www.aec.at  
Ars Electronica 2000
Festival-Website 2000
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Ars Electronica 2000
NEXT SEX

'Gerfried Stocker Gerfried Stocker / 'Christine Schöpf Christine Schöpf

Die kulturelle Revolution infolge der Cybertechnologien war immer schon von einem Denken begleitet, das die konkreten Entwicklungen nicht nur erfasst, sondern (dadurch) auch tendenziell erst ermöglicht hat. Wenn in Horace F. Judsons Klassiker Der achte Tag der Schöpfung die Molekulartechnologie im Anschluss an die informatische Revolution als „neue Dynastie des Denkens“ apostrophiert wird, dann verweist das implizit auf die vorbereitenden Eigenschaften der Cybertechnologien. Unterdessen werden die Life Sciences als Schlüsseltechnologie der kommenden Dekaden gehypt.

Als Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft hat Ars Electronica dieser Entwicklung durch eine scheinbare Abwendung vom Augenmerk auf die Cybertechnologie, die Hard und Software, hin zu „Wetware“ Rechnung getragen.

1999 wurde mit dem Festival-Programm LifeScience zum Stand der Dinge in Wissenschaft und Forschung wie auch in den aktuellen Anwendungen, der Kritik und Prognostik ein Schritt vervollständigt, zu dem man zuvor durch FleshFactor (1997) angesetzt hat. FleshFactor war jenem Bereich gewidmet, in dem die Grenze zwischen der Informationsmaschine Computer und dem Biologischen, das sich als Gewachsenes lange von konstruierter, gebauter Technik unterscheiden ließ, nicht mehr länger eindeutig zu ziehen ist. Im Spiegel etwa der Neurowissenschaften, der KI-Forschung, Cyborgfantasien und -extrapolationen sowie unter dem Eindruck des „Dolly“-Effekts (den Ian Wilmuth in der öffentlichen Aufmerksamkeit verursacht hat) wurde die Informationsmaschine Mensch fokussiert. Dass dem voran die Beschäftigung mit der von einem Evolutionsbiologen, Richard Dawkins, geprägten Idee der Meme – kultureller Informationseinheiten in Analogie zu den Genen – ging, ist bezeichnend für die Notwendigkeit eines Rekurses auf die Biotechnologie.

Der Wandel im Focus der Ars Electronica ist insofern ein scheinbarer, als sich in der Programmatik, Prozesse der Kultur (und Kulturwerdung) neuer Technologien zu analysieren sowie Möglichkeiten ihrer Gestaltung zu finden, nichts geändert hat. Mit NEXT SEX tritt Ars Electronica jedoch zu Gunsten einer größeren Genauigkeit einen Schritt zurück und nimmt eine kulturkritische Perspektive auf die gesellschaftlichen Implikationen der Life Sciences ein. Gerade hier sind – wie die selbsterfüllende Prognostik des Denkens über die und infolge der Cybertechnologien zeigt – Extrapolationen angebracht.

Wenn Sex seiner Fortpflanzungsfunktion entledigt ist und im Gegenzug die moderne Reproduktionstechnologie die weibliche Fruchtbarkeit ins (patriarchalische?) Interesse rückt; wenn Pop-Ikonen ihre partnerlose IVF-Elternschaft medial in Szene setzen, während konservative Kräfte das Ideal der Familie propagieren; wenn eine Emanzipation des sozialen wie biologischen Geschlechts durch die Utopie einer Wahlmöglichkeit, das eine, das andere oder beides zu sein, auch infolge biotechnischer Interventionen in Aussicht gestellt wird – dann werden Sex und Sexus nicht zuletzt auch an Fiktionen relativiert, die über sie entstehen.

In Fortsetzung des Themenschwerpunktes LifeScience kommt Ars Electronica 2000 mit NEXT SEX dem augenfälligen Bedarf nach der kritischen Analyse des gesellschaftlichen und technologischen Umfeldes nach, in dem solche Prognosen wirksam zu werden beginnen.