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Digitale Konservierung: Die Aufzeichnung der Neukodierung
Die Strategie der Dokumentation

'Alain Dépocas Alain Dépocas

“Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information?"

T.S. Eliot
(1)
EINLEITUNG
Am Anfang steht die Hypothese, dass das verstärkte Bemühen, neue Medienkunstwerke zu konservieren, unbedingt auf strukturierter Dokumentation aufbauen muss.

Die Dokumentation sowohl der Arbeiten als auch des jeweiligen Kontexts, in dem sich diese entfalten, ist ein wesentlicher Faktor der Konservierung. Angesichts der enormen Volatilität so mancher Online-Projekte ist es tatsächlich mehr als wahrscheinlich, dass in vielen Fällen die Dokumentation als einzige Spur eines Werkes bestehen bleiben wird. Wahren Wert erlangt also eine Sammlung digitaler Kunst erst durch Dokumentation, Metadaten, Kontextualisierung und die Garantie, langfristig auf diese Dokumentation zugreifen zu können. Es bleibt abzuwarten, welche Dokumentationsstruktur sich am besten eignet. Besonders wichtig ist es, mit verschiedenen Formen der Verbreitung dieser Dokumentation zu experimentieren, z. B. durch das Testen verschiedener Datenbankschnittstellen. Dies sind einige der Herausforderungen, vor denen das Zentrum für Forschung und Dokumentation (Centre for Research and Documentation, CR+D) der Daniel Langlois Foundation heute steht.
AUS DER VERGANGENHEIT LERNEN: PANORAMEN AUS DEM 19. JAHRHUNDERT
Von den Panoramen des 19. Jahrhunderts – jenen großflächigen Rundgemälden, die wohl als erste Ansätze einer Immersionstechnik gelten können – blieb außer Augenzeugenberichten und Dokumentationen kaum etwas erhalten. Die „Objekte“ selbst sind praktisch alle verschwunden. Heute gibt es nur noch einige wenige Exemplare. Doch wie können wir heute ein Panorama wirklich „erleben“? Noch existierende Überreste zu besichtigen, hinterlässt weniger Eindruck, als man erwarten würde. Es fehlt der gesamte kulturelle Kontext. Paradoxerweise können wir heute v. a. dank der vorhandenen Dokumentation nachvollziehen, welche Wirkung Panoramen auf das Publikum des 19. Jahrhunderts hatten und um welche Darstellungsprobleme es dabei ging. Die Fähigkeit, das Wesen des Panoramas in seinem Repräsentationskontext zu verstehen, scheint mir heute mindestens ebenso wichtig wie die wenigen noch erhaltenen Panoramen selbst. (2) Natürlich können wir hier erwartungsgemäß eine Parallele zur neuen Medienkunst von heute ziehen. Genügt der Versuch, neue Medienkunst zu konservieren und einfach darauf zu vertrauen, dass es auch in Zukunft kompatible Geräte geben wird, mit denen man auf diese Werke zugreift? Ich fürchte nicht. Wie bei den Panoramen des 19. Jahrhunderts werden „Objekte“ und „Geräte“ nicht ausreichen. Wir werden auch den Kontext aufzeichnen müssen. Ohne die Basis einer strukturierten Dokumentation werden die besten Konservierungsversuche scheitern.
Natürlich ist das Panorama nur ein Beispiel. Es gibt zahlreiche andere Fälle für das gänzliche, oder beinahe gänzliche, Verschwinden von Medien. (3) Manchmal geht die spezifische Verwendungsform einer Technologie verloren, wie etwa bei den Werken bzw. kulturellen Aktivitäten von Fred Forest und Orlan im französischen Minitel. Von diesen Praktiken bleibt heute nur noch eine dokumentarische Spur.
BEDEUTUNG UND HERAUSFORDERUNG DER DOKUMENTATION FÜR DAS ARCHIVIEREN UND KONSERVIEREN VON MEDIENARBEITEN
Traditionellerweise umfasst Dokumentation drei Arten von Aktivität:
  • Recherche: Lokalisieren der relevanten Daten

  • Konservierung: Haltbarmachen der Daten

  • Verbreitung: Zurverfügungstellen der Daten
Allzu oft wird in der Praxis nur der erste Schritt berücksichtigt. Auch heute noch verfolgen nur wenige Organisationen eine gezielte Politik zur Verwaltung von Dokumentation und Forschungsergebnissen. Die Forschung geht zumeist Werk für Werk vor, ohne spezifische methodologische Strukturen, ohne Rücksicht auf die Frage, ob diese Art der Datenkonservierung die Wiederverwendung der Werke oder gar ihre weitere Verbreitung zulässt. Nachdem Kunstformen, die sich der neuen Technologien bedienen, in immer stärkerem Ausmaß auf dokumentarische Unterstützung angewiesen sind, ist eine massive Verbesserung der Verwaltung von Forschungsdaten unerlässlich. Eine strikte Dokumentationspraxis ist umso wichtiger, da die Informationsquellen der neuen Medienkunst relativ spärlich und unstrukturiert sind – und ebenso flüchtig wie die Werke selbst.

Darüber hinaus müssen wir die Tatsache kompensieren, dass jene Organisationen, die die traditionellen Werkzeuge der Kunstforschung (Zeitschriften, Referenzindizes) produzieren, sich bisher im Grunde noch nicht ernsthaft mit der kulturellen Aktivität im Web befassen. Im Art Index wird man z. B. vergeblich nach dem Eintrag Rhizome suchen ... Natürlich findet man die wichtigsten Analysen, Kommentare und sogar Dokumentationstätigkeiten zum Thema neue Medienkunst im Web oder in anderen digitalen Formaten. Dennoch erleichtert uns dies – entgegen möglicher Erwartungen – keinesfalls den Zugang zu diesen Werken, zumindest nicht auf lange Sicht.

Das CR+D der Daniel Langlois Foundation baut gerade in diesem Kontext eine umfassende Dokumentationssammlung auf, die die Geschichte, die Werke und Praktiken der elektronischen bzw. digitalen Medienkunst der letzten 40 Jahre abdecken soll. Diese Informationen sollen auch Forschern zur Verfügung gestellt werden. Die Sammlung umfasst bereits wichtige Dokumentationen und Archive wie Images du Futur Documents Collection, The Steina and Woody Vasulka Archives und The Experiments in Art and Technology (E.A.T.) Document Collection. Durch multiple Querverweisindizes verbindet die relationale Datenbank des CR+D Daten zu Dokumenten, Einzelpersonen, Organisationen, Events, Konzepten und Kunstwerken und bietet so die Möglichkeit, die vernetzte Information aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. (4)
DIE DOKUMENTATION NEUER MEDIENKUNST
Die Dokumentation neuer Medienkunst wirft einige Fragen auf. In erster Linie müssen wir den temporären Charakter elektronischer Kunstwerke bzw. der neuen Medienkunst akzeptieren – und somit berücksichtigen.

Die Archivierung und Dokumentation des Kurzlebigen mag uns paradox erscheinen, doch die Notwendigkeit dazu ergibt sich, sobald die Technologien hinter dem flüchtigen Werk diese kurzlebige Praxis ermöglichen. Durch die neuen Informationstechnologien und die digitalen Medien werden „Museum“, „Bibliothek“, „Archiv“ bzw. „Dokumentationszentrum“ immer näher zusammenrücken. Diese Konvergenz lässt sich teilweise dadurch erklären, dass immer offensichtlicher wird, dass sich neue Medienkunstwerke am besten durch Dokumentation – und durch die Verbreitung der Arbeiten und der dazugehörigen Dokumentation – konservieren lassen. Darüber hinaus sind in diesem neuen Kontext künstlerische Arbeit und Dokumentation nicht mehr voneinander zu trennen – sie verhalten sich vielmehr wie die zwei Seiten derselben Medaille.

Die Herausforderung bei der Dokumentation neuer Medienarbeiten liegt sowohl für die Phase der Datensammlung als auch für die der Datenverbreitung in der Struktur dieser Dokumentation. Ironischerweise stellt uns die Konservierung und Verbreitung dieser Dokumentation vor ähnliche Probleme wie die Konservierung und Verbreitung der Werke selbst. Es gilt, möglichst viele Aspekte jener künstlerischen Aktivitäten, die mit neuen Technologien arbeiten, zu erfassen und die Weiterentwicklung dieser neuen Kunstformen im Auge zu behalten. Weiters gilt es,
  • nach dem Vorbild der neuen Medien selbst eine offene, kollaborative, lebendige und aktualisierbare Dokumentation zu schaffen,

  • einen Pfad vorzuschlagen, um die Struktur der Datenbank, die diese Dokumentation verwaltet, weiter zu verfolgen,

  • die Präsentation und Verbreitung der Dokumentationen digitaler Kunst neu zu überdenken und ein Labor einzurichten, wo neue Schnittstellen zur Veröffentlichung von Forschungsdaten getestet werden können.
Die Dokumentation von neuer Medienkunst darf nicht nur bloße Illustration, sondern muss auch Interpretation sein, muss eine Haltung einnehmen. Diese Haltung muss darin zum Ausdruck kommen, dass die Dokumentation auf derselben Struktur aufbaut wie ihre Objekte. Die Dokumentation steht somit hinsichtlich einer vernetzt strukturierten Arbeit, die aus Hyperlinks besteht und ihrem Wesen nach nicht linear ist, vor der Herausforderung, eine Landkarte vorzuschlagen, eine Schnittstelle, die die Erkundung der Arbeit ermöglicht, und dem Versuch zu widerstehen, die Arbeit letztgültig zu erfassen oder abzuschließen.
DAS NEUE WESEN DES ARCHIVS
All dies muss aus der Perspektive eines neuartigen Archivs heraus geschehen. In seinem Text Die Kunst des Archivierens stellt Geoffrey Batchen fest:

Das Archiv ist nicht länger Angelegenheit diskreter Objekte (Dateien, Bücher, Kunstwerke usw.), die an spezifischen Orten (Bibliotheken, Museen usw.) gelagert oder von dort abgerufen werden. Heute ist auch das Archiv ein kontinuierlicher Datenstrom, ohne Geografie, ohne Behältnis, in einem ununterbrochenem Übertragungszustand und daher ohne zeitliche Restriktion (ständig im Hier und Jetzt verfügbar). (5)

Das Web zwingt uns, unser Verständnis des Begriffs „Konservieren“ und unsere Definition des Begriffs „Archivieren“ neu zu überprüfen und zu überdenken. In einem Kontext, wo alles zum Archiv wird, wo der sofortige Zugriff auf ein riesiges Datenvolumen möglich geworden ist, im Kontext eines Mediums der Verfügbarkeit verlagert sich die Definition von Archiv von der Vorstellung der Akkumulation, des Speicherns von Informationen hin zur Navigation, zu Links zwischen Einzelinformationen, zur Abbildung, zur Fähigkeit, relevante Informationen zu identifizieren. Wie Freuds berühmter Wunderblock ist der mit dem Internet verbundene Computerbildschirm virtuell in der Lage, den gesamten Inhalt des Web anzuzeigen, wenn auch nur Seite für Seite.

Herzstück eines Archivs ist der Katalog. Dies gilt in verstärktem Maße für das Web. Ein Dokument oder ein Werk im Web existiert nicht wirklich, solange es nicht verlinkt ist. Es verhält sich damit wie mit einer Zeichnung, die man an einen Telefonmasten gepinnt hat.
Sie existiert zwar, doch nur unter der Voraussetzung, dass jemand
  • vorbeikommt,

  • sie bemerkt,

  • sie als Kunstwerk erkennt.
Daraus ergeben sich folgende Fragen: Existiert eine Web-basierte Arbeit ohne Querverweis aus dem Index? Konservieren wir Websites oder Indizes? Dass ein Querverweis auf das Werk besteht, ist also Voraussetzung für seine Existenz. Es zugänglich zu machen und darauf zuzugreifen, heißt schon, es zu konservieren! Man sollte nicht vergessen, dass eine Website bereits durch den Zugriff selbst archiviert wird! Wir archivieren Websites, ohne es zu wissen, da die Inhalte der besuchten Sites im Cache-Speicher unserer Computerfestplatte gespeichert werden. So sichert der Zugriff auf eine Site deren Fortbestand.

Somit verhält es sich genau umgekehrt wie in der analogen Welt, wo der Zugriff auf das Originaldokument durch die Konservierung eingeschränkt wird. In der digitalen Welt wird Information nur durch Interaktion konserviert. Konservierung und die Verpflichtung, langfristige Zugriffsmöglichkeit zu garantieren, sind heute untrennbar miteinander verbunden. Es gibt keine Konservierung ohne Verbreitung, und die Verbreitung ist wiederum Voraussetzung für die Konservierung. Darüber hinaus existiert der Inhalt einiger Sites, auf die wir zugreifen, nur im Moment des Zugriffs. Somit existiert der Inhalt quasi erst durch den Zugriff selbst.
DIE BESONDERE NATUR DER NEUEN MEDIENKUNST
Die Frage nach dem spezifischen Wesen und der Definition von neuer Medienkunst ist Grundvoraussetzung für das Verständnis der mit ihrer Archivierung und Dokumentation verbundenen Themen. Je nachdem wie wir die Natur der neuen Medienkunst definieren, ändern sich Methoden, Werkzeuge und Konsequenzen des Archivierens ganz wesentlich. Eine neue Typologie der neuen Medienkunst könnte helfen, Konservierungsbedingungen festzulegen und den Charakter der betroffenen Arbeiten bei der Konservierung und Dokumentation besser zu berücksichtigen.

Wenn wir etwa damit beginnen, von „künstlerischen Aktivitäten“ oder sogar „kulturellen Aktivitäten“ statt von einem statischen Kunstwerk zu sprechen, dann verlagern wir uns von einer Dynamik des Archivierens zu einer Dynamik der Aufzeichnung.
Viele Neue Medien lassen sich nicht als Kopien transponieren – zumindest nicht vollständig –, sondern nur in Form von Momentaufnahmen (in einer Realisierung ihrer zahlreichen möglichen Zustandsformen). Dies gilt für die meisten Web-Kunstwerke, vor allem für jene, die mit Interaktivität arbeiten. Alternativ dazu definieren wir das Web als einen „Event- und Kommunikationsraum“; wir verlassen den Bereich des eingegrenzten, stabilen Objekts und begeben uns in die Welt der Mobilität. Wenn das Web ein Raum ist, ist es abbildbar. Wie aber bildet man Mobilität ab? Eine Möglichkeit wäre das Aufzeichnen von Pfaden.

Wenn eine Web-Arbeit, wie Simon Gibbs in einem unter The Shock of the View (6) veröffentlichten Text feststellt, nicht ein Objekt, sondern ein Phänomen ist, dann ändert sich damit die mögliche Form des Konservierens und der Dokumentation. Wenn Medienkunst flüchtig sein darf, sich ständig weiter entwickelt, wenn Objekte vergänglich und kurzlebig sind, dann müssen wir uns bei der Konservierung und Dokumentation an diesen Zustand der Kurzlebigkeit anpassen und ihn akzeptieren. Ihn zu leugnen hieße, das Werk seiner innersten, ureigenen Natur zu berauben. Sämtliche Konsequenzen dieses Aspekts der Offenheit und Vergänglichkeit zu erfassen und zu verstehen, erfordert einen tief greifenden Paradigmenwechsel.

Im Gegensatz zu anderen Formen Event-basierter künstlerischer Äußerungen wie Tanz oder Musik sind Web-Kunst und zahlreiche weitere Spielarten der neuen Medienkunst Kunstformen, die sehr wohl ihre Spuren hinterlassen. Sie nehmen eine hybride Position zwischen dem physischen Kunstgegenstand und künstlerischen Events ein, deren einzige Spur die Dokumentation ist – produziert mit Mitteln, die der Außenwelt zuzurechnen sind.

Die Frage lautet also: Wie sollen wir kulturelle Aktivitäten, transitorische Objekte, Phänomene und Trajektorien dokumentieren und archivieren? Vielleicht lässt sich in der Arbeit von Jean-Luc Godard und in seinen Histoire(s) du Cinéma – den wohl besten Memoiren der Kinogeschichte – eine Antwort finden: Hier wird demonstriert, wie wichtig Subjektivität als Moment der Gedächtnisarbeit ist. In diesem Kontext könnte die Frage auch lauten: Konservieren wir einen Film oder konservieren wir das Kino? Schließlich darf die Suche nach dem besonderen Charakter der neuen Medienkunst nicht reduktiv werden. Sie muss die große Varianz künstlerischer Aktivitäten im Bereich der neuen Technologien berücksichtigen, ebenso wie ihre Wandlungsfähigkeit. Natürlich sind zahlreiche verschiedene Typologien möglich. Sie alle dienen nur dem einen Zweck aufzuzeigen, dass eine Vielzahl künstlerischerer Interventionsstrategien möglich ist, wobei jede einzelne eine eigene Konservierungs- und Dokumentationsstrategie impliziert. Durch eine typologische Übung könnten wir verstehen, dass bei der Konservierung gewisser Arbeiten die Frage, wie man etwas konserviert, hinter der Frage zurücktritt, was man konservieren soll. Muss man z. B. bei prozeduraler Kunst sämtliche Objekte bzw. Erscheinungsformen der jeweiligen Projekte aufbewahren?

Ein interessantes Beispiel aus der Geschichte wären Jean-Pierre Balpe und sein Générateur de poésie („Poesiegenerator“), der 1985 bei der Ausstellung Les immatériaux im Centre Georges Pompidou in Paris präsentiert wurde. Es handelte sich dabei um ein Computerprogramm, das während der gesamten Ausstellungsdauer automatisch Poesie produzierte. Laut Balpe wurden die Gedichte gedruckt, und am Ende der Ausstellung holte die BPI (Bibliothek für öffentliche Information) des Centre Pompidou die Erlaubnis des Künstlers ein, die Arbeiten zu Dokumentationszwecken aufbewahren zu dürfen. Interessanterweise verwahrten sie die Tausenden ausgedruckten Gedichte, nicht jedoch das Computerprogramm selbst, das für den Künstler das eigentliche Kunstwerk dargestellt hatte.
EINIGE METHODOLOGISCHE VORSCHLÄGE ZUR DIGITALEN KONSERVIERUNG
Die Archiv- und Bibliothekswissenschaften haben bereits einige der Hauptprobleme der Konservierung digitaler Dokumente und Archive identifiziert. Es wäre empfehlenswert, sich von diesen Forschungen inspirieren zu lassen, da die Konservierung digitaler Dokumente und digitaler Kunst vieles gemeinsam haben.

Folgende Definition der digitalen Konservierung – in Bezug auf die zu konservierenden Inhalte – erscheint mir z. B. besonders interessant: „Zu konservieren sind Inhalt, Kontext und Struktur unter Aufrechterhaltung der Möglichkeit, die digitalen Objekte anzuzeigen, zu verknüpfen und zu manipulieren.“ (7) Wahrscheinlich bereitet uns gerade dieser zweite Aspekt die größten Schwierigkeiten, da er impliziert, dass gleichzeitig der Zugriff auf eine Vielzahl an Software- und Betriebssystemen gewährleistet werden muss. Um noch einmal mit Margaret Hedstrom zu sprechen: „Oft ist es notwendig, digitale Objekte komplexen und aufwendigen Transformationen zu unterziehen, um das digitale Material so zu konservieren, dass es weiterhin authentische Abbildungen der Originalversionen und brauchbare Analyse- und Recherchequellen abgibt.“ (8) Das Paradoxon in der Konservierung digitaler Dokumente liegt gerade in den Begriffen „Transformation“ und „authentische Abbildung des Originals“ ... Neben anderen digitalen Archivierungsstrategien neigen Experten der digitalen Konservierung immer mehr dazu, das Konzept der Emulation (9) und der kontextuellen Hülle zu favorisieren. Dieses Konzept stellt eine potenzielle Lösung für das Problem der Abhängigkeit digitaler Dokumente von der entsprechenden Software dar. Außerdem kann so die Möglichkeit der Datenmanipulation uneingeschränkt bewahrt werden. Bei dieser Strategie wird das Dokument in seiner ursprünglichen Form mit einer virtuellen Hülle umgeben, die sämtliche Informationen enthält, die für Abruf, Anzeige und Verarbeitung des Werkes notwendig sind. Die Hülle enthält die Instruktionen, die erforderlich sind, um das Dokument mit einer Reihe von Emulatoren zu verbinden, die als Brücke zwischen dem Dokument, das somit statisch bleiben kann, und dem sich ständig weiterentwickelnden technologischen Kontext dienen. Anstatt also laufend eine Vielzahl an Dokumenten zu modifizieren, würden die Leiter digitaler Archive oder Sammlungen einfach ihre Emulatoren aktualisieren. Datenblätter mit den wichtigsten Spezifikationen eines Dokuments könnten in Form von Metadaten in das Dokument eingebaut werden. Bei Konservierung ermöglicht dies die Lokalisierung von Dokumenten, die gewisse „Interventionen“ erfordern.

Über Metadaten lässt sich die Dokumentbeschreibung in das Dokument selbst integrieren. Auf diese Weise fungiert das Dokument als seine eigene Katalogkarte ... Doch das Problem bei Metadaten ist, dass sie zu guter Letzt oft genauso groß sind wie das Dokument, das sie beschreiben – oder sogar größer. Wir haben es hier, in potenzierter Form, mit einem Effekt zu tun, der an die berühmten Kartografen von Jorge Borges erinnert, die in ihrem unablässigen Wunsch, immer genauere Landkarten herzustellen, schließlich eine Karte des Reiches im Maßstab 1:1 produzieren, ein Duplikat, eine perfekte Abbildung der Realität. Man sollte daher auch die Vorteile abwägen, die eine Vernetzung von Organisationen, die neue Medienkunst sammeln und nach gemeinsamen Regeln konservieren, mit sich brächte. Über ein solches Netzwerk könnte auch die Konservierung jener dokumentarischen Quellen verteilt werden, die eine wichtige Rolle in der Definition von Produktion, Verbreitung und Kontext dieser Werke spielen, und zwar nach standardisierten Normen.

Im Rahmen ihrer Förderprogramme ist die Daniel Langlois Foundation bereits heute in interessante Projekte involviert, die sich mit der Konservierung digitaler Arbeiten und der Entwicklung von Methodologien und Richtlinien befassen. Dazu zählen ArtBase von Rhizome (10) und die Variable Media Initiative des Guggenheim. (11) Die Daniel Langlois Foundation hat in diesem Jahr außerdem ein neues Förderprogramm für Researchers-in-Residence ins Leben gerufen, das u. a. die Erforschung konzeptueller, wissenschaftlicher und künstlerischer Themenkomplexe im Bereich der Konservierung von digitalen Kunstwerke oder Werken mit digitalen Komponenten unterstützen wird. Die Daniel Langlois Foundation beabsichtigt des Weiteren, in naher Zukunft eine konkrete experimentelle Fallstudie zu initiieren, bei der Kunstwerke mit digitalen Komponenten mit Hilfe von Emulation konserviert werden sollen.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Die Analyse der Themenbereiche rund um die Konservierung von digitaler Dokumentation im Allgemeinen und Web-Dokumentation im Besonderen zwingt uns, eine Illusion neu zu überdenken – die Illusion, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Basis – oder zumindest der Motor – des Wunsches war, alles zu konservieren, alles zu archivieren, eine Illusion, die uns vorgaukelte, wir hätten die reale Kontrolle über die Dokumentation und die darin enthaltenen Informationen. Angesichts der enormen Dimensionen des Web und der neuen Informationstechnologien, insbesondere im Hinblick auf Quantität und auf die Fähigkeit, alles zu konservieren, kann sich der Archivar nur noch auf das Konzept der Route, des Pfades verlassen. Die Tätigkeit des Archivars wird sich nicht länger auf Sammeln und Konservieren beschränken, sondern immer stärker die Mithilfe beim Knüpfen von Verbindungen inkludieren. Unter Berücksichtigung dieser flüchtigen Entität, des Web, und insbesondere der Aktivitäten von Künstlern, Theoretikern und Forschern im Web (oder in Interaktion mit dem Web) besteht der beste Ansatz demnach darin, nicht krampfhaft zu versuchen, alles zu bewahren, sondern eher das zu bewahren, was Verständnis erzeugt.

Notes

(1)
T.S. Eliot, Choruses from “the rock," 1934 zurück

(2)
One of the best source of information about the panorama is Stephan Oettermann’s The Panorama:
History of a Mass medium, New York, Zone Books, 1997zurück

(3)
See the Dead Media Project Web site, at http://www.deadmedia.orgzurück

(4)
For more information about the CR+D and to acess its database, please consult the following web site:
http://www.fondation-langlois.org/e/CR D/index.htmlzurück

(5)
Geoffrey Batchen, “The Art of Archiving" in Deep Storage: collecting, storing, and archiving in art, Munich, Prestel, 1998, p. 46–49zurück

(6)
Sarah Schultz, “Simon Biggs Questions Our Questions [Interview]," The Shock of the View,
www.walkerart.org/salons/shockoftheview/sv_intro_biggs.htmlzurück

(7)
Margaret Hedstrom, “Digital preservation: a time bomb for Digital Libraries,"
www.uky.edu/~kiernan/DL/hedstrom.htmlzurück

(8)
Idem.zurück

(9)
For more information about emulation as a digital preservation strategy, see Jeff Rothenberg, “Avoiding Technological Quicksand: Finding a Viable Technical Foundation for Digital Preservation," 1998, www.clir.org/pubs/reports/rothenberg/contents.htmlzurück

(10)
rhizome.org/artbase/zurück

(11)
www.three.org/z/varia_root/variable_media_initiative.htmlzurück