Jetzt! Alles! Und dann?
Glossen zum Riss zwischen den vielen Kulturen
'Rüdiger Wischenbart
Rüdiger Wischenbart
1. JETZT Kürzlich stand ich am Times Square in New York und erlebte einen der seltenen Momente, in denen sich Gedanken und Eindrücke, die über lange Zeit hinweg wild und unübersichtlich in meinem Kopf durcheinander gewirbelt waren, plötzlich ordnen und ein klares Bild ergeben. Die Wegkreuzung von Broadway und 6th Avenue, mit den vielen Leuchtreklamen, galt noch vor zehn Jahren als herabgekommenes Theaterviertel und Rotlichtbezirk, bis eine rigide Stadtverwaltung unter dem republikanischen Bürgermeister Rudolph Giuliani alles Zwielicht mit Polizeiaktionen und Investment-Dollars wegsanierte und stattdessen am 31. Dezember 1999 an diesem symbolträchtigen Ort die wohl glitzerndste Millenniums- Silvesterparty weltweit inszenierte. Heute ist der Times Square das reale Schaufenster in die Groß-Kultur von morgen. An einer Ecke erlaubt der Fernsehsender ABC den Passanten, sich die Nasen an der Scheibe zum TV-Studio mit Liveproduktionen platt zu drücken, während oben drüber über ein endloses doppeltes Textband ständig aktuelle Politik-, Wirtschafts- und Sportmeldungen tickern. Auf einem riesigen Leuchtschirm lässt sich gleichzeitig das Fernsehprogramm verfolgen. Über einen anderen, ähnlich großen Schirm gleich gegenüber flimmert der Konkurrenzsender NBC. Dazwischen leuchten in Echtzeit die aktuellen Kurse an der Technologiebörse Nasdaq. An hochhaushohen Reklameschildern, deren Inhalte sehr häufig wechseln, werden die wichtigsten neuesten Filme und vereinzelt konventionelle Mode beworben. Das Bertelsmann-Hochhaus steht am Nordrand des Times Square – US-Hauptquartier des global agierenden Medien-Konzerns, Sitz des größten Publikumsverlags der Welt, Random House, und seit kurzem auch Schaltzentrale für den größten deutschen Verlag, ehemals Bertelsmann München, wo neuerdings als Konzernsprache Englisch gilt. Time Warner ist gleich nebenan.
Etwas absurd, wenngleich präzise wie ein Haiku, wirkt ein kleines, rotes Straßenschild mittendrin, das sich nur auf den Autoverkehr bezieht, und dennoch die übergreifende Maxime für den ganzen Platz und sein Treiben formuliert: „No standing anytime“.
Alles ist in jedem Augenblick präsent. Nicht die zeitliche Abfolge, das Nacheinander, sind maßgeblich, sondern die Synchronizität. Und jedes einzelne Element ist zeitecht – oder zumindest zeitnah – verknüpft mit anderen Ereignissen, die direkte Auswirkungen auf alle anderen Ereignisse und Bilder haben. Nur, diese Wechselwirkungen sind von der Oberfläche her nicht überblickbar – und noch viel weniger rekonstruierbar. Etwas überspitzt betrachtet wäre es vorstellbar, dass am Times Square eine Person – als Agent der Synchronizität gewissermaßen – steht, über ihr Handy größere Mengen von Aktien kauft, was einerseits Auswirkungen auf die Kurse der Nasdaq Anzeige hat, andererseits auch auf den Schlagzeilenbändern und TV-Schirmen Geschichten auslöst, auf die dieser Agent wiederum reagiert. Ein TV-Team könnte sie dabei filmen, was wiederum unterschiedliche Folgen hätte: Einerseits würden ihre Handlungen transparent, andererseits würde allein die Story des Agenten vom Times Square die Mechanik selbst zum Medienthema machen, was wiederum die Kurse bewegt, sodass das Resultat am Ende widersprüchliche Impulse wären: Die mediale Verdeutlichung der Manipulierbarkeit der Kurse würde die Kurse drücken, während die Ankäufe des Agenten dieselben Kurse noch Augenblicke zuvor nach oben bewegt hätten. Das ist bekanntlich keine Sciencefiction, sondern tägliche Realität und Funktionsweise der Bild- und Netzkultur heute. Dies steht aber in einem eklatanten Gegensatz zu einer Kulturtradition der linearen Erzählungen, der Bücher, die von Geschichten mit Anfang und Ende, mit einem Rhythmus aus Akzent und Pause, von einer geschlossenen Form, eingefasst zwischen zwei Buchdeckeln oder zwischen Exposition und Coda aufbaut. Das Moment der Gleichzeitigkeit provoziert eine Kollision mit Erzählungen, die ein klares Nacheinander, eine Abfolge von Auftakt, Aufbau der Spannung, Höhepunkt und Auflösung zur Grundlage haben, und an dieser grundlegenden Dramaturgie hat sich nur wenig geändert, seit deren Grundformen in den frühesten Epen vor drei- oder viertausend Jahren entwickelt worden sind. Die kulturellen Identitäten wiederum, denen diese dramatischen Grundformen Ausdruck verleihen, definieren sich ebenfalls, fast wie Bücher, über Abgrenzungen und Wechselbeziehungen: Zwischen Anfang und Ende bin ich Ich, indem ich mich einerseits von allen anderen unterscheide und mich doch mit diesen anderen nach möglichst klaren Spielregeln austausche. Das alles sind, grob gesprochen und verkürzt, die Leistungen von Kultur. Was aber geschieht, wenn diese Abfolgen, wenn Anfang und Ende und die Abgrenzungen nicht mehr bestehen? Was ist das dann für eine Kultur? Und welche Kunst hat in dieser Kultur welchen Platz?2. ALLES Als Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, fuhren die Gelehrten zu den Druckern, die ihre Werke verlegten und damit Handel trieben. Das Gewerbe differenzierte sich nach und nach aus, doch im Wesentlichen blieb das System bestehen, welches zwischen Urheber und Leser eine Kette von Mittlern einschob, die einerseits helfen, die Inhalte wie die Gestaltung zu optimieren und zu professionalisieren, wie auch andererseits die Funktion eines kollektiv geleiteten Filtersystems ausüben, das dem Leser, der nur begrenzt über Kaufkraft, Zeit und Aufmerksamkeit verfügt, ein Qualitäts- und Orientierungssystem anbietet. Zum Zweiten war lange Zeit für die verschiedenen Institutionen zur Übermittlung kultureller – künstlerischer wie wissenschaftlicher – Produkte charakteristisch, dass jede Sparte – Musik, Buch, bildende Kunst, darstellende Kunst – ihre eigene Tradition und damit ihre eigenen, der jeweiligen Tradition und Identität entsprechenden Übermittlungsinstanzen pflegte. Das ist heute anders. Innerhalb der vergangenen kaum mehr als zehn Jahre – mit einer vorbereitenden Periode von noch mal einem Jahrzehnt – haben sich Konzerne etabliert, die alles anbieten, und das jeweils weltweit.
Technologische Voraussetzung dafür ist bekanntlich die Digitalisierung der Kommunikationsinstrumente und später auch der Inhalte. Die digitalen Kommunikationswerkzeuge gestalteten den Austausch von Informationen über Werke und Produkte effizienter und integrierten die unterschiedlichen, ursprünglich nach kulturellen Sparten voneinander weitgehend abgegrenzten Handelskreisläufe. Erst waren alle Finanz- und Politikinformationen, dann auch andere Inhalte, wie Bestellinformationen über Tonträger oder Bücher, plötzlich ständig und überall verfügbar. Bestellwege wurden verkürzt, Preisspannen vereinheitlicht. Mittlerweile werden die Produkte selbst digitalisiert, egal ob Text, Bild, bewegtes Bild oder Ton, und können entsprechend vermittelt werden. Als Thomas Middelhof vor wenigen Jahren Chef von Bertelsmann wurde, formulierte sein Utopia so: „Ein positives Beispiel: Unsere Musikfirma BMG hat die Oper Turandot in der Verbotenen Stadt in Peking aufgeführt. Daraus wurde dann eine CD gemacht, die Fernsehtochter CLT-Ufa produzierte einen Film, unsere Illustrierte Stern schreibt einen Artikel dazu. Und jetzt können wir die CD noch über unsere Clubs und über das Internet vertreiben.“
Interessant ist an dem Bild vor allem eines: Vermutlich wurde noch nie zuvor eine Machbarkeits- und Allmachtsfantasie so pragmatisch vorgetragen. Im bedingungslosen Glauben an die Industrialisierbarkeit von Kultur spiegelt sich auch, wie sehr selbst die neuesten und größten Kulturkonzerne die alte Welt des kulturellen Handwerks, der Wortklempner und Tontischler, in sich bewahrt. Nicht das Neue springt aus diesen Sätzen hervor, sondern alte Tradition, wie sie noch bis gestern, vor dem Beginn der neuen Kulturen der Synchronizität und der offenen Formen, gegolten haben. Das zweite Bemerkenswerte an den Konzernen ist, wie vergleichsweise klein der Markt der Kulturprodukte insgesamt ist, sobald man ihn in einen Kontext mit anderen Märkten stellt. Der weltgrößte Medienkonzern, AOL Time Warner, ist groß: Sein Jahresumsatz von 34,2 Milliarden US $ (1999) ist ein gutes Stück größer als der gesamte US-amerikanische Buchmarkt mit 26,1 Milliarden $.
Der Medienmarkt insgesamt, und ganz besonders der Buchmarkt, ist aber, bedenkt man die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wird, erstaunlich klein. Die 20 größten Buchmärkte der Welt – von USA bis Argentinien – zusammengerechnet entsprechen in etwa dem Umsatz des Elektrokonzerns Siemens (rund 74 Milliarden $). Unter den 20 größten Buchmärkten weltweit befinden sich so kleine Länder wie Österreich,
Belgien und die Schweiz, was klar macht, wie wenig die kulturellen Märkte repräsentativ sind für die kulturellen Äußerungen in dieser Welt. Oder, um diesen letzten Umstand noch aus anderer Perspektive zu quantifizieren: Rund 50 Prozent aller veröffentlichten Übersetzungen weltweit sind Übersetzungen aus dem Englischen. Nur rund sechs Prozent aller Übersetzungen hingegen sind ins Englische aus allen anderen Sprachen zusammengenommen. Alles! Und das jetzt, sofort! Das ist eine knappe Auswahl, und ein seltsam eingeschränktes Programm.3. UND DANN? Bemerkenswert ist, dass die Kultur der Globalisierung offenbar wenig Vertrauen zu stiften vermag. Das reflektieren die selbst im Boom-Jahr 1999 auf 2000 mäßig positiven Kursentwicklungen der meisten Medien- und „Content“-Konzerne. In die gleiche Richtung deuten die gesammelten Erfahrungsberichte zahlloser Manager aus den kulturellen Industrien, die durchaus glaubwürdig von der sehr beschränkten Planbarkeit von künstlerischem Erfolg und von den vielen Misserfolgen selbst erfahrener Finanz-Controller in diesen Industrien zu berichten wissen. Das wackelige Fundament der Kultur-Industrie hat aber über solche ambivalenten Einschätzungen hinaus noch eine grundsätzlichere Dimension: Die Industrie- Konglomerate sind in weitem Maße nicht viel mehr als Vertriebskanäle, wenngleich solche mit einem Potenzial zur strukturellen Vereinigung bislang unterschiedlichster Komponenten. Starke Werke entstehen in aller Regel außerhalb dieses Systems, starke Karrieren beginnen (und enden auch oft) ebenfalls irgendwo draußen im Dschungel der weiten, offenen Welt, nicht im konzerneigenen Labor. Dass die integrative Kraft und die schiere Marktmacht der Vertriebskanäle jedoch bald auch die Herstellung kreativer Werke, also die Kunst selbst, nachhaltig zu beeinflussen versuchen wird, ist nahe liegend. Nahe liegend ist aber auch die Annahme, dass hier zwei Systeme auf einem tendenziell brutalen Kollisionskurs zueinander liegen. Spannend wird die Frage, was geschieht, wenn das Publikum – die Betrachter, Hörer und Leser, die User – nicht mehr nur passiv vom Rande her das Geschehen verfolgt, sondern ins Spiel eintritt. Denn vielleicht ist dies der eigentlich innovative Schritt, dessen Vorbereitung wir gerade eben verfolgen: Dass nicht mehr der Urheber und auch nicht mehr das Medium, dass nicht Genie oder Star, nicht Hollywood oder die New York Times entscheidend sind, weil sie längst zu teuer sind, zu widersprüchlich agieren, zu kurz greifen, sondern Myriaden von launischen Amateuren sich zunehmend unvorhersehbar für dies und das entscheiden. Wenn also am Ende doch die Identitäten – die Bewegungen zwischen den vielen, voneinander sich abgrenzenden Atomen – stärker bleiben als die machtvollen Arrangeure einer effizienten Welt. Anders gesagt: Was wäre, wenn der Aktienmarkt des vergangenen Jahres plötzlich zum turbulenten Vorbild für die globalen kulturellen Landschaften wird!
Jetzt. Alles. Oder auch wieder nicht.
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