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Sexuality und Fortpflanzung als technisches Konstrukt


'Jens Reich Jens Reich

Das Menschengewimmel auf einem der großen Boulevards dieser Welt: Alle diese Ameisen sind überzeugt, dass sie frei entscheiden zu tun, was sie grade vorhaben. Fragt man den Humanbiologen, dann behauptet der, das sei alles Illusion, sie seien alle wandelnde biochemische Maschinen. Gar nicht frei, sondern Maschinen mit eingebautem Programm. Das schnurrt ab, und nur weniges an dem, was geschieht, ist von Bewusstsein und ungehemmter Willensentscheidung getrieben. Es wäre auch schrecklich kompliziert, wenn es anders wäre. Wenn jeder Mensch, der da die Straße entlang hastet, und jeder, der sein Auto steuert, sich jeden Schritt, jede Augenbewegung, jede Armdrehung, jede Fingerkrümmung bewusst überlegen und sorgfältig kontrollieren müsste. Nein: Jeder strebt dieses oder jenes Ziel an, hat diese oder jene Intention: Das innere Programm hat diesen Input als Befehl akzeptiert und wickelt das dadurch ausgelöste automatische Verfahren ab. 99,99% all dessen, was wir an uns und mit uns so geschehen lassen, ist unbewusst und gar nicht vom freien Willen gesteuert. Die freie Willensentscheidung mag zwar gelegentlich anscheinend aufgerufen sein, etwa wenn wir als Fußgänger an der Straßenkreuzung anhalten und uns entscheiden wollen, ob wir uns nach links oder rechts wenden oder den anderen Weg wählen: erst geradeaus und dann links, um den Bürgersteig schräg gegenüber zu erreichen, wo die Haltestelle für den Autobus ist, den wir noch erwischen möchten. Wenn Ampellicht oder Verkehrslage einem nicht erneut die Wahl abnehmen – ja, dann kann man einmal „den freien Willen entscheiden lassen“, ob man nun so oder so geht. Meist entscheidet selbst dann ein Würfelspiel unter der Schädeldecke – der reine Zufall, die Laune und nicht die exakte Kalkulation.

In dem Drüsen- und Nervengewitter in uns, das wir Sexualität nennen, ist die Paradoxie zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem Sachverhalt auf die Spitze getrieben. Wir sind ganz zweifelsfrei Marionetten unserer Hormonchemie. Ein Steuerungszentrum im Hypothalamus, tief innen in der Schädelkalotte, spielt auf der Klaviatur einiger Dutzend Peptid- und Steroidhormone. Diese werden als Bauvorschriften aus dem Genom abgerufen und in der biochemischen Maschinerie der Zelle hergestellt, später dann wieder gezielt abgebaut. Am tierischen Brunftverhalten beobachten wir das Wirken dieser „Triebe“, sehen die Getriebenen: den Hengst etwa, dem alle Adern und Säfte schwellen mit dem einem Ziel, unter extremem Zwang die rossige Stute zu besteigen und ihr sein sperriges Glied zur Besamung einzuführen. Mit dem kühlen Blick des Humanbiologen überzeugen wir uns, dass in uns Ähnliches vorgehen muss, wenn sexuelle Erregung ins Spiel kommt – aber erlebt wird es von uns in eingebildeter Bewusstheit und scheinbarer Sublimation. Eros ist die vom Großhirn abdestillierte Essenz, als die der auch bei uns Menschen ablaufende Chemismus wahrgenommen wird. Es wird als einmaliges, individuelles, subjektives Erlebnis konstruiert, was doch nur die Erfüllung des vom Hormonspiegel Vorgeschriebenen ist. Bei unserem nächsten Atemzug verzichtet unser Bewusstsein in den meisten Fällen darauf sich einzuschalten und überlässt dem Atemzentrum die Arbeit – bei der erotischen Fantasie dagegen ist es sofort dabei und tut so, als sei es die treibende, die synthetisierende, die kreative Kraft. Solche Einbildungskraft ist unsere evolutionäre menschliche Erwerbung. Sie ist schon vor Zehntausenden von Jahren vorhanden gewesen – die erotischen Zeichnungen in den Höhlen und die ganz rund modellierten Frauenfiguren vorgeschichtlicher Künstler (z. B. die Venus von Willendorf) belegen das: Wie kein anderer Ausgrabungsfund überzeugen mich solche Eiszeitgraffiti, solche Paarungsszenen auf altgriechischen Vasen, solche erotischen Zeichnungen in den Ruinen von Pompeji, sie überzeugen mich unmittelbar, dass es seit undenklicher Vorzeit Menschen gegeben hat, die genau wie die Frauen und Männer heute das umnebelnde Fieber, in das sie die erwachenden sexuellen Körperfunktionen tauchten, in kreative Triebsublimierung umgesetzt haben. Tanz und Musik, Bild und Wort, Gestus und Mimesis: In weit ausholendem Bogen wurde das Animalische ins Sinnliche und das Sinnliche ins Geistige transformiert. Sophokles und Aristophanes, Myron und Praxiteles, Sappho und Ovid, Plautus und Lukian – Namen rufen uns die Assoziationen dafür herbei, dass bereits vor Tausenden von Jahren und an der Wiege unserer Kultur um die Vereinigung von höherer und niederer Nerventätigkeit gerungen wurde.

Aber auch das Technische dabei ist alt. Als hochtechnisch, fast als Ingenieurskunst werden von Malanaga Watsjajana im eineinhalb tausend Jahre alten Kamasutra die sexuellen Turnübungen beschrieben, die den altindischen Lebemännern und ihren Partnerinnen die höchste Verfeinerung der neuronalen Entladungen, ihrer Vorbereitung, ihrer Verhaltung, ihrer gesteuerten Explosion garantieren sollten. Aber auch der andere Aspekt der Sexualität, die Reproduktion der Generationen, verlangte schon in der Frühzeit nach technischer Beherrschung. Zu allen Zeiten, mit Ausnahme des späten zwanzigsten Jahrhunderts, und an allen Orten, mit Ausnahme der hoch industrialisierten Länder, fast immer und überall also, lebten die Menschen in einem Ökotop, das durch strengste Limitation der Nahrungs-, auch der Wasser- und Salzressourcen gekennzeichnet war. Unabweisbar war daher der Imperativ, die Reproduktion zwar einerseits sicherzustellen, andererseits aber auch auf ein Maß zu begrenzen, das mit dem begrenzten Ökosystem vereinbar war. Wo nicht Krieg oder Pest oder beides die Bevölkerungsbegrenzung bewirkte und damit den Zwang zur Geburtenkontrolle suspendierte, musste technische Abhilfe geschaffen werden. In allen vorindustriellen Gesellschaften trennte man Sexualität und Reproduktion, freilich mit sehr primitiven Mitteln: Abtreibung und Kindestötung. Man entschlage sich aller Illusionen, dass die Menschen früher im Einklang mit Gott, Kirche und ihrer Natur gelebt hätten und erst heute mit Antibaby-Pille, Geburtenkontrolle, Pränataldiagnostik, induziertem Schwangerschaftsabbruch und künstlicher Befruchtung die kalte Technologie in die Intimsphäre eingebrochen wäre – nein, die Zivilisation hat da eher noch einen Rest an unbefangen natürlichem Verhalten sekundär wieder freigesetzt (man nannte so etwas sexuelle Revolution) – um es dann allerdings sofort durch die Psychomechanik in Medienkultur und Konsumdiktatur wieder zu kassieren. Gleichwohl: keine bukolischen Fantasien, bitte! Wie selbstverständlich entschied im alten Rom der Familienvater, ob ein Neugeborenes am Leben bleiben durfte oder verworfen wurde. Die Menschenwürde stand in Notzeiten kaum höher im Kurs als die Würde eines Wurfes Katzen, deren überzählige Glieder ertränkt werden, wenn man sich ihrer nicht durch Schenkung entledigen kann. Auch unter besseren Lebensbedingungen in späteren Zeiten, in den Adelskreisen zur Zeit des Absolutismus beispielsweise, trennte rationale Abwägung Sex und Fortpflanzung. Jede Familiengründung stand unter den Strategien des Besitzerhalts und der Machterweiterung. Selbst die vornehmste Braut wurde nach technischen Gesichtspunkten ausgesucht, ob sie nämlich als Gebärmaschine taugte, und die Fantasie kann sich ausmalen, was alles an technischen Beratungen und Hilfestellungen stattfand, wenn eine hochadlige Ehe unfruchtbar zu bleiben drohte. Einiges davon ist sogar historisch überliefert, das meiste blieb selbstverständlich diskret.

Der biologische Ablauf gehorcht einem Programm, das mit gewissen Freiheitsgraden versehen ist, die uns die Vorstellung vermitteln, wir hätten als bewusste Wesen da viel mitzuentscheiden. Am Ende der Kindheit erwacht das Hormonorchester und nimmt uns an die Leine. Zwar ist vorher einiges bereits angelegt und manches schon vorhanden. Körper und Seele sind vorbereitet – müssen es ja auch sein, so wie die Instrumente vorher da sein müssen, wenn das Konzert einsetzen soll. Nach Sigmund Freud sind beide, Körper und Psyche, bereits mit sexuellen Fantasien gefüllt, bevor der Hypothalamus das Signal zur pubertären Reifung setzt. In der Tat: Die Sexualhormone müssen vorher bereits in Aktion treten – wie sollten sonst die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale auf ihre Aufgabe vorbereitet werden: Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter, der Empfängnis- und Geburtskanal, die Brustdrüsen und manches andere beim weiblichen Organismus? Wie anders käme die Umprogrammierung der frühembryonalen weiblichen Anlagen auf männliche Organe zu Stande? Wir alle sind zuerst weiblich; einige Wochen nach der Empfängnis setzt bei denjenigen Embryonen, die ein Y-Chromosom im Genom haben, der Umbau ein. Deshalb sind manche Fehlkonstruktion gerade des männlichen menschlichen Körpers (die Neigung zu monströsen Leistenbrüchen zum Beispiel) dieser nachträglichen Virilisierung durch das SRY-Gen auf dem Y-Krüppelchromosom des Mannes zuzuschreiben. Da findet also bereits emsige Design-Korrektur statt: Eine schon fast fertig modellierte Skulptur wird ummodelliert.

Die einsetzende geschlechtliche Reifung setzt die Menschen dann in tiefe existenzielle Verwirrung. Zwar sieht man meist schon vorher – selbst dann, wenn die viktorianische Erziehung vieles zu verbergen sucht – wie stark das Verhalten der Erwachsenen von der Sexualität und den Fortpflanzungsfunktionen bestimmt wird, aber man erlebt nun zum ersten Mal am eigenen Selbst, wie tief das alles ins Innere eingegraben ist, welche seelischen Wallungen mit den Körperfunktionen einhergehen. Die erwachende Sexualität sprengt alle rationale Erwägung, alle instrumentelle Vernunft. Sexualität und Reproduktion sind in einem ursprünglichen Sinne getrennt, nämlich dadurch, dass wir verdrängen, nicht wahrhaben wollen, welche natürliche Funktion die sinnlichen Triebe befriedigen. Nur durch schärfste Unterweisung können wir veranlasst, überredet, überzeugt werden, die Ratio einzuschalten und technische Instrumente planvoll einzusetzen, Kondome, Knaus-Ogino-Kalender, regelmäßige Zufuhr von eisprunghemmenden oder einnistungsverhindernden hormonellen Agenzien. Noch ein, zwei Generationen vor der jetzt blühenden konnten die Menschen nur mit primitivsten Mitteln die im Bewusstsein sehr wohl vorhandene Trennung (verdrängte Einheit) von Sexualität und Reproduktion auch an ihrem Körper bewerkstelligen, standen unter dem ständigen Zwang, die Vernunft anzustellen, wo die Physis sie abstellt. Die angebliche sexuelle Revolution, die um 1970 einsetzte, brachte eine Art von physischer und psychischer Entlastung, die als Glückserwartung erlebt wurde, nicht jedoch eine wirkliche Befreiung vom Zwang hormoninduzierter Verhaltensstereotype.

Es steht nun die Frage, ob die technologische Revolution, deren Zeugen wir gegenwärtig werden, das Erleben der Sexualität und den Umgang mit unserer Reproduktion entscheidend verändern könnte. Oder ob das ohnehin erreichte Ausmaß an technischer Verfügbarkeit lediglich verschärft wird. Wird es technisch erreichbares Enhancement, Steigerung der Lebensqualität, größere Beherrschbarkeit in einem qualitativen Sinne geben und kann man die kulturellen Auswirkungen abschätzen?

Zunächst zur Intensivierung der sexuellen Performance unseres Körpers, unserer Sinne. Traditionell wird das durch äußere Reize erreicht. Entlang der dafür vorgesehenen Eintrittspforten sowohl wie unter deren Umgehung. Wer sich einen raffiniert gemachten Porno reinzieht, stimuliert lichtempfindliche und schallempfindliche Rezeptoren in Auge und Ohr. Das setzt Nervenentladungen, Signale also, frei, die in die entsprechenden Sphären des Großhirns gelangen, dort zu strukturierten Empfindungen synthetisiert und von „Gefühlszentren“ im Thalamus mit der notwendigen emotionalen Verstärkung und Einfärbung versehen werden. Die Fantasie wird angeregt, aber Erregung und Entladung kommen der natürlichen, im erotischen Erlebnis über alle Sinne vermittelten nicht gleich. Wirkliches Enhancement lässt sich, so höre ich (da ich selbst über einschlägige Erfahrungen nicht verfüge), über chemische Agenzien erreichen: seit Jahrtausenden in allen Kulturen als bewusstseins- und gefühlssteigernde Drogen benutzt und durch das moderne Angebot wohl mitunter verfeinert, meist jedoch brutalisiert, verschärft. Ich glaube nicht, dass das erotische und das sexuelle Erleben durch Chemie entscheidend zu verändern sein werden – dafür ist der Zugriff zu wenig spezifisch, geht sozusagen mit der chemischen Gießkanne in ein sehr empfindliches Systemgeschehen. Gleiches gilt vermutlich für die andere Reizart: die elektrische. Unsere Nervenzellen bauen ja bekanntlich chemische Konzentrationsunterschiede, Gradienten, über die Zellmembranen hinweg auf, Gradienten von geladenen Molekülen, die der Zelle ein elektrisches Potenzial verleihen, das sich schlagartig entladen kann, wenn chemische Substanzen oder elektrische Reize einen Kurzschluss erzeugen. Das ist das banale Prinzip aller Nerventätigkeit, der primitiven wie der höheren. Durch elektrische Reizung kann nun auch der Entladungssturm, der mit der sexuellen Tätigkeit (im animalischen wie im sublimierten Sinne) einhergeht, ausgelöst und beeinflusst werden. Aber auch hier handelt es sich um einen Holzhammereingriff – die Steigerung der Lust ist rein quantitativ und sehr nahe am Umschlagen in den schmerzhaften Kollaps. Nicht umsonst zählt elektrische Reizung der Brustwarzen oder der Unterleibsorgane zu den schlimmsten Methoden im Arsenal der Foltermöglichkeiten.

Ob in Zukunft eine Steigerung durch eine feinere Integration von inneren und äußeren Reizabläufen zu erreichen wäre, zum Beispiel durch detaillierte Verschaltung von Computerprogrammen mit dem neuronalen Programm unser sinnlichen und gehirnlichen Verarbeitungsprozesse – ich kann es nicht vorhersagen. Meine Vermutung ist, dass die Cyberwelt kaum aufregender, sondern eher steriler sein wird als die vorhandene, und so wird es vielleicht auch mit emotionalem Lustgewinn aus solchen Erlebnissen sein. Der Sex des begonnenen Jahrhunderts wird also kaum das erreichen, was die Techno- Fetischisten davon erwarten: neue Welten.

Was aber gewiss eine Steigerung erfahren könnte, das ist die Aufspaltung unseres Evolutionserbes: die Trennung der funktionellen Verschränkung von Sexualität und Reproduktion. Zeugung im Sinne der Herstellung einer befruchteten menschlichen Eizelle, die die Potenz hat, ein vollentwickelter Mensch zu werden – das ist ja bereits heute im Reagenzglas möglich. Sogar die Injektion einer einzigen von einem Spender stammenden Samenzelle, die sogar gewisse Defekte aufweisen kann (z. B. Bewegungsunfähigkeit als Voraussetzung, die Eizelle zu erreichen und zu penetrieren), mit einer einzigen Eizelle, die einer Spenderin entnommen wurde, ist für einige Spezialisten der Reproduktionsmedizin heute bereits Routine. Tausende von Paare, die sonst unfruchtbar wären, benutzen solche technischen Hilfsmittel, künstliche Insemination mit anschließender Einnistung des Keims in die Gebärmutter der weiblichen Spenderin. Den aus solcher Operation entstehenden Kindern merkt man die künstliche, sexfreie Zeugung auf keine Weise an – sie wissen oft selbst nicht einmal, wie hightechnologisch sie entstanden sind. Übrigens wird nicht nur die Zeugung, sondern auch die darauf folgende embryonale Entwicklung unter technische Verfügbarkeit kommen. Zellbiologen arbeiten an Verfahren, Embryonen (tierische bislang) in künstlichen Gebärmuttermedien heranzuzüchten. Ein führender Embryologe teilte mir vor einiger Zeit bei einem gemeinsamen Abendessen mit anschließendem Genuss edlen Elsässerweins im Vertrauen mit, dass in nicht allzu ferner Zeit die Frustration vieler Frauen, als Gebärmaschine instrumentalisiert zu werden, zu Ende gehen könnte. Schon heute kann man Säugerembryonen bis in weit fortgeschrittene Teilungs- und Differenzierungsstadien im Glas halten. Auch vom anderen Ende her ist Fortschritt zu vermelden: Im Brutkasten mit allen technischen Gadgets überleben heutzutage Föten im fünften und sechsten Monat, die früher hoffnungslos verloren gewesen wären. Die künstliche Gebärmutter wird eines Tages die natürliche ersetzen. Es ist offensichtlich, dass dies eine totale Neukonstruktion der biologischen Funktion der Geschlechter in der menschlichen Spezies bedeuten würde. Wäre das tatsächlich gesellschaftlich und moralisch unerträglich? Ich weiß nicht, ob ich das als Katastrophe sehen will oder als folgerichtiges Ergebnis eines ohnehin ablaufenden Prozesses der zivilisatorischen Emanzipation. Beides ist denkbar. Frauen müssen keine Kinder mehr empfangen, keine austragen, keine nähren – bedeutet das die Auflösung aller Familien- und Gemeinschaftsstrukturen, aller menschlichen Kultur, das Ende der herausgehobenen Stellung der Frau im Prozess der Reproduktion der menschlichen Art? Bedeutet das den endgültigen Übergang in eine geschlechtslos sterile Cyberwelt, in der die Unterscheidung der Geschlechter sich auf die binäre Gegenüberstellung von Schwert und Scheide reduziert, von eckig und rund? Oder ist es nur die Vollendung dessen, was kostümgekleidete, kosmetikgestählte Powerfrauen ohnehin in allen fortschrittlichen Metiers vorführen, in der Wirtschaft, in der Verwaltung, im Marketing- Sektor? Eine Lebensweise übrigens, die adlige Frauen in den französischen und russischen Romanen des 19. Jahrhunderts erfunden haben – man erinnere sich, dass Alexander Puschkin seine Kinderfrau besser kannte, mehr liebte und mehr von ihr gelernt hat als von seiner in gesellschaftlicher Konvention verhafteten Mutter.

Der technische Zugriff zur Reproduktion mag sich eines fernen Tages nicht nur auf den Prozess selbst erstrecken, sondern zudem noch auf die Auswahl des Produkts. Man wird bei der fertilisations- und reproduktionstechnischen Beratungsstelle „Familienglück“ vorsprechen, seinen genetischen Pass vorlegen, auf dem alle individuellen Besonderheiten des Genoms verzeichnet sind, der Computer wird die Passfähigkeit der Genome der beiden Partner berechnen und anschließend wird die genetische Ausstattung des zukünftigen Kindes entworfen und bestellt, wie man eine neue Einbauküche entwirft, vermisst, durchdenkt und schließlich kauft. Unnötig hinzuzufügen, dass die Partner nicht unbedingt verschiedenen Geschlechts sein müssen wie bei der altmodischen Form der stochastischen (durch Genomwürfeln bewerkstelligten) Zeugung. Kinder jedes gewünschten Geschlechts werden sich aus jeder Kombination von Partnern herstellen lassen, lediglich ein Lesbenpaar wird Schwierigkeiten bekommen, wenn es sich (was nicht sehr häufig vorkommen dürfte) auf einen Jungen als Nachkommen kapriziert hat. Die beiden Partnerinnen müssten sich irgendwo das fehlende Y-Chromosom besorgen und einbringen.

Die technisch-kommerzielle Gestaltung von Sex und Fortpflanzung, ihre Entkopplung eingeschlossen, geht mit einigen Nebenbedingungen einher, von denen noch nicht absehbar ist, ob sie das ganze Vorhaben unattraktiv machen werden.

Ein solcher unerwünschter Nebeneffekt resultiert aus der Komplexitätsfalle. Es wird wohl möglich sein, die Augenfarbe eines angehenden Kindes einigermaßen genau zu bestimmen, ebenso die Haarfärbung. Aber da bleibt ein Rest von zufallsbedingter Störung. Außerdem: leisten nicht Haftschalenphysik und die Färbemittelchemie längst das Gewünschte? Noch dazu in rückholbarer, veränderbarer Form? Lässt sich griechische Schönheit des eigenen Torsos nicht viel zuverlässiger durch eine Kombination von sportlichen Folterwerkzeugen, kosmetischer Ölbehandlung und aufmunternden Hormontabletten erzielen? Selbst wenn es schließlich gelänge, so komplexe Merkmale wie absolutes Tongehör oder extremes Zahlengedächtnis genetisch zu determinieren (woran ich erhebliche Zweifel habe) – was nützt uns das, wenn das entstandene Kind von seiner Willensfreiheit bockig Gebrauch macht und auf Musik und Mathematik pfeift und lieber Modedesigner oder Drogenhändler wird? Mit den eigenen Anlagen Schindluder treiben, in den Einflusskreis schlechter Gesellschaft geraten, sich dem gesellschaftlichen Zwang und den Wünschen der Erzeuger aufs Undankbarste verweigern – das alles sind keine genetisch, sondern kulturell determinierten Merkmale. Das Genetic Engineering der menschlichen Nachkommen könnte sich als eben das Lotteriespiel erweisen, das die Herstellung von Nachkommen auch heute bereits ist.

Den zweiten Nebeneffekt erwarte ich aus den inneren Passunfähigkeiten der technischen Beeinflussung von Sex und Zeugung. Es ist die Kälte des vollendeten technischen Vorganges, der ihn unattraktiv macht. Alle künstliche Fertilisation beinhaltet heutzutage eine elend unbequeme und dabei nicht ungefährliche medizinische Operation. Die Frau muss wochenlang Hormontabletten zur Stimulierung der Eireifung schlucken und sich auf dem gynäkologischen Folterstuhl hässlichen Prozeduren unterziehen. Der Mann muss Samen in eine Petrischale masturbieren und wenn ihm das nicht gelingt (nicht jeder kann auf Kommando masturbieren) oder das Produkt nicht den Qualitätsanforderungen genügt, dann kommt der Doktor mit der langen Nadel und piekt in die Hoden und holt sich dort die unreifen Vorläuferzellen heraus, um sie der gentechnisch kontrollierten Nachreifung zu unterwerfen. Solange noch eine Frau zur Austragung eines optimierten Frühembryos benötigt wird (ich erwähnte schon, dass das vielleicht umgangen werden kann), muss sie weiter unter Hormonen bleiben und erneut auf den Folterstuhl, wo der Arzt ihr dann die Frucht einpflanzt. Von notwendigen Kontroll- und Nachuntersuchungen will ich gar nicht reden. Eine zahnärztliche Wurzelbehandlung ist ein Vergnügen gegen all das, was die technikgläubigen Zeugungspartner durchzustehen haben. Ich schaue mich mitunter im Hörsaal voller Studentinnen und Studenten um und bitte um Handzeichen, wer gern diese Reise durchmessen möchte. Ob nun Schüchternheit oder Feigheit oder bessere Einsicht oder Bequemlichkeit die Antwort diktiert: Alle bleiben grinsend bei der Bevorzugung der von der Natur eingerichteten Art, zu neuen Menschen zu kommen.

Noch sehe ich nicht, wie all die neue Technologie es fertig bringen will, Vergnügen zu bereiten. Ohne Vergnügen in einer Gesellschaft, in der Kinderzeugung keine Notwendigkeit von Altersvorsorge und Erbfolgeregelung darstellt? Das soll sich durchsetzen? Ich bin zu altmodisch, um mir das vorstellen zu können.

Vielleicht wurde dieser Essay beim falschen Autor bestellt: Ich jedenfalls prophezeie, dass es in den absehbaren Jahrzehnten zwar allerlei Techno-Sex-Idioten und Nachkommen- Selektions-Narren geben wird: Aber das natürliche Zusammenspiel von Sexualität und Fortpflanzung ist durch Millionen Jahre Evolution so weit design-optimiert, dass Engineering keine Chance auf weitere Optimierung haben wird. Ich wette eine Kiste Champagner darauf und hoffe, in dreißig Jahren noch Rede und Antwort bei der Auswertung der Wette stehen zu können.