialität hinaus und führen selbst die Gebäudestruktur so zur ihrem Extrem, dass das, was vom Betrachter realisiert wird, einzig und allein von der Struktur selbst verkörpert ist. Koolhaas kommentierte die Arbeit der beiden Schweizer einst schon mit folgenden Worten: „Ein Raum ist ein Raum ist ein Raum.“ (13) In diesem Zusammenhang lässt sich nun auch die Abgrenzung zu den Minimalisten ziehen. Die Arbeiten der Minimalisten unterscheiden sich nämlich von jenen der hier erörterten Gruppe von Architekten insofern, als deren Intention nicht unbedingt das „Entblößen“ der architektonischen Elemente auf die Ebene des puren Seins zum Ziel hat. Vielmehr verhält es sich so, dass auf Grund der Tatsache, dass diese Architektur zumal das Resultat eines sehr individuellen und reduzierten ästhetischen Empfinden ist, der Einsatz von Referenten nicht ausgeschlossen bzw. sogar gewollt ist. So enthüllen zum Beispiel die Arbeiten von David Chipperfield (z. B. First Church of Christ) oder von Alvaro Siza (z. B. Kirche in Marco de Canaveses) eine ganze Reihe von Bildern oder erkennbaren Typen, die trotz ihres geometrisch abstrakt gehaltenen Einsatzes (Chipperfield) oder transformierten Zustandes (Siza) Bezüge zu Tradition oder Lokalität herstellen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die gegenwärtige Veränderung der Absichten in der architektonischen Konzeption, nämlich von der Realität als ein Effekt von Repräsentation hin zum Realen als Trauma, die Inszenierung von realen oder virtuellen Welten/ Realitäten äußerst schwierig (Post-Realismus), wenn nicht sogar unmöglich (Dekonstruktivismus) gestaltet.

Die Diskrepanz zwischen den Bestrebungen der Bild-Ingenieure und jenen der Architekten lässt sich nicht nur auf das veränderte Verhältnis zum Konstruierten und dessen Fähigkeit als möglicher Träger von Referenten reduzieren, sondern gründet sich überdies noch auf folgende Missverhältnisse:
DETERMINATION/ INDETERMINATION
Die Fähigkeit des Architekten, die Konstruktion einer Umgebung festzulegen und die Ursache- Wirkung-Beziehung (cause-effect-relationship) der Entwurfsentscheidungen im jeweiligen Kontext der Zeit zu verstehen, zählt seit jeher zu den ureigensten und bestimmenden Praktiken der Disziplin. Die Art und der Umfang an formalen – und in weiterer Folge funktionalen – Festlegungen eines Projektes geben daher sehr klar Auskunft darüber, ob konservative oder progressive Kräfte am Werk sind. Ihr Ziel ist die Befreiung der architektonischen Produktion von Festlegungen, um größtmögliche Freiheit für die Entfaltung unterschiedlich stattfindender Prozesse zu schaffen. Es liegt daher nahe, die konzeptiven Ansätze von inszenierten Welten auch hinsichtlich dieses Kriteriums zu untersuchen.
„When I look for urban archteypes they are not things, they are sequences.“ (14)

Jon Jerde
Die Bestrebungen der Bild-Ingenieure laufen absolut konträr zu den avantgardistischen Bestrebungen der Architekten. Bild-Ingenieure versuchen nämlich, die Abläufe der Besucher mittels räumlicher Strukturen genau so festzulegen, dass diese die Inszenierung nur von ganz spezifischen Punkten aus betrachten bzw. wahrnehmen können. Ein Blick hinter die sprichwörtlichen Kulissen würde zum Scheitern der Illusion führen. Wenn eine aktive Beteiligung der Besucher erlaubt oder gewünscht ist – im Gegensatz zur passiven in Form eines reinen Betrachters –, dann werden zumeist auch diese Abläufe durch räumliche Strukturen so vorprogrammiert, dass sie den „authentischen“ Charakter der Inszenierung unterstreichen statt ihn zu gefährden. Ein Blick auf die Grundrisstypologien der gegenwärtigen inszenierten (realen) Räume wie etwa Malls, Urban Entertainment Centers, Themenparks etc. als auch von den unzähligen von Game Engines unterstützten virtuellen Räumen offenbart, dass das Publikum diese zumal nur über genau festgelegte und in ihrer Bewegung sehr eingeschränkten Wegverbindungen zu durchschreiten sind.
ISOLATION/ INTEGRATION
Maßgebliches Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer (inszenierten) Realität ist die Konstruktion eines kohärenten Bildes. Das heißt, die jeweiligen Bestandteile der Repräsentation dürfen nicht widersprüchliche Aussagen treffen, da dies den inszenierten Charakter der Repräsentation preisgeben und unmittelbar zum Scheitern der Illusion führen würde. Tatsache ist, dass man nur auf eigenem Grund und Boden die Kontrolle über die Kohärenz einer Inszenierung Gewähr leisten kann, nicht aber im Umfeld. Ein überaus gebräuchlicher Schutzmechanismus gegen bildzerstörende bzw. -feindliche Elemente aus der Umwelt ist daher die räumliche und visuelle Abschottung der inszenierten Welten von ihrer Umwelt. Um ein Beispiel zu nennen: Disneyland, Anaheim, ist von der (realen) Außenwelt so abgeschottet, dass man nur die jeweiligen Inszenierungen sowie den Himmel darüber sehen kann. Diese bewusste Abgrenzung wurde schon einmal gefährdet, als 1966 um Genehmigung für den Bau eines Hotels in unmittelbarer Nachbarschaft bei den Behörden angesucht wurde. Disneyland gelang es nur auf Grund seiner wirtschaftlichen Bedeutung für Anaheim, dieses Vorhaben durch das Veto der Behörde zu verhindern. (15)

Selbst die unterschiedlich inszenierten Welten innerhalb von Themenparks sind jeweils durch Kulissen (an Gebäuden) oder einer Landschaft voneinander getrennt und nur über torartige Situationen zu erreichen sind. Etwas unterschiedlich, aber ebenso effektiv sind die Isolations- Strategien der Konstrukteure von Inszenierungen in virtuellen Räumen. Vor dem Einstieg in die andere Welt verdunkelt sich üblicherweise der Bildschirm und blendet somit „Fenster“ anderer Arbeits- oder Spielwelten aus.

Im Unterschied zu den Isolationsbestrebungen der Bild-Ingenieure lassen die Bestrebungen der Architekten seit Ende der 1980er-Jahr eine deutliche Tendenz hin zur Integration in die Umwelt erkennen: einerseits, weil die räumliche und funktionale Integration des Umfeldes als notwendig für die Existenz des eigenen Programms erkannt wurde, und andererseits durch die Trendwende hin zur infrastrukturellen Architektur, deren Ziel der Verzicht auf Gebäude samt deren unvermeidlichen Begrenzungen und Limitierungen ist – zu Gunsten von formlosen, kontinuierlichen und das Umfeld integrierenden „Lava”-artigen Topografie, die das „freie“ Entfalten von jeder Menge realer (also nicht inszenierter) Ereignisse zulässt. Die Arbeiten von Rem Koolhaas (Yokohama Urban Ring), Alejandro Zaero Polo (Myeong- Dong Plaza Seol), Peter Eisenman (Nördliches Derendorf), Ben Van Berkel (Bus Terminal, Arnhem) sowie in weiterer Folge von Bernard Tschumi (Parc de la Villette) und Enric Miralles (Public Park, Mollet) wären an dieser Stelle zu nennen.
EPILOG
Es ist die unerwartete Realität des beginnenden 21. Jahrhunderts, dass wir nun nach dem Agrar- und Industriezeitalter im Erlebniszeitalter leben – offensichtlich die letzte Phase der gesellschaftlichen Modernisierung. Der Erlebniskonsum, die ständige Suche nach Thrill, Fun und nochmals Fun, wurde zur hauptsächlichen Aktivität der Menschheit. Unmerklich untergräbt die Widernatürlichkeit dieser Aktivität alles, was wir bisher gewohnt waren, Zivilisation zu nennen; sie verändert Parameter, und stillschweigend etabliert sie ein unausweichliches Paradoxon – ein System der gleichzeitigen Übersättigung und Unterernährtheit. Manchmal, ob im Kabarett oder auf der Volksbühne, sind wir blind für das, was uns am meisten gefährdet, und zwar genau für jene Kräfte, die unser Schicksal bestimmen – und so verhält es sich auch mit der Situation des Architekten gegenüber dem Erlebniskonsum.

Die methodischen Unterschiede zwischen Architekten und Bildingenieuren zeugen davon, dass es für Architekten zunehmend schwierig wird, in realen und virtuellen Räumen zu operieren. Pixel- und Raummanagement, die unerlässliche Voraussetzung für das gelingen von Erlebniswelten, wurde Bildingenieuren überlassen. Für eine Profession, die auch in Zukunft Interesse hat in einem Terrain zu arbeiten, dessen Umfang sich unaufhaltsam und in zunehmendem Ausmaß etabliert, stellt sich demnach die Frage, wo sie ansetzen kann, ohne sich dabei anzubiedern oder die eigentlichen Ziele der Architektur zu verzerren.

Dieser Text basiert auf einem Essay, der zuvor in Architektur Aktuell Nr. 4/2001 veröffentlicht wurde.

(1)
Malms, Jochen. „Vision Urlaub 2020“, in: Modern Times, Juli 1998, S. 44–51.zurück

(2)
IT’S REAL: TOMORROW’S TRUTH TODAY, Diesel Magazin, 2000 Spring Summer Edition: Cover.zurück

(3)
Huyssen, Andreas. „Fear of Mice – The Transformation of Times Square“, in: Harvard Design Magazine, Winter/Spring 1998, S. 26–28.zurück

(4)
Ross, Andrew. The Celebration Chronicle, Ballantine Publishing Group, New York 1999.zurück

(5)
Virgil Widrich zitiert in Ruzicka, Johanna. „Webfilme lancieren Botschaften“, in: Der Standard. 3. Juli 2001: Online-Ausgabe.zurück

(6)
Venturi, Robert, Denise Scott Brown und Steven Izenour: Learning from Las Vegas, MIT, New York 1978.zurück

(7)
Venturi, Robert, Denise Scott Brown. „Las Vegas after its classical age“, in: Iconography and electronics upon a generic architecture: a view from the drafting room, The MIT Press, Cambridge 1996, S. 123–128.zurück

(8)
Jencks, Charles. „Unterhaltungsarchitektur“, in: Arch+, Nr. 114/115, Dezember 1992, S. 111–113.zurück

(9)
„Times Square“. ANY (New York Stories), Nr. 22, S. 22.12–22.13zurück

(10)
Isenegger, Peter. „Durchmischung aus der Retorte“, in: Der Standard, Album, 19. August 2000, S. 5.zurück

(11)
Pehnt, Wolfgang: Karljosef Schattner. Ein Architekt aus Eichstätt, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1988, S. 21.zurück

(12)
Colquhoun, Alan. „Kritik am Regionalismus“., in: Werk, Bauen+Wohnen, Nr. 3, März 1993, S. 45–52.zurück

(13)
Koolhaas, Rem. „Neu Disziplin“, in: Arch+, Nr. 129/130, Dezember 1995, S. 114.zurück

(14)
Jerde, Jon: You Are Here, Phaidon Press, London: 1999, S. 90.zurück

(15)
Westcott, John: Anaheim: City of Dreams: An Illustrated History, Windsor Publications, 1990, S. 76 .zurück