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Interaktivität


'Masaki Fujihata Masaki Fujihata

„Interaktivität“ ist der Schlüssel zu einer neuen Kunstform. Interaktion stellt die häufigste zwischenmenschliche Aktivität dar. Menschen sind interaktive Lebewesen, die Objekte herstellen, miteinander sprechen, Texte schreiben und diese an andere weitergeben. “Interaktive Kunst" ist der Prüfstand für diese aufstrebende Kunstform, die eine völlig neuartige Ästhetik des Lesens/Schreibens, der Kommunikation und der Erinnerungsspeicherung schaffen wird. Auf dem Weg dahin gilt es jedoch einige Hürden zu überwinden, die uns daran hindern, die Bedeutung der Interaktivität zu verstehen. Unerwartete Entdeckungen, ausgelöst durch technologische Errungenschaften, die berauschende Geschwindigkeit der Computerhardware, ansprechende Designs und der Reiz innovativer Schnittstellen – sie alle verstellen den Blick auf die Interaktivität selbst. Es wurde allerlei falsche Kritik geäußert, weil man nur die Objekte, die dem Benutzer als Schnittstelle dargeboten werden, betrachtet hat. Gewiss lassen sich durch die Entwicklung neuer Schnittstellen neue Handlungsformen zwischen Menschen und Systemen realisieren. Doch das alleine ergibt noch lange keine neue Interaktionsform. Die wahre Kunst der Interaktion geht weit darüber hinaus.

EINE NEUE FORM VON KUNST
„Interaktivität“ kann die Kunsterfahrung des Einzelnen – und auch die Form der Kunst selbst – verändern. Die Funktion der Interaktivität macht den Betrachter zum Teilnehmer und somit zur treibenden Kraft seiner Kunsterfahrung. Der Betrachter wird so zum aktiven Teilnehmer und der Künstler zum Server eines interaktiven Systems. Der User ist der Client, der Künstler der Server – wie in einem vernetzten System. Ein solches System ist kein statisches Objekt, es ist dynamisch und reagiert auf den Teilnehmer genau so, wie es der Künstler vorgibt. Die Ideen des Künstlers sind in die Struktur eines lebendigen, dynamischen Systems eingebettet. Ein Kunstsystem ist die Darstellung eines Lebensmodells, eines Beziehungsmodells, eines lebendigen Organismus, den wir als Subsytem des sich entwickelnden Selbst bezeichnen können. Es reflektiert einen Aspekt des Lebens durch menschliche Interaktion. In der Kunstgeschichte der Moderne haben sich zahlreiche verschiedene Kunstformen herausgebildet. Impressionismus, Kubismus, Surrealismus und andere Bewegungen mussten sich zur Fortsetzung ihrer Aktivität jeweils um eine eigene Forme bemühen. Ihr Einfluss bleibt bis heute großteils in Museumsobjekte eingeschlossen – Objekte zum Anschauen. Eine Möglichkeit, diese Objekte zu verstehen, besteht darin, mit Hilfe unserer Fantasie zu ergründen, was sie uns zu bieten haben und welche Interaktionen mit ihnen stattfinden. Dennoch war es bisher unmöglich, Interaktion selbst in irgendeiner Form in einem Museum zu sammeln und zu speichern. Durch den Einsatz von Computertechnologie wird nun der Vorgang der Interaktion fassbar; so entsteht eine neuartige Lese-/Schreibumgebung, die den Kunstschaffenden und den Zuseher/Teilnehmer verbindet. Interaktivität ist weder künstlerisches Element noch Manifestation von Kunst. Im Prinzip erfordern alle Kunstformen Interaktion, doch bei der „interaktiven Kunst“ steht die Interaktion selbst im Mittelpunkt. Interaktive Kunst ist eine neue Methode, künstlerisches Handeln bzw. Kunsterfahrung zu konservieren. Denken wir z. B. daran, was passiert, wenn wir ein Gemälde betrachten: Zuerst lesen wir die semantischen Codes hinter dem Bild. Haben wir alle Codes eines Gemäldes gelesen, verlassen wir in der Regel die Galerie und beginnen darüber nachzudenken, was wir da gesehen haben und was es bedeuten könnte. Während dieses Analysevorgangs beginnt eine Interaktion zwischen Codes, d. h. das Gehirn setzt verschiedene sinnvolle Codes in Beziehung zueinander; gleichzeitig produziert es einen neuen Code, um diese verschiedenen Codes zu verstehen. Einen Bezug zwischen diesen unterschiedlichen Codes herzustellen, ist ein hoch komplexer kognitiver Vorgang; der Betrachter sollte über ein entsprechendes Vorwissen über Codes wie Symbole, Icons und Bilder verfügen und zumindest ein wenig Erfahrung darin haben, diese zueinander in Beziehung zu setzen. Wobei der Vorgang des Betrachtens und des Denkens in diesem Fall nicht gleichzeitig abläuft; es handelt sich um getrennte Prozesse. Ein interaktives System dient dazu, diese beiden Vorgänge für die BenutzerInnen zu einem einzigen Echtzeitprozess zu verschmelzen: Erfahrung und Verstehen werden eins. Interaktive Kunst bietet den BenutzerInnen eine künstliche Umgebung, in der sie durch Erfahrung lernen können. Diese Kunstform deutet nicht nur auf eine neue Beziehung zwischen Raum und Zeit hin, sondern erfordert auch eine neue Form von Kritik für eine neuartige Ästhetik. Sie ist mit keiner bisherigen Kunstform vergleichbar.
OFFENHEIT VERSUS RESTRIKTION
In der Komplexitätstheorie, die die Nicht-Echtzeit-Interaktion zwischen unseren Handlungen und deren Folgen in unserer Umwelt erklärt, sind zum Beispiel Ursache und Wirkung zeitversetzt. Die Wirkung bleibt gänzlich offen. Normalerweise ist die Reaktion so komplex, dass wir nicht erkennen können, in welchem Ausmaß wir zur endgültigen Wirkung beigetragen haben. Interaktive Kunst kann man als Kunst beschreiben, die sich so verhält wie die Komplexitätstheorie: Sie reagiert auf etwas Komplexes, mit dem sie nie zuvor konfrontiert war. Auf das Bespielen durch einen Benutzer reagiert interaktive Kunst mit unendlich vielen Antworten auf verschiedene Aktionen. Ein Werk nach diesen Vorgaben zu installieren, ist sehr optimistisch, da die Benutzer so nur zufällig bis zum Kern der Installation vordringen können. Dennoch trifft es in gewissem Maße zu, dass der Benutzer ein Kunstwerk verstehen kann, wenn es eine bestimmte Funktion (z. B. im Rahmen der Komplexitätstheorie) hat und versucht, dem Benutzer diese Funktion deutlich vor Augen zu führen. Vielleicht ist das Werk aber nicht interessant genug, wenn man es verstehen kann – weil es dann zu einfach ist. Dieses Verständnis von „interaktiver Kunst“ stammt aus der wissenschaftlichen Forschung. Kunst ist nicht mit wissenschaftlichen Experimenten gleichzusetzen. Stellt man eine interaktive Arbeit in eine Galerie oder ein Museum, so kann es kein Laborexperiment sein. Kunstwerke sollten ohne jegliche Anleitung acht Stunden täglich „live“ funktionieren und monatelang Bestand haben. Künstlerische Arbeiten sollten keine mathematischen Funktionen oder technologische Innovationen demonstrieren. Ein Laborexperiment kann man nicht rund um die Uhr der Öffentlichkeit vorführen. Eine künstlerische Arbeit ist jedoch ein Objekt, das zur öffentlichen Vorführung bestimmt ist. Die breite Öffentlichkeit kann nicht den ganzen Tag darauf warten, dass durch Interaktion ein spezielles Ereignis ausgelöst wird. Daher bedarf es einer verdichteten Form, damit die Menschen Interaktivität im Museumskontext verstehen.

Somit schließt sich der Kreis zum Verständnisprozess: Wann wird uns Sinn bewusst? Gelten für eine Funktion/ein System gar keine Parameter, so können die Benutzer kaum auf ein Ereignis stoßen, das alle Aspekte der Funktion/des Systems reflektiert. Jeder beliebige Zufall würde aus der Perspektive des Lesers als der ultimative Parameter der Funktion/ des Systems erscheinen. Um die bestmöglichen Voraussetzungen zum Verständnis der Funktion/des Systems zu bieten, bedarf es gut durchdachter Einschränkungen. Dies ist eine wichtige Technik, wenn man bei der Konstruktion eines Systems eine Funktion definieren will. Durch gezielte Einschränkungen wird es möglich, das Kunstwerk vom Experimentallabor in den öffentlichen Raum zu transferieren. So wird auch der Standpunkt des Autors erkennbar, die Position, die er einnimmt, seine Vision, sein Denken, seine intendierte Botschaft. Die Einschränkung funktioniert wie eine Mauer, die es ermöglicht, dass sich aus dem unendlichen Raum (aus der Leere) ein definierter Raum materialisiert. Sie trennt das einzelne Sandkorn von den Abermillionen anderen Sandkörnern eines ganzen Strandes. Die Einschränkungen bieten den BenutzerInnen einen Routenplan für die Navigation durch interaktive Umgebungen, geben die richtige Leseabfolge vor und bieten eine gewisse räumliche Orientierung. Die Einschränkungen selbst sollten ästhetisch ansprechend sein. Kreative Einschränkungen für interaktive Umgebungen zu gestalten, erfordert die Fähigkeit, ein bestimmtes Verhalten zwischen Benutzer und System zu abstrahieren. Es handelt sich, anders gesagt, um eine Sprache der Interaktivität – eine Grammatik, die vorgibt, wie man Interaktivität benutzt. Ästhetisch anspruchsvolle Einschränkungen aktivieren die vor dem System stehenden BenutzerInnen und ermöglichen es ihnen, mit dem System zu tanzen. Am besten ist das Design einer interaktiven Arbeit dann, wenn es eine angenehme Atmosphäre erzeugt, die die BenutzerInnen anregt und aktiviert. Sind die vorgegebenen Einschränkungen schlecht, bleibt der Benutzer ein skeptischer, unbeteiligter Betrachter.
VOM DOKUMENT ZUM EVENT
Gemäß einer traditionellen Definition von Kunst entsteht ein Kunstwerk durch das Einwirken eines menschlichen Körpers auf Material in Echtzeit, wobei einige der Kunstobjekte, etwa die Leinwand, nach dem Ringen des Künstlers/der Künstlerin mit dem Material konserviert werden. Gemälde sind Aufzeichnungen von Handlungen, Dokumente der Interaktion. Mit ihrer Fantasie rekonstruieren die BenutzerInnen die Interaktionen zwischen dem Künstler und seinen Materialien. Die aufstrebende interaktive Kunst wird keine Objekte konservieren, sondern die Interaktion mit einer Funktion/einem Objekt fördern und so einen Energiezustand/ einen Ort generieren, wo das Ringen der TeilnehmerInnen in Echtzeit erfahrbar wird. Gerade im Zuge dieses Echtzeitprozesses aktiviert der Benutzer sein Denken und simuliert künftige Ereignisse. Weit über das bloße Lesen bzw. Schreiben hinaus kann die Echtzeithandlung die Schranken zwischen dem schöpferischen Ausdruck des Künstlers und der Erfahrung des Benutzers sprengen. Es handelt sich nicht um ein Dokument; vielmehr findet ein Ereignis im Hier und Jetzt statt. Entscheidend ist es, eine Möglichkeit zur Aufzeichnung von Ereignissen zu entwickeln.

In den frühen 60er-Jahren konstruierte D. Engelbart einen Computer zur interaktiven Verwaltung von Dokumenten. Inzwischen ist diese Entwicklung, wie wir alle wissen, sehr weit fortgeschritten. Dennoch ist das interaktive System, das ich hier meine, kein System zum Lesen/Schreiben von Dokumenten; sein wichtigster Aspekt besteht in der Frage, wie sich das zwischen Benutzer und System stattfindende Ereignis organisieren lässt, wie eine gemeinsame Entwicklung von Benutzer und System zu erreichen ist. Der erste digitale Computer wurde zur maschinellen Berechung für die Artillerie konstruiert. Der nächste sollte als Zählmaschine für die Präsidentschaftswahlen dienen. Heute verwenden die Menschen Computer wie ein Büro zur Verwaltung von Dokumenten oder als Medienterminal. Ich möchte vorschlagen, Computer speziell dafür zu designen, für das sich entwickelnde Selbst Ereignisse in Echtzeit zu organisieren – als Spiegelbild unseres Lebens und als Hilfsmittel für die Suche nach dem Sinn desselben.

Das Netzwerk stellt darüber hinaus den interessantesten Aspekt in der Entwicklung der Computerwissenschaften dar. Es dient nicht nur zum Versenden und Empfangen von Dokumenten, sondern auch zur Steuerung und Abwicklung zwischenmenschlicher Ereignisse. Zu diesem Zweck muss interaktive Kunst ein avantgardistisch-radikal-experimentelles Modell bieten.
SCHNITTSTELLENENTWICKLUNG
Der sichtbare Teil der „interaktiven Kunst“ ist ihre Schnittstelle. Ein Monitor, eine Maus, ein Keyboard, ein Trackball, ein paar Sensoren, ein Tisch bzw. der Fußboden und Bildprojektionen sind alles, was man im abgedunkelten Ausstellungsraum sieht. Wenn ein Betrachter (nicht ein Teilnehmer) den Raum betritt, so möchte er die Bedeutung dieser Objekte ohne jegliche Interaktion erfassen können; BetrachterInnen interessieren sich nicht dafür, was bei der Interaktion herauskommen könnte. Im schlimmsten Fall findet überhaupt keine Interaktion statt, sondern der Betrachter beobachtet nur die Objekte und die Interaktionen der anderen – genau so, als würde er Gemälde analysieren.

Die Schnittstelle ist sichtbar, doch die Interaktion ist unsichtbar. Um unseren Blick auf die Interaktivität zu richten, müssen wir uns den Unterschied zwischen der Rolle der Schnittstelle und der Funktion der Interaktivität bewusst machen. Die Rolle einer Schnittstelle ist es, die im System enthaltenen Sinnesinhalte zu visualisieren und Transparenz herzustellen. Schnittstellen sind Objekte, die der Benutzer direkt manipulieren kann. Gleichzeitig soll für den Benutzer klar werden, wie die Schnittstelle funktioniert. Beim Design der Objekte bzw. Symbole und Icons auf dem Bildschirm ist eine klare Schnittstellensemiotik zu beachten. Ist das Design erfolgreich, können Objekte und Zeichen den Betrachter zur aktiven Teilnahme verführen. Im schlimmsten Fall fungiert eine hübsch dekorierte Oberfläche nur als leicht verständliches Motiv für Pressefotos und produziert so den falschen Effekt. Sie ist zwar werbewirksam, hat aber mit interaktiver Kunst nichts zu tun.

Das Design der Icons auf einem Screen-Display, die als Schnittstelle fungieren, stellt dem Benutzer einen Inhalt zur Verfügung, der eine ähnliche Rolle spielt wie die Wörter in einem Satz. Wörter sind Satzbausteine, und jedes einzelne hat verschiedenen Bedeutungen. Genauso verfügen verschiedene Arten von Schnittstellen über verschiedene Links zu unterschiedlichen Inhalten. Da die Schnittstelle die Oberfläche der Interaktivität darstellt, ist beim Design größte Sorgfalt angebracht.

Um bei dieser Metapher zu bleiben: Nur über die Schnittstelle kann man mit dem interagieren, was hinter der Schnittstelle liegt, also mit bestimmten Sinnesinhalten. Man könnte Interaktivität als den Bereich bezeichnen, in dem Sätze gebildet werden. Dieser Bereich wird von einer Art Grammatik beherrscht, die jedoch nicht einer Grammatik gleicht, die vorschreibt, wie man Sätze bildet, sondern eher einer, die einem sagt, wie man sie benutzt. Sie ist gemäß der Interaktion mit dem System intuitiv zu lesen/zu verstehen. Wie bei den natürlichen Sprachen ist die Kohärenz dieser Grammatik wichtig für die Konstruktion des Zusammenspiels von Benutzer und System. An dieser Stelle kann der Benutzer seine Zeit genüsslich dem Verständnis der unterschiedlichen Grammatiken der verschiedenen interaktiven Kunstsysteme widmen. Dieser grammatikalische Verständnisprozess steht im Mittelpunkt interaktiver Kunstsysteme; es geht dabei nicht darum, die Bedeutung jedes einzelnen Wortes zu verstehen (eine Schnittstelle sollte transparent sein).

Hat der Teilnehmer die Grammatik einmal durchschaut, so kann er ohne Probleme lesen. Gleichzeitig kann er auch selbst Sätze bilden. Eine interaktive Umgebung ermöglicht es dem Benutzer, im System gleichzeitig zu lesen und zu schreiben. Schreiben ist Lesen. Der Benutzer ist Teil des Systems oder das System ist Teil des Benutzers. Das System programmiert die Interaktion des Benutzers und der Benutzer tanzt mit dem System. Dies ist der ultimative Ort, das ultimative Feld, wo sich das Selbst in Echtzeit entwickeln kann, ein Ort, wo der Geist des Benutzers wach ist und wo der Benutzer emotional genug sein kann, um zu leben.

Wenn eine interaktive künstlerische Arbeit erfolgreich ist, spricht sie Kinder ganz besonders an. Das ist ein gutes Zeichen für eine neue aufstrebende Kunstform. Neue Dinge kennen zu lernen, gehört zu den täglichen Aufgaben von Kindern. Wissen zu erwerben ist ihre Grundbeschäftigung. Sie scheuen nicht davor zurück, ältere Eindrücke zu löschen, um etwas Neues zu erfahren – und das gelingt ihnen, indem sie neue Formen der Interaktion erfinden. Frühere Intelligenzformen interessieren mich nicht. Wissen heißt für mich interagieren.