Tierische Homosexualitäten
Sex – Fortpflanzung – Technologie: eine Zukunftsgeschichte
'Bruce Bagemihl
Bruce Bagemihl
Mit Anbruch des 21. Jahrhunderts kommt es nun zur Revision und Rekonfiguration einiger der grundlegendsten Auffassungen von Natur und Kultur. Mit dem Eintritt in eine vor wenigen Jahrzehnten noch kaum vorstellbare gesellschaftliche und biologische Landschaft finden sich homosexuelle, bisexuelle und Transgender-Personen an vorderster Front eines Prozesses wieder, der uns die Paradigmen von Sexualität und Gender neu überdenken lässt. Ein Teil dieser (Re)Vision besteht in der Konsultierung futuristischer wie indigener Inspirationsquellen. Wie der Wissenschafter Zachary Nataf, selbst Transgender, feststellt:
Auf der Suche nach neuem Vokabular und neuen Bezeichnungen für Gender- Identität werden immer öfter Begriffe wie „Shapeshifter“ und „Morphing“ für verschiedene Darstellungsformen des sexuellen Stils sowie deren fließende Übergänge verwendet. Der ursprünglich aus der Kultur der amerikanischen Ureinwohner stammende Begriff „Shapeshifter“ fand über die Science Fiction Eingang in die moderne Populärkultur, insbesondere über eine neue Spielart des Subgenres Cyberpunk, die ihre Popularität William Gibson verdankt und der auch die Werke der afrikanisch-amerikanischen Autorin der Xenogenesis-Serie, Octavia E. Butler, zuzurechnen sind. Butlers Bücher sind von genmanipulierenden Aliens bevölkert, einer „zur Metamorphose genötigten“ Polygender-Spezies von mannigfaltiger Sexualität, deren Überleben in der Tat von „morphologischer Veränderung, genetischer Diversität und Anpassung“ abhängt. Zachary I. Nataf, The Future: the Postmodern Lesbian Body and Transgender Trouble (1) Geeignete Modelle finden sich jedoch nicht nur in der Zukunft oder in „fremden Welten“: Lebewesen, die Shapeshifting und Morphing kennen, entstammen nicht allein dem Reich der Fantasie und Technik. Auch das Tierreich – hier bei uns auf der Erde – bietet eine schier unbegrenzte Fülle an verschiedensten Gender-Variationen und sexuellen Möglichkeiten: Etwa ganze Echsenarten, die nur aus Weibchen bestehen, welche sich durch Jungfernzeugung fortpflanzen und sehr wohl miteinander Sex haben; das soziale Gefüge der multigeschlechtlichen Kampfläufer mit vier verschiedenen Kategorien von Männchen, von denen einige umeinander werben und sich miteinander paaren; Tüpfelhyänen- und Bärenweibchen, die mit Hilfe ihrer „penilen“ Klitorides kopulieren und werfen; die Männchen des Großen Nandu, die (ebenso wie die Weibchen dieser Spezies) „vaginale“ Phallen besitzen und die Jungen in Familien mit zwei Vätern aufziehen; Schimpansenweibchen, die über Jahre hinweg durch Brustwarzenstimulierung die Trächtigkeit verhindern; Seehundpopulationen, bei denen sich mehr als 90 Prozent der Männchen nicht fortpflanzen; die pulsierenden Transsexualitäten der Korallenfische und die verblüffenden Intersexualitäten von Gynandern und Chimären. (2) Bei der Suche nach „postmodernen“ Gender- und Sexualitätsmustern geht es für den Menschen einfach darum, jene Arten einzuholen, die uns in der Entwicklung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt voraus sind – und uns an den zahlreichen Eingeborenenkulturen zu orientieren, die dies schon längst erkannt haben. (3) Die oben angesprochene Verschmelzung indigener Kosmologien und fraktaler Sexualitäten ist längst in vollem Gange – nicht im Bereich der Science Fiction, sondern des Science Fact.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends wird das Leben von LesBiSchwulen und Transgendern scheinbar erneut vom wissenschaftlich-technischen Standpunkt aus definiert und „imaginiert". Themen wie die „Natürlichkeit“ der Homosexualität (und somit auch der nichtreproduktiven Heterosexualität und der Biotechnologie), die Existenz eines mutmaßlichen „Schwulen-Gens“ und das Schreckgespenst der selektiven „Elimination“ von Homosexualität, die Bedeutung reproduktiver Technologien für Lesben und Schwule sowie die Rolle der Medizin bei der Definition und Vermittlung von Transidentitäten nehmen mittlerweile im populären wie im akademischen Diskurs eine Vorrangstellung ein, die über deren tiefe Verwurzelung in medizinisch-pathologischen Modellen der Homosexualität und Gender-Identität hinwegtäuscht. Inwiefern lassen sich aus dem Vorkommen von Homosexualität, Transgender und nichtreproduktiver Heterosexualität bei anderen Arten überhaupt Aussagen zu diesen Themen ableiten? Was sind deren weiter reichende Auswirkungen auf nichtreproduktiven Sex und die Technik?
Homosexualität und Transgender verschiedenster Art konnten schon bei Hunderten Tierarten weltweit dokumentiert werden. (4) Diese Phänomene sind im Detail schon aus rein zoologischer Sicht bedeutend, bergen jedoch auch ungeahnte Konsequenzen für Sexualität und Gender beim Menschen – allerdings nicht in der Form, die man anfangs erwarten würde. Gewiss fordert das Vorkommen homosexueller Verhaltensweisen bei Tieren unsere konventionellen Vorstellungen von der „(Un)Natürlichkeit“ der Homosexualität (oder jeglicher Form nichtreproduktiver Sexualität) heraus. Doch dieser Beitrag soll auch die simplistischen Analogien zwischen tierischen und menschlichen Verhaltensweisen – wie sie von Angehörigen der schwul-lesbischen Gemeinden ebenso bemüht werden wie von den Gegnern nichtreproduktiver Sexualität – hinterfragen. Wir werden sehen, wie Homosexualität und Transgender bei Tieren in außergenetischen (z. B. sozialen, zeitlichen, protokulturellen etc.) Dimensionen variieren und inwiefern diese Phänomene und ihre Interpretationen auf eine Studie der (Homo)Sexualität und des (Trans)Gender beim Menschen anwendbar sind. Darüber hinaus soll dieser Beitrag den Einfluss der Biotechnologie auf unsere Konzeptualisierung gegenwärtiger, vergangener und zukünftiger schwul-lesbischer (und nicht-schwul-lesbischer) Lebensstile hinterfragen. Sobald wir verstehen, dass Sexualität sowohl tief im Körper verankert ist als auch nachhaltig durch über die Biologie hinausgehende sozio-historische Kräfte geformt wird, werden sich die „Versprechungen“ und „Drohungen“ der Biotechnologie – sowie deren Auswirkung auf unsere (nicht)reproduktive Sexualität – als großteils illusorisch herausstellen.
200 Millionen Jahre Sex ohne Fortpflanzung Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung besteht schon seit jeher. Die „Überflüssigkeit“ des Fortpflanzungsaspekts in der Sexualität ist weder technologisch bedingt noch bislang völlig unbekannt: Nichtreproduktives Sexualverhalten (und sogar entsprechende Techniken) sind bei anderen Spezies als dem Menschen weit verbreitet und haben eine lange Geschichte. So gibt es homosexuelles Verhalten – vom gleichgeschlechtlichem Balzverhalten über homosexuelle Aktivitäten bis hin zur Paarbildung – bei mehr als 450 verschiedenen Tierarten weltweit, in jeder größeren geografischen Region und in jeder wichtigen Tiergruppe; wahrscheinlich existieren diese Verhaltensweisen schon seit Jahrmillionen. Bei Primaten z. B. lässt sich Homosexualität (auf Basis ihrer Distribution bei heute lebenden Primaten) mindestens 24–37 Millionen Jahre bis ins Oligozän zurückverfolgen. Einige Wissenschafter setzen das erste Auftreten von Homosexualität in der Säugetier-Evolution sogar noch früher an: vor ca. 200 Millionen Jahren; bei anderen Tiergruppen gibt es Homosexualität wahrscheinlich noch viel länger. (5)
Doch nichtreproduktive Sexualität beschränkt sich nicht auf homosexuelle Begegnungen allein. In der Tierwelt gibt es eine erstaunliche Vielzahl spezifischer heterosexueller Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienen und oft mit homosexuellen Verhaltensweisen bzw. den zahlreichen nichtreproduktiven Sexualpraktiken des Menschen vergleichbar sind. Dazu zählen diverse Formen von Oralsex (z. B. Fellatio und Lecken der Genitalien), Stimulation der Genitalien des Partners mit den Händen oder anderen Gliedmaßen (wie etwa Flossen) einschließlich vaginaler Penetration mit den Fingern (bei Primaten), anale Stimulation einschließlich der Penetration mit den Fingern oder oral-analem Kontakt, Reiben des Hinterteils bis hin zu heterosexuellem Analverkehr, Besteigen ohne vollen Genitalkontakt (bzw. das Besteigen des Männchens durch das Weibchen) sowie eine Vielzahl von Masturbationstechniken.
Tatsächlich liefert das Vorkommen von Masturbation bei Tieren den Nachweis für eine frühe nichtreproduktive „Sexualtechnik". Außer ihren Händen, Füßen oder Schwänzen verwenden Menschenaffen und Affen z. B. verschiedene Gegenstände zur sexuellen Selbststimulation und stellen sogar bewusst Masturbationswerkzeuge her, indem sie etwa Blätter oder Zweige (oft höchst kreativ) zurechtschneiden oder formen. So fertigte ein männlicher Orang-Utan z. B. ein besonders raffiniertes Werkzeug an, indem er mit dem Finger ein Loch durch ein Blatt bohrte. Dann führte er seinen erigierten Penis in diese „Öffnung“ ein, bewegte das Blatt auf und ab und stimulierte sich so selbst. Ein Schimpansenweibchen führte sich den Stängel eines Blatts, den es wiederholt mit Speichel befeuchtete, in die Vagina ein und erzielte durch manuelles Manipulieren desselben eine innere Stimulation. In einem Fall wiegte die Schimpansin ihren Körper vor und zurück, während der Stängel in ihre Vagina eingeführt war, und rieb dabei das Blatt gegen eine vertikale Fläche, sodass der Stängel praktisch in ihrem Inneren vibrierte.
Viele Tiere paaren sich routinemäßig auch außerhalb der Paarungszeit oder wenn das Weibchen keinen Eisprung hat – wie etwa während der Menstruation oder der Trächtigkeit (bzw. bei Vögeln in der Brutzeit) – mit Partnern des anderen Geschlechts (oder sind anderweitig sexuell aktiv). Nichtreproduktive sexuelle Aktivität kommt nicht nur bei vielen Arten vor, sondern macht häufig sogar einen wesentlichen Teil des gesamten Sexualverhaltens aus. Heterosexuelle Aktivität gibt es auch zwischen sexuell unreifen Tieren sowie zwischen Erwachsenen und Jungtieren, genetisch verwandten Tieren, den Angehörigen verschiedener Spezies und manchmal sogar zwischen lebenden und toten Tieren – in all diesen Fällen dient Sex nicht der Optimierung der Fortpflanzung (so eine solche überhaupt möglich wäre).
Zusätzlich zu nichtreproduktivem Sexualverhalten gibt es bei vielen Tieren tatsächlich Formen der „Geburtenkontrolle“ – d. h. Möglichkeiten, die Trächtigkeit zu verhindern. Abgesehen von der Reduzierung der Kopulationshäufigkeit oder der Paarung in Zeiten, in denen keine Befruchtung erfolgen kann, konnten mehr als 20 verschiedene Strategien identifiziert werden, wie die Weibchen die Insemination limitieren, kontrollieren bzw. verhindern können. Dazu gehören Kopulationspfropfen (gallertartige Stoppel, die im weiblichen Fortpflanzungstrakt gebildet bzw. abgelagert werden und die Besamung verhindern) und Samenausstoß durch das Weibchen nach der Paarung. Eine der außergewöhnlichsten Formen der Geburtenkontrolle wurde kürzlich bei Schimpansen entdeckt: Stimulation der Brustwarzen. Wie bei vielen anderen Säugetieren ist der normale Fortpflanzungszyklus bei Schimpansenweibchen während der Stillperiode eingeschränkt bzw. unterbrochen. Einige kinderlose Weibchen haben gelernt, diesen physiologischen Effekt durch Brustwarzenstimulierung wirkungsvoll nachzuahmen und so eine Befruchtung zu verhindern, obwohl sie in Wirklichkeit kein Junges säugen. In einigen Fällen blieben Schimpansinnen mit Hilfe dieser „Verhütungs“-Technik bis zu zehn Jahre lang ohne Nachwuchs. Abtreibung selbst kommt ebenfalls bei vielen Tierarten vor, etwa bei Pavianen, Seelöwen, Rotwild und Füchsen. Sie kann spontan erfolgen, durch Stress oder Belästigung durch ein Männchen ausgelöst oder (bei Primaten) absichtlich durch die Verwendung äußerer Mittel bzw. den Verzehr von abtreibungsfördernden Pflanzen selbst initiiert werden.
Auch sind viele Tiere in der Lage, die wichtigsten Phasen des Fortpflanzungszyklus voneinander zu trennen und neu anzuordnen. Wir sehen Fortpflanzung üblicherweise als eine fixe Abfolge von Ereignissen, bei der jede Phase unweigerlich in die nächste übergeht: Auf Eisprung folgt Paarung, darauf Befruchtung, darauf die Entwicklung des Embryos, darauf die Geburt (bzw. Eiablage). Es ist jedoch durchaus möglich, dass zwischen diesen Ereignissen große Zeitspannen liegen bzw. ihre Reihenfolge verändert wird. So ist etwa durch Samenspeicherung – Sperma wird im weiblichen Fortpflanzungstrakt gespeichert und Wochen, Monate oder sogar Jahre später zur Befruchtung der Eizelle(n) verwendet – die zeitliche Trennung von Paarung und Befruchtung möglich; hier kann es sogar vorkommen, dass der Eisprung erst nach der Insemination stattfindet. Durch nachträgliche Implantation wiederum – bei der die befruchtete Eizelle monatelang in einem „scheintodartigen“ Zustand verharrt, bis sie sich in die Gebärmutterschleimhaut einnistet – sind bei vielen Tieren während der Trächtigkeit Befruchtung und Entwicklung des Fötus voneinander getrennt. (6)
Nichtreproduktiver (sowohl hetero- als auch homosexueller) Sex sowie verschiedene Formen der „Geburtenkontrolle“ und der manipulierten Fortpflanzung sind also weder neu noch der menschlichen Spezies vorbehalten. Relativ neu allerdings sind die Verurteilung und Unterdrückung nichtreproduktiver Sexualität, vor allem der Homosexualität, durch menschliche Kulturen und Gesellschaften. Tatsächlich manifestiert sich diese Verurteilung sogar in der wissenschaftlichen Diskussion dieser Phänomene und besteht im zoologischen Diskurs bis heute. Biologen reagieren diesbezüglich durchwegs mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Verwirrung und sogar offener Feindseligkeit. Sexuelle und geschlechtliche Varianz bei Tieren wird in wissenschaftlichen Publikationen regelmäßig in einer unverhohlen homophoben bzw. heterosexistischen Sprache als „abweichend“, „unnatürlich“, „abnormal“, „bizarr“ und „unpassend“ beschrieben – in extremen Fällen gar als „pervers",„unmoralisch“ oder „kriminell“ (und reflektiert so die Einstellung weiter Kreise der Gesellschaft zu Homosexualität/Transgender beim Menschen).
Obwohl sich das intellektuelle Klima zweifellos verbessert und viele Zoologen diese negativen Ansichten nicht länger teilen, reagiert man weiterhin mit Voreingenommenheit. Bei einer Konferenz Mitte der 90er-Jahre z. B. löste die Primatologin Linda Wolfe mit der Behauptung, Tiere könnten sich rein zum Vergnügen (homo)sexuellen Aktivitäten widmen, bei der Kollegenschaft Ungläubigkeit und Entrüstung aus. 1995 reagierten die Kollegen des Zoologen Paul Vasey auf seine Forschungsarbeiten zu homosexuellem Verhalten mit dem Kommentar, die von ihm untersuchten Affen wären „Perverse“, die „vom richtigen Gebrauch ihrer Genitalien keine Ahnung“ hätten. In einem 1997 veröffentlichten Bericht bezeichneten Wissenschafter gleichgeschlechtliches Balzverhalten und gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität bei Fruchtfliegen (und die Verweigerung heterosexueller Annäherungsversuche) als „abnormal“, „abweichend“ und als „Defekt“. 1998 beschrieb ein Ornithologe homosexuelles Besteigen bei Strandläufern als „verwunderlich“ und „eine der seltsamsten Verhaltensweisen“, die er je beobachtet hatte. (7)
Auch wenn Homophobie und Heterosexismus nicht immer so offensichtlich sind, bleibt der theoretische Diskurs zur Evolution zum Großteil davon durchdrungen, solange behauptet wird, jede Form tierischen Verhaltens, einschließlich der Homosexualität, müsse eine reproduktive „Funktion“ haben. Viele Wissenschafter vertreten auch weiterhin die Ansicht, Homosexualität sei bloß eine Vorübung für die heterosexuelle Paarung, eine Methode, andersgeschlechtliche Partner auf sich aufmerksam zu machen, eine Form der sozialen Anbindung, die dem „Spannungsabbau“ dient oder den reproduktiven Erfolg anderweitig verbessert, eine Art „Spermawettbewerb“ oder sie liefern sonstige weit hergeholte „Erklärungen". Obwohl zahlreiche Fakten dagegen sprechen, dass dies die einzigen „Gründe“ für nichtreproduktive Sexualität wären, (8) wird diese Vorstellung aufrecht erhalten, da die gegenwärtigen Paradigmen der Biologie tierische Verhaltensweisen, die ausschließlich (oder zumindest primär) dem sexuellen Lustgewinn dienen, nicht gutheißen können. Bei anderen Arten und auch beim Menschen selbst hat sexuelle Aktivität ihre Fortpflanzungsfunktion schon längst abgelegt. Leider sehen die meisten Wissenschafter und somit auch die meisten Laien Sex nach wie vor nicht als von der Reproduktion „losgelöst". Was nützt uns eine Technologie, die Sexualität von der Fortpflanzung abkoppelt, wenn die Gesellschaft weiterhin auf ihrer Untrennbarkeit besteht?
„Biologische Degeneration“ und die (Un)Natürlichkeit der Homosexualität Allzu oft dient Homosexualität bei Tieren als Argument für die „Natürlichkeit“ und, in der Folge, „Akzeptierbarkeit“ von Homosexualität beim Menschen. Diese Interpretation ist viel zu naiv. Das Konzept der „Natürlichkeit“ ist äußerst fragwürdig, ob es nun von der Lesben- und Schwulen-Community oder von rechtsgerichteten Politikern im Munde geführt wird. Das Wissen um tierische Homosexualität diente im Laufe der Geschichte sowohl zur Unterstützung als auch zur Verurteilung menschlicher Homosexualität – oft innerhalb ein- und derselben Gesellschaft, durch Wissenschafter und Laien zugleich. Im Gegensatz zur heute vorherrschenden Ansicht, dieses Verhalten sei „natürlich“, wurde Homosexualität in vielen historischen Kontexten mit „animalischem“ Verhalten gleichgesetzt und auf ebendieser Grundlage verfolgt. Die Nazis klassifizierten Homosexuelle als „Untermenschen“ mit angeborenem, genetischem „Defekt“ und bezeichneten Homosexuelle, die in den KZs zu medizinischen Experimenten herangezogen wurden, als „Versuchstiere“. Tatsächlich war Adolf Hitler stark von den Schriften von Georg Lanz von Liebenfels beeinflusst, dessen Hauptwerk den Titel Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron trug. Dieses Pamphlet beschrieb den Kampf zwischen einer „niedrigeren Rasse“ dunkelhäutiger Tier-Männer („SodomsÄfflinge“) und einer heroischen Herrenrasse von mit elektronischen Körperteilen ausgestatteten Techno-Menschen. (9) So wurde damals durch den Glauben an die „tierische“ Natur der Homosexualität die homophobe Einstellung der Gesellschaft eher verstärkt als eliminiert.
In Form einer Gegenüberstellung diverser Ereignisse, die mit Dohlen, nichtreproduktiver Sexualität und – passenderweise – der Stadt Linz (sowie anderen österreichischen Orten) in Zusammenhang stehen, illustriert die folgende Timeline auf höchst aufschlussreiche Weise die Kontinuität, Komplexität und Koinzidenz gesellschaftlicher, historischer und wissenschaftlicher Einstellungen zur tierischen Homosexualität.
1935: Konrad Lorenz veröffentlicht die ersten zoologischen Beschreibungen homosexueller Paarbildung bei Dohlen und behauptet, dieses Verhalten trete nur in Gefangenschaft auf, nicht aber bei „natürlichen“ Populationen. Im selben Jahr wird Leopold Obermayer, ein in Dachau inhaftierter homosexueller Jude, von einem SS-Kommandanten mit den Worten attackiert:„Du bist kein Mensch, du bist ein Tier!“ Zwei Jahre zuvor hatten die Nazis die Bibliothek des jüdischen Homosexuellen Magnus Hirschfeld in Brand gesteckt, der 1900 eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über tierische Homosexualität veröffentlicht hatte. (10)
1939: Der erste jüdische Häftling im KZ Mauthausen in der Nähe von Linz ist ein gebürtiger Wiener, der wegen seiner Homosexualität verhaftet worden war; ein Jahr später wird er ermordet. In der Zwischenzeit startet Adolf Hitler einen der größten Kunstraubzüge der Geschichte, was ihm (in Anspielung auf die räuberischen Angewohnheiten der Dohle) den Spitznamen „Dohle von Linz“ einbringt. Eine Strategie zur Beschlagnahmung von Kunstwerken bestand darin, die Besitzer illegaler homosexueller Aktivitäten zu bezichtigen. Ein auf diese Weise erbeutetes Altarbild versteckten die Nazis in einem Salzbergwerk in Alt Aussee, unweit von dem Ort, wo Konrad Lorenz später die homosexuelle Paarbildung bei Gänsen studieren sollte. (11)
1979: Erstmals wird homosexuelle Paarbildung auch bei wild lebenden Dohlen beobachtet, was Lorenz’ 44 Jahre zuvor getroffene Aussagen widerlegt. Zoologen stellen fest, dass ca. 10 Prozent der verwitweten Weibchen in einer niederländischen Population homosexuelle Paare bilden, während bei ca. 5 Prozent der Dreiergespanne gleichgeschlechtliche Paarbildung involviert ist. Etwa zur selben Zeit beschreibt ein Zoologe in Wien Homosexualität bei Igelweibchen als „abnormale“ Aktivität, durch die die Tiere „Schaden“ nehmen werden. (12)
1989: Konrad Lorenz zufolge sollten gleichgeschlechtliche Gänsepaare nicht als homosexuell bezeichnet werden, da nicht alle Mitglieder solcher Paare sexuell aktiv sind bzw. sich ausschließlich mit gleichgeschlechtlichen Partnern paaren. Dennoch bezeichnet er verschiedengeschlechtliche Paare ohne Zögern als „heterosexuell“, obwohl bei dieser Spezies sexuelle Aktivität bei der Bildung verschiedengeschlechtlicher Paare nur eine untergeordnete Rolle spielt und sich nicht alle betroffenen Vögel ausschließlich mit Partnern des anderen Geschlechts paaren. (13)
1999: Die Stadt Linz installiert eine Webcam, um das Verhalten von Dohlen aufzuzeichnen und Videobilder davon live im Internet zu übertragen. Schwerpunkt dieser Aktion ist das Nest eines heterosexuellen Paars. Die Website stellt das Fortpflanzungsverhalten in den Vordergrund und erwähnt weder die bei Dohlen nachgewiesene homosexuelle Paarbildung noch die zahlreichen Formen ihres nichtreproduktiven heterosexuellen Verhaltens. (14)
Lorenz’ Gleichsetzung von Homosexualität mit „unnatürlichem“ Verhalten – sowie seine Weigerung, den Begriff homosexuell auf Ganterpaare anzuwenden und somit einen Vergleich zwischen Mensch und Tier anzuregen (bzw. die Gleichwertigkeit von Heterosexualität und Homosexualität zu implizieren) – ist vor allem im Licht seiner Aktivitäten während des Dritten Reichs problematisch. Als Mitglied der Nationalsozialistischen Partei Österreichs und als offizieller Beauftragter der Behörde für Rassenpolitik zögerte Lorenz nicht, deren Doktrinen der „biologischen Degeneration“, „Reinheit der Rasse“ bzw. „Eliminierung minderwertiger“ oder „asozialer“ Elemente durch Analogien zwischen Mensch und Tier zu untermauern bzw. aufstellen zu helfen. Zu seinen diesbezüglich eklatantesten Aussagen gehören veröffentlichte Stellungnahmen, denen zufolge der physische und moralische „Verfall“ beim Menschen mit den Auswirkungen der Domestikation von Tieren „ident“ sei und der „defekte Typus“ beim Menschen dem „domestizierten Tier“ entspreche,„das sich im schmutzigsten Stall und mit jedem Sexualpartner fortpflanzen kann.“ Weiters schrieb er: „Gerade in dem weiten Bereich des Instinktverhaltens ist ein direkter Vergleich zwischen Menschen und Tieren möglich [...] Diese Studien werden sich sowohl für die theoretischen als auch die praktischen Anliegen der Rassenpolitik als fruchtbar erweisen.“ Auch in seiner Privatkorrespondenz brachte Lorenz seinen Antisemitismus durch Vergleiche zwischen Mensch und Tier zum Ausdruck; so etwa beschrieb er eine Entenart als mit einer „hässlichen jüdischen Nase“ ausgestattet. (15)
Heute geht es darum zu verstehen, inwiefern wir tierisches Verhalten – und insbesondere tierische Sexualität – vor diesem geschichtlichen Hintergrund interpretieren und welche Gefahren ein Tier-Mensch-Vergleich in sich birgt. Bei Tieren kommt vieles vor, was kein akzeptables menschliches Verhalten wäre – Kannibalismus, Vergewaltigung, Inzest etc. –, während es beim Menschen wiederum viele Aktivitäten gibt, die zwar im Tierreich völlig unbekannt sind, deshalb aber noch lange nicht als „unnatürlich“ gelten (z. B. E-Mails schreiben, Essen kochen, Walzer tanzen). Wer also heute das Vorkommen von Homosexualität – oder von nichtreproduktivem Sex – bei Tieren als Argument für die „Legitimität“ dieser Verhaltensweisen beim Menschen verwenden will, muss vorsichtig sein, denn auf dieser Grundlage kann man besagte Phänomene ebenso gut als „animalisch“ wie als „natürlich“ beschreiben. Tatsächlich lässt so manche aktuelle Kritik an reproduktiven Technologien die NS-Anschauung durchklingen, Homosexualität sei „tierisch“ und „wider die Natur". So behauptete kürzlich ein Abtreibungsgegner, die „post-reproduktiven“ Technologien (einschließlich jener Techniken, die es Schwulen und Lesben ermöglichen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen) würden die Menschen durch Ausschaltung der „natürlichen“ (d. h. reproduktiven) Sexualität „zu Tieren machen“. (16)
Die Entscheidung, ob menschliches Verhalten „moralisch", „normal“ oder „erwünscht“ ist, lässt sich nicht einfach damit begründen, ob ein derartiges Verhalten auch in der Tierwelt vorkommt. Genauer gesagt, LesBiSchwule und Transgender brauchen ihre Existenz nicht durch Beispiele aus dem Tierreich zu „rechtfertigen". Auch wenn Homosexualität und Transgender im Tierreich nie vorkämen, hätten Lesben, Schwule und Transgender in jedem Fall Anspruch auf völlige Gleichberechtigung als Person und auf Schutz vor Diskriminierung, Vorurteil und Gewalt (genauso wie Computerbenutzer, Küchenchefs und Standardtänzer, für die es im Tierreich ebenfalls keine analogen Verhaltensweisen oder Identitäten gibt).
Letztendlich wird die technologisch unterstützte Verbreitung von Informationen über tierisches Verhalten unseren Wissenshorizont nur dann erweitern, wenn sie von entsprechend fortschrittlichen Einstellungen und Ansichten begleitet ist. Die Linzer Webcam samt Website beseitigen im Wesentlichen jeden Hinweis auf die nichtreproduktive Sexualität der Dohlen, wodurch die Geschichte des Schweigens, der Fehlinformation und der Verzerrung, die diese Tierart – wie so viele andere – schon seit über einem halben Jahrhundert umgibt, weiter fortgeschrieben wird. Information über Homosexualität und nichtreproduktive Heterosexualität bei Dohlen ist nun schon seit vielen Jahrzehnten verfügbar. Dennoch wird die Dohle Tausenden Web-Surfern weiterhin als „perfektes“ Beispiel einer heterosexuellen Kreatur präsentiert, deren Verhalten ausschließlich auf Vermehrung abzielt. Unter dem Deckmantel der technologischen „Verbesserung“ und des technologischen „Zugangs“ schloss die Linzer Webcam ungewollt einen Kreis, der vor 64 Jahren mit Konrad Lorenz’ Behauptung, homosexuelle Paarbildung sei nicht Teil des „natürlichen“ Verhaltens der Dohle, seinen Anfang nahm.
Genetische Fehler oder verfehlte Genetik? Im derzeitigen – populären wie akademischen – Diskurs zum Thema schwul-lesbisches Leben wird großteils von der Existenz eines „Schwulen-Gens“ bzw. einer entsprechenden genetischen „Markierung“ ausgegangen. Gibt es das wirklich? Wie lässt es sich isolieren? Was sind die ethischen und praktischen Implikationen? Das „Schwulen-Gen“ wird in diesem Kontext zumeist entweder explizit oder implizit als ein Teil des genetischen Codes beschrieben, der die absolute Bestimmungsgewalt über die sexuelle Ausrichtung hat. Es ist unwahrscheinlich, dass eine solche Markierung wirklich entdeckt wird, weil es unwahrscheinlich ist, dass sie überhaupt existiert – so wie auch die Existenz einer absoluten genetischen Determinante für Mitgefühl, Verspieltheit, Integrität oder Schönheitssinn unwahrscheinlich ist. Das heißt natürlich nicht, dass Homosexualität keine genetische Basis hat – nur, dass bei der Ausformung von (Homo)Sexualität, unabhängig davon, ob diese über eine genetische Komponente verfügt oder nicht, nichtgenetische Faktoren zumindest eine ebenso wichtige, wenn nicht sogar wichtigere Rolle spielen.
Tierisches Verhalten kann – und darf – nicht einfach als Basis oder Vorlage für Theorien über den Ursprung der sexuellen Orientierung des Menschen dienen. Dafür ist Homosexualität innerhalb der diversen nicht-menschlichen Spezies (oder in verschiedenen menschlichen Kulturen, historischen Epochen, bei einzelnen Individuen etc.) viel zu unterschiedlich ausgeprägt; diese Unterschiede werden noch deutlicher, wenn man die menschliche Spezies mit nicht-menschlichen Arten vergleicht. Dennoch ist das Wissen um die außergenetischen Komponenten tierischer Homosexualität sehr wohl relevant für unser Verständnis menschlicher Homosexualität. Außer durch die Genetik ist die Ausformung von (Homo)Sexualität bei Tieren durch zahlreiche andere – soziale, zeitliche, geografische, umweltbedingte, individuelle und sogar (proto)kulturelle – Faktoren beeinflusst. Das ist natürlich eine Provokation für die Annahme, tierische Homosexualität sei strikt „instinktiv“ und invariant, weshalb sich diese Sichtweise für Studien der menschlichen (Homo)Sexualität als äußerst wertvoll entpuppt. Sie liefert zumindest weitere Argumente für die aus den meisten Untersuchungen zur sexuellen Orientierung des Menschen ableitbare Ansicht, dass Sexualität aus der komplexen Interaktion verschiedener Faktoren resultiert und sich nicht durch die Gegenüberstellung „Umwelt versus Genetik“ polarisieren lässt.
Die soziokulturellen Dimensionen tierischer Homosexualität zeigen weiters die Grenzen und den gedanklichen Unterbau der Debatte „Natur versus Erziehung“ auf. Nur allzu oft dient der Nachweis tierischer Homosexualität zur Untermauerung der Ansicht, Homosexualität sei angeboren, genetisch gesteuert oder werde anderweitig bei (bzw. vor) der Geburt festgelegt. Dabei werden die Komplexitäten und Nuancen der sexuellen Orientierung und der Geschlechterrollen – bei Mensch und Tier – gerne übersehen. Tatsächlich suggeriert die Vielfalt menschlicher und tierischer Homosexualität, dass es zwischen den angeblich klar abgegrenzten Kategorien Biologie und Gesellschaft keine eindeutigen Grenzen gibt. Einerseits lässt sich die Vielzahl der Ausformungen menschlicher (Homo)Sexualität nicht mehr einzig und allein auf kulturelle bzw. historische Einflüsse zurückführen, da eine solche Diversifikation tatsächlich Teil unserer biologischen Ausstattung sein könnte – als inhärente Fähigkeit zur „sexuellen Plastizität“, die wir mit vielen anderen Arten teilen. Andererseits ist es ebenso sinnvoll, bei Tieren von einer „Kultur“ der Homosexualität zu sprechen, da die (zwischen Einzeltieren, Populationen oder Arten) nachweisbaren Variationen jede durch genetische Programmierung bedingte Variation in Umfang und Ausmaß übertreffen und so bereits in den Bereich der individuellen Angewohnheiten, angelernten Verhaltensweisen und sogar gemeinschaftsumfassenden „Traditionen“ fallen.
Die Beweise für eine genetische Komponente tierischer Homosexualität häufen sich, und dieser Trend wird sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. Gleichzeitig steht fest, dass soziale, umweltbedingte und individuelle Faktoren eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen wie genetische, vor allem bei „höheren Tieren“ wie Säugetieren und einigen Vögeln mit komplexen Formen der sozialen Organisation und hochflexiblem Interaktionsverhalten. Die Ausformung von Homosexualität fällt oft je nach sozialem Kontext, Altersgruppen, Aktivitäten, Individuen und sogar Populationen und geografischen Gebieten höchst unterschiedlich aus und entzieht sich jeder möglichen genetischen „Kontrolle“. So beteiligen sich einzelne Vertreter von Tierarten wie dem Kampfläufer (einer Strandläuferart) in völlig unterschiedlichem Ausmaß an homosexuellen Aktivitäten, doch die nachweisbaren genetischen Unterschiede zwischen den jeweiligen Exemplaren laufen ihrem unterschiedlichen homosexuellen Verhalten öfter zuwider, als damit im Einklang zu stehen. Außerdem hat homosexuelle (und jegliche andere sexuelle) Aktivität bei manchen Arten, vor allem bei Primaten, eine stark „kulturelle“, soziale und/oder angelernte Dimension. Letztendlich ist es also relativ unwichtig, ob es tatsächlich ein „Gen“ für Homosexualität gibt. Auch wenn sich eine genetische Komponente definitiv nachweisen lässt (was wahrscheinlich ist), wird diese nie mehr sein als genau das: eine Komponente, Teil eines weitaus größeren Bildes, das die gesamte Biologie eines Menschen bzw. Tieres sowie seine soziale Umwelt umfasst.
Zweifelsohne wird man weiterhin versuchen, das mutmaßliche „Schwulen-Gen“ beim Menschen zu „finden“ und Homosexualität durch Ausschalten oder Verändern dieser „genetischen Markierung“ einfach „auszurotten“. Aber gerade wegen ihrer nichtbiologischen Komponenten ist Sexualität weitaus komplexer, fließender und mysteriöser – und auch viel unverwüstlicher. Vielleicht wird man gewisse Formen der Homosexualität wirklich einmal durch „Gentherapie“ eliminieren oder verändern können. Dennoch werden sich auch im 21. Jahrhundert weiterhin genau so viele Menschen in Personen desselben Geschlechts verlieben wie bisher, auch wenn sie das eigentlich nicht „sollten“ – etwa wenn sie bis dahin ein „perfekt“ heterosexuelles Leben geführt haben oder wenn es keinen genetischen Hinweis dafür gibt, dass sie etwas anderes als „hetero“ sein könnten, und auch wenn sich ihre Eltern einem sorgfältigen „Schwulen-Gen"-Screening unterzogen haben. Und diese Menschen werden auch weiterhin den Wert ihrer Liebe entdecken und sich daran freuen, ohne Rücksicht darauf, ob diese Liebe von Wissenschaft und Gesellschaft als abnormal abgestempelt wird.
Gegen die Privilegierung der genetischen Elternschaft Während die Biotechnologie Sex und heterosexuelle Fortpflanzung immer mehr voneinander abkoppelt, hat Sex für Lesben und Schwule schon heute nichts mit Fortpflanzung zu tun. Wenn Heterosexuelle zu einem gewissen Grad auf die Technologie zurückgreifen, um ihr Sexualleben durch seine Abkoppelung von der Fortpflanzung „wieder“ mit Lust zu füllen, so sehen Homosexuelle in der Technologie einen Weg, ihr an und für sich lustvolles Sexualleben „wieder“ mit der Möglichkeit der Fortpflanzung auszustatten. Zumindest in Nordamerika hätten viele Schwule und Lesben gern eigene Kinder, und reproduktive Technologien werden oft als mögliche Lösung propagiert. Normalerweise dominiert in diesem Kontext die Frage, ob und wie der wissenschaftliche Fortschritt lesbischen und schwulen Paaren ihren „Kinderwunsch“ erfüllen kann. So werden u.a. hoch spekulative Hypothesen über das Klonen und die Schwangerschaft von Männern als Möglichkeiten dafür genannt, den schier unerreichbaren Traum von der „echten Elternschaft“ (d. h. nach dem heterosexuellen Modell) zu erfüllen.
Natürlich können lesbische bzw. schwule Paare schon heute gemeinsam Kinder haben (zumindest infolge einer Hand voll politisch motivierter Gerichtsurteile) – nur besitzen diese Kinder nicht die Gene beider Partner. Gewiss mögen sich in den nächsten Jahren in der Biotechnologie einige erstaunliche Entwicklungen ergeben, die eine Weitergabe der Gene beider Partner ermöglichen oder zumindest imitieren. Dennoch wird der signifikantere Fortschritt darin bestehen, dass Personen (Lesben und Schwule ebenso wie Heteros), die bewusst auf eigene Kinder verzichten – durch Kinderlosigkeit oder indem sie Kinder aufziehen, die nicht alle oder gar keine ihrer Gene in sich tragen –, entstigmatisiert und in ihrem Status nach Möglichkeit aufgewertet werden. Jeder Mensch – unabhängig von seiner sexuellen Orientierung oder Gender-Identität – hat das unabänderliche Recht, sich auf jede gewünschte Weise fortzupflanzen. Das ist vor allem wichtig für LesBiSchwule, denen seit jeher das Recht auf Familiengründung und Zugang zu reproduktiven Technologien verwehrt geblieben ist – und auch weiterhin verwehrt bleibt. (17) Schwule müssen sich ihre Kinder immer noch wegnehmen lassen, Lesben wird der Zugang zu Samenbanken verweigert, und Ehen gleichgeschlechtlicher Partner sind nach wie vor in weiten Teilen der Welt verboten, da sie „nicht der Fortpflanzung dienen“. Gerade deshalb ist es wichtig, die technologische Privilegierung der genetischen Verwandtschaft und der Kernfamilie zu hinterfragen. Insbesondere sollte anerkannt werden, dass es nicht inhärent „natürlich“, moralisch oder erforderlich ist, eigene Kinder auszutragen und/oder aufzuziehen.
Werfen wir – mit der bereits erwähnten gebührenden Vorsicht – einen Blick auf andere Arten, so liefert die Tierwelt eindeutige Beweise dafür, dass Sexualität und Paarbildung unabhängig von der Fortpflanzung existieren, dass sich viele Tiere einfach überhaupt nicht fortpflanzen und dass der Fortpflanzungs-„Trieb“ alles andere als automatisch oder „instinktiv“ ist. Tierpopulationen überleben und gedeihen auch, wenn sich der Großteil der Individuen nicht vermehrt, (18) wobei die nachwuchslosen Exemplare nicht weniger „(un)natürlich“ sind als diejenigen, die sich fortpflanzen. Der Fortpflanzungstrieb bei Tieren wird tendenziell als automatisch, alles-beherrschend und unaufhaltbar angesehen. Während dies auf heterosexuelle Interaktionen häufig zutrifft, gibt es dennoch genügend Beispiele für Tiere, die sich nicht fortpflanzen: Individuen, die sich aktiv aus dem Fortpflanzungszyklus zurückziehen, deren reproduktive Enthaltsamkeit durch die gesamte soziale Organisation der jeweiligen Spezies oder durch physiologische Einschränkungen getragen wird, und solche, die nur selten (wenn überhaupt) Nachwuchs zeugen oder die ohne (bzw. nach der) Reproduktion ein erfülltes Leben führen.
Warum pflanzen sich manche Tiere nicht fort? Biologen haben zur Bezeichnung der verschiedenen Formen der Fortpflanzungsverweigerung den Begriff „reproduktive Suppression“ geprägt, was impliziert, dass sich alle Tiere vermehren würden, wenn sie könnten, dass sie jedoch manchmal etwas davon „abhält“. Dennoch sind die der Fortpflanzungsverweigerung zu Grunde liegenden Mechanismen weitaus komplexer, als dieser Begriff vermuten lässt. Hier spielen zahlreiche soziale, physiologische, umweltbedingte und individuelle Faktoren eine Rolle, deren Interaktionsmuster großteils noch nicht entschlüsselt sind. Bei manchen Tieren wird die Vermehrung tatsächlich aktiv „unterdrückt“ – bei Wölfen etwa greifen dominierende Rudelmitglieder Tiere niedrigeren Rangs oft körperlich an, wenn diese sich paaren wollen. Bei anderen Arten jedoch wird keinerlei Druck ausgeübt. Besonders bei Vögeln mit gemeinschaftlichen Brutsystemen (wie etwa bei den Graufischern) sowie bei Primaten (wie bei Tamarinen oder Pinseläffchen) konnten Wissenschafter feststellen, dass manche Individuen in ihren Fortpflanzungsbemühungen nicht „gegen ihren Willen“ unterdrückt werden, sondern sich vielmehr „entscheiden“, auf die Fortpflanzung zu verzichten bzw. sich der Teilnahme an der Reproduktion zu „enthalten“.
Fortpflanzung ist in vielen Fällen ein körperlich anstrengendes und äußerst gefährliches Unterfangen, das manche Tiere einfach „vermeiden“. Exemplare ohne Nachwuchs sind oft in besserer körperlicher Verfassung als ihre sich vermehrenden Artgenossen, da ihnen die Strapazen der Fortpflanzung und Brutpflege erspart bleiben. Tatsächlich wäre Fortpflanzung manchmal sogar „suizidär“, weil sie die Lebenserwartung herabsetzen könnte. Männliche Dickhornschafe und Rotwildweibchen weisen z. B. nach erfolgter Fortpflanzung eine deutlich höhere Sterberate auf als ihre Artgenossen ohne Nachwuchs. Schließlich mag sich auch das Risiko einer Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten (wie sie bei erstaunlich vielen Tieren vorkommen) auf die reproduktive Aktivität auswirken. So vermeiden z. B. weibliche Tordalken (eine Vogelart) die reproduktive Kopulation immer dann, wenn das Risiko einer Infektion mit sexuell übertragbaren Krankheiten am höchsten ist (obwohl nichtreproduktive sexuelle Aktivitäten fortgesetzt werden, z. B. Besteigen ohne direkten Genitalkontakt). Auch bei einigen anderen Arten wirkt sich das potenzielle Risiko einer Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten u. U. einschränkend auf das heterosexuelle Verhalten aus.
Letztendlich lässt sich kein alleiniger „Grund“ dafür feststellen, weshalb Tiere sich nicht vermehren: Auch die Verweigerung der Fortpflanzung ist, wie die Sexualität selbst, bloß ein Teilchen in dem bunten Mosaik des Tierlebens und manifestiert sich auf mannigfaltigste Weise. Heterosexualität begründet (ebenso wie Homosexualität) eine ganze Reihe von Verhaltensweisen und Lebensgeschichten, liefert jedoch keinesfalls ein einziges, unveränderliches, für jedes Tier gültiges Verhaltensmodell. Fortpflanzungsverweigerung stellt nur eine der zahlreichen Möglichkeiten der „Heterosexualität“ dar.
Wenn Tiere einmal eine Familie gründen, steht ihnen zur Brutpflege eine Unmenge an verschiedenen Arrangements zur Verfügung – und nur ein kleiner Bruchteil davon erfordert die Bildung einer „Kernfamilie", bei der Mutter und Vater gemeinsam für den eigenen Nachwuchs sorgen. So kennen knapp 300 Säugetier- und Vogelarten Adoptions-, Brutpflegehilfe- und „Tagesmütter“-Systeme, bei denen die Jungen von Tieren aufgezogen bzw. versorgt werden, die nicht ihre biologischen Eltern sind. Derartige Systeme können sowohl als Beispiel für die Entbindung erwachsener Tiere von den Pflichten der Brutpflege mittels natürlicher „Hilfssysteme“ als auch für den teilweisen Verzicht auf die reproduktive „Verantwortung“ zu Gunsten anderer Aktivitäten gesehen werden.
Somit ist der Mensch nicht das einzige Lebewesen, das manchmal die Weitergabe der eigenen Gene vermeidet. Gerade angesichts der Weiterentwicklung reproduktiver Technologien sollte es nicht mehr so sehr darauf ankommen, ob Kinder „wirklich“ unsere eigenen sind, d.h. ob sie unsere Gene in sich tragen, sondern vielmehr darauf, kinderlose Menschen – oder solche, die durch Adoption, Pflegeelternschaft oder anderer Arrangements die Kinder „anderer“ Leute aufziehen – als vollwertige Mitglieder des gesellschaftlichen Gefüges zu akzeptieren.
Transgender-Transformation Durch die reproduktiven Technologien der Zukunft könnte die grundlegende Neudefinition weiblicher und männlicher Rollen beschleunigt werden. Allerdings findet schon heute im Transgender-Bereich eine tief greifende Revision der Gender-Grenzen statt – mit und ohne Technik. Auf den ersten Blick sind Transgender-Identitäten – und vor allem transsexuelle Identitäten – scheinbar durch und durch auf medizinische Technologien angewiesen. Der aktuelle Diskurs konzentriert sich häufig darauf, inwiefern durch chirurgische und hormonelle Eingriffe letztendlich ein Individuum des „anderen“ Geschlechts „erschaffen“ werden kann. Für Transgender hingegen, die sich im Zuge ihrer Transition zur „Neuzuweisung ihres Geschlechts“ der vorhandenen Techniken bedienen, sind deren Qualität, Erschwinglichkeit und Durchführbarkeit durchaus reale Anliegen. Nach der langjährigen Pathologisierung durch medizinische Modelle scheinen Transgender-Identitäten heute – auf Gedeih und Verderb – mit den „Versprechungen“ und „Wundern“ von Wissenschaft und Technik verbunden. Wie bei den reproduktiven Technologien könnte die Biotechnologie auch hier reaktionäre Ansichten überwinden helfen und tatsächlich hilfreich und letzten Endes sogar vorteilhaft eingesetzt werden. Die wahren Fortschritte des 21. Jahrhunderts werden sich jedoch nicht so sehr im Technologiebereich, sondern vielmehr in der Konzeptualisierung und dem sozialen Ausleben der Geschlechterrollen manifestieren.
Bei (Trans)Gender geht es im selben – wenn nicht sogar in höherem – Maße um unsere Vorstellung bzw. Wahrnehmung von „männlich“ und „weiblich“,„maskulin“ und „feminin“ wie auch darum, über welche Genitalien, Chromosomen oder reproduktive Fähigkeiten eine Person verfügt. Natürlich ist jeder Mensch voll und ganz berechtigt, seinen Körper chirurgisch, hormonell oder anderweitig zu modifizieren, sofern dies zur Abstimmung auf seine innere Gender-Identität notwendig ist. Schlussendlich jedoch wird Transgender wohl immer weniger, nicht immer stärker von „Wissenschaft und Technik“ (Chirurgie, Körpermodifikation, etc.) abhängen. (19) Grund dafür ist, dass die (Trans)Gender-Identität in gleichem Ausmaß der Gesellschaft angehört, in der eine Person lebt, wie sie der Person selbst angehört.
Es gibt Kulturen (und historische Epochen) auf dieser Welt, die genetisch männliche Individuen als „echte“ Frauen und genetisch weibliche Individuen als „echte“ Männer akzeptieren, obwohl keine körperliche Veränderung stattgefunden hat; weiters gibt es Kulturen, die Individuen „zulassen“ oder anerkennen, die zwischen den Geschlechtern „wechseln“ oder ohne technische Unterstützung undeterminierte Gender-Räume okkupieren. Auch bei Tieren gibt es Gesellschaften, wo biologisch männliche Individuen als Weibchen leben und als solche akzeptiert werden, obwohl ihre körperliche Erscheinung zur Gänze der eines Männchens entspricht (z. B. Dickhornschafe), oder wo genderambiguose Individuen voll in die sozialen Netzwerke der jeweiligen Art integriert sind (z. B. die nordamerikanische Grasmückenart Wilsonia citrina). Andere Gesellschaften wiederum – wie z. B. unsere heutige – sehen in Transgender-Menschen weiterhin „weniger“ als in Menschen, die als Männer im Männerkörper bzw. Frauen mit Frauenkörper geboren wurden – unabhängig davon, wie vielen chirurgischen Eingriffen oder Körpermodifikationen sich diese unterzogen haben.
In Boys Don’t Cry – der aktuellen Verfilmung der Geschichte des „präoperativen“ (oder „non-operativen“) Frau-zu-Mann-Transgender Brandon Teena – gibt es eine Schlüsselszene, wo Brandon vor seiner Freundin Lana seine weiblichen Genitalien entblößen muss. In der Folge lässt Lana in einer atemberaubenden Demonstration von Treue und Einfühlungsvermögen nicht davon ab, Brandon ungeachtet einer überwältigenden Welle an Hohn, Spott und Gewalt als männlich/Mann/maskulin zu betrachten, zu verteidigen und zu lieben – und das trotz der Tatsache, dass sein körperliches Erscheinungsbild nicht durch „Wissenschaft und Technik“ verändert wurde. Das Leben von Transgendern im 21. Jahrhundert – sowie das all jener, deren Leben von ihrer Geschlechterrolle bestimmt ist, d. h. von uns allen – wird sich nicht erst dann verbessern, wenn die Technologien zur „Neuzuweisung“ des Geschlechts (und der Fortpflanzung) besser ausgereift sind, sondern wenn wir alle die gewählten Geschlechterrollen unserer Mitmenschen ebenso unerschrocken, mutig und liebevoll akzeptieren können wie Lana es in diesem Film tut.
Der Körper – unendliche Weiten
In ihrer effizientesten Form ermöglicht uns die Kommunikationstechnologie, die Geschichten und Erfahrungen anderer zu uns nach Hause zu holen, ohne jedoch unser Zuhause zu verändern. In ihrer effizientesten Form erlaubt uns die Technologie des Reisens, „bequem von zu Hause aus“ die Geschichten anderer Menschen zu durchstreifen, ohne jedoch diese Geschichten zu verändern. In ihrer effizientesten Form wird die Technologie keinen Effekt mehr erzielen. (James P. Carse)
Unser Unbehagen ergibt sich wie folgt: [...] uneingeschränkter Zugang zu Wissen ohne gelungene Interaktion mit dem Körper oder der Fantasie [...] Inhalt und Form unseres Wissens brauchen eine Grundlage im Fleisch – im ganzen, fleischlichen Körper, nicht nur in einem in Formaldehyd eingelegten Gehirn.Das Wissen, das wir wollen, ist weder utilitaristisch noch „rein", sondern zelebrativ [...] und es muss körperlich sein, nicht abstrakt, fleischlos, von einer Maschine, einer Autorität oder durch Simulation vermittelt. (Hakim Bey) (20) Unser Körper kann Sex und Fortpflanzung auch ohne Technik trennen. Ganz unabhängig von technologischen Eingriffen war Sex schon immer nichtreproduktiv und wird es auch immer sein. (21) Es sind vielmehr unsere Überzeugungen, Kulturen, Gesellschaften, Religionen und Wissenschaften, die nichtreproduktive Sexualität bisher ignoriert, stigmatisiert, unterdrückt und vermieden haben – und zwar durch die Definition von „Sex“ als rein heterosexuelle Penis-Vagina-Penetration zum Zweck der Empfängnis, nicht des Lustgewinns. Dennoch bietet unser Körper über diese eng gefasste Definition hinaus unendliche Möglichkeiten, eine Vielzahl an Sexualitäten und Geschlechterrollen auszuleben, die auszulösen es nur wenig mehr als unserer bewussten Hinwendung bedarf.
„Reproduktive Technologien“ sind hauptsächlich deshalb notwendig, weil die Menschen nicht in der Lage – oder nicht willens – sind, sich ihre über Sex mit einem andersgeschlechtlichen Partner, die Missionarsstellung oder Sex-zum-Zwecke-der-Kinderzeugung hinausgehenden Wünsche vorzustellen bzw. diese wahrzunehmen. Wenn die Menschen z. B. ihre sexuelle Orientierung aus freien Stücken ändern und homosexuell „werden“ könnten, bräuchten sie keine technische Hilfe zur Trennung ihrer (Hetero) Sexualität von der Fortpflanzung – ein Partner desselben Geschlechts genügt. Ist die Tatsache, dass die meisten Menschen das nicht können, auf Genetik, Hormone, Kultur, Gesellschaft, Politik etc. zurückzuführen? Wahrscheinlich spielen all diese Faktoren – und noch einige andere – zusammen, doch allein die Tatsache, dass man der Technologie zutraut, dasselbe Ergebnis zu erzielen, bestätigt die mächtigen – sozialen und biologischen – Kräfte, durch die unser Verlangen geformt und eingeschränkt wird.
Nur weil Heterosexualitätmittels Technologie von der Fortpflanzung „losgelöst“ werden kann, muss sie noch lange nicht automatisch „zum Vergnügen“ werden. Hanif Kureishi beschrieb heterosexuellen Sex einmal als „die Geschichte, wo die Frau die ganze Zeit versucht zu kommen, es aber nicht schafft, und der Mann die ganze Zeit versucht, nicht zu kommen, es aber auch nicht schafft.“ (22) Auch lange nach der Perfektionierung der „künstlichen Gebärmutter“ und nach der vollständigen Dekodierung des menschlichen Genoms werden wir uns weiterhin mit den Kapriolen der Mann-Frau-Beziehung, der Kontrolle unseres Verlangens und den mit diesen Interaktionen verbundenen kulturellen und gesellschaftlichen Erwartungen und Inkompatibilitäten herumschlagen. Letzten Endes können wir uns über den Körper und sein gesellschaftliches Umfeld nicht völlig hinwegsetzen, ganz egal, wie viel Technologie zur Anwendung kommt.
Ängste bezüglich der „Künstlichkeit“ der neuen reproduktiven Technologien sind größtenteils unangebracht. In der „natürlichen“ Welt (der Tierwelt) gibt es unendlich viele Möglichkeiten, den Fortpflanzungsablauf „künstlich“ zu manipulieren, zu unterbrechen, zu umgehen, neu anzuordnen und abzubrechen – von Geburtenkontrolle über Homosexualität bis hin zum Klonen (Parthenogenese) und zur Leihelternschaft. Also sind uns auch die „Auswirkungen“ dieser Technologien schon seit Jahrmillionen bekannt. Selbstverständlich muss man bei der Bewertung der gesellschaftlichen, politischen und ethischen Dimensionen der Biotechnologie entsprechende Vorsicht walten lassen – die vorrangigsten Themen in diesem Zusammenhang werden Kommodifizierung, Zugang, Vermittlung und Entfremdung vom Körper sein. Darüber hinaus jedoch stellt sich die weitaus umfassendere Frage nach der Einstellung der Gesellschaft zur sexuellen Lust.
Um mit James Carse zu sprechen: In ihrer effizientesten Form wird es uns die Technologie der (Nicht)Reproduktion ermöglichen, sexuelle Beziehungen gänzlich von der Fortpflanzung loszukoppeln, ohne jedoch unsere prinzipielle Unsicherheit in Sachen sexueller Lust zu verändern. Trotz der Illusion enormer Fortschritte wird sich in Wirklichkeit nicht viel ändern. Die zukünftige Geschichte der Sexualität liegt also nicht so sehr in ihrer technologisch unterstützten Loslösung von der Fortpflanzung, sondern im Überwinden jener repressiven gesellschaftlichen Konstrukte, die auch weiterhin die Abwertung jeglichen sexuellen Lustempfindens betreiben.
Anmerkungen
Ich danke Deb Price, Hervé Morin und Roz Kaveney für ihre konstruktiven Fragen und Kommentare, die mich dazu bewogen, zahlreiche der hier behandelten Themen zu berücksichtigen. Teile dieses Beitrags wurden aus Biological Exuberance: Animal Homosexuality and Natural Diversity, St. Martin’s Press, New York 1999, adaptiert.
(1) Nataf, Zachary I. Lesbians Talk Transgender, Scarlet Press, London 1996, S. 55 zurück
(2) Gynander und Chimären sind intersexuelle Tiere, die zugleich über männliche und weibliche Eigenschaften verfügen. zurück
(3) Bagemihl, Bruce (2000): „Left-Handed Bears and Androgynous Cassowaries: Homosexual/Transgendered Animals and Indigenous Knowledge“, in: Whole Earth 100:77–83. (www.wholeearthmag.com/ArticleBin/338.html); Bagemihl, Biological Exuberance, S. 215–244 zurück
(4) Transgender meint die Kombination, das Cross-over oder das Verwischen von Gender oder sexuellen Charakteristika und umfasst Transsexualität (Geschlechtsumwandlung), Intersexualität (Hermaphroditismus) und „Transvestismus“ (Nachahmung des anderen Geschlechts in Auftreten oder Verhalten). Eine detaillierte Abhandlung dieser Terminologie sowie zahlreicher Formen von Homosexualität und Transgender bei Tieren findet sich in Bagemihl, Biological Exuberance.zurück
(5) Vasey, Paul L.: „Homosexual Behavior in Primates: A Review of Evidence and Theory“, in: International Journal of Primatology 16, 1995, S. 173–204; Baker, Robin und Mark A. Bellis, Human Sperm Competition: Copulation, Masturbation, and Infidelity, Chapman and Hall, London 1995 zurück
(6) Eine eingehende Diskussion sowie entsprechende Quellenhinweise zum Thema nichtreproduktiver Heterosexualität bei Tieren findet sich in Bagemihl, Biological Exuberance, S. 201–211 zurück
(7) Vines, Gail (1999): „Queer Creatures“, in: New Scientist 163 (2198), S. 32–35 (www.newscientist.com/ns/19990807/queercreat.html); Paul L. Vasey, persönliche Mitteilung; Finley, K.D. et al.: „dissatisfaction, a Gene Involved in Sex-Specific Behavior and Neural Development of Drosophila melanogaster“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 94, 1997, S. 913 – 18; Lanctot, Richard B.: „Sexual Attitudes at Northern Latitudes“, in: Natural History 107(6), 1998, S. 72–75. Zu einer umfassenden Abhandlung des Themas Homophobie und Heterosexismus in der Zoologie s. Bagemihl, Biological Exuberance, vor allem S. 87–106 zurück
(8) Detaillierte Diskussion und Argumentation in Bagemihl, Biological Exuberance, vor allem S. 168–195 zurück
(9) Plant, Richard: The Pink Triangle: The Nazi War Against Homosexuals, Henry Holt, New York 1986; S. S. 27, 185. Grau,Günter (Hg.): Hidden Holocaust? Gay and Lesbian Persecution in Germany 1933–45, Cassell, London 1995; S. 284. Johansson, Warren;William A. Percy: „Homosexuals in Nazi Germany“, in: Simon Wiesenthal Center Annual 7, 1990, S. 225–263; Hamann, Brigitte: Hitler’s Vienna, Oxford University Press, New York 1999, S. 217–18 zurück
(10) Lorenz, Konrad: „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“, in: Journal für Ornithologie 83,1935, S. 10–213, 289–413; Friedländer, Saul: Nazi Germany and the Jews, HarperCollins, New York 1997, Band I, S. 114 zurück
(11) Friedländer, ibid., S. 246–247; Roxan, David; Ken Wanstall: The Jackdaw of Linz: The Story of Hitler’s Art Thefts, Cassell, London 1964, S. 42 zurück
(12) Zu weiteren Einzelheiten und vollständigen Querverweisen s. Bagemihl, Biological Exuberance, S. 90, 606–610. zurück
(13) Lorenz, Konrad: Hier bin ich – wo bist du? R. Piper, München 1964 zurück
(14) www.linz.at/umwelt/natur/dohlen/ewebkam.htm zurück
(15) Deichmann, Ute: Biologists under Hitler, Harvard University Press, Cambridge 1996, S. 179–205.; Klopfer, Peter H.: Politics and People in Ethology, Bucknell University Press, Lewisburg 1999, S. 59 zurück
(16) Garrett, Peter: Endgame: Reproductive Technology and The Death of Natural Procreation, (1999), www.lifeuk.org/speech5.html zurück
(17) Zu weiteren Informationen über die Probleme schwuler und lesbischer Eltern s. Rochman, Sue: „Taking Aim at Parents“, in: The Advocate, 22. Juni 1999, S. 78–80; Bull, Chris: „A Year of Triumph and Pain“, in: The Advocate, 22. Juni 1999, S. 53–60 zurück
(18) In praktisch jeder Tierpopulation gibt es Exemplare, die sich nicht vermehren und dennoch großteils sexuell aktiv sind. In einigen Fällen pflanzen sich bis zu 50% (Bartenwale), 75% (Hirschziegenantilopen) oder sogar 80–95% (Neuseeländische Seelöwen, Nördliche Seeelefanten, Nacktblindmäuse, einige Libellenarten) eines oder beider Geschlechter nicht fort. Zu näheren Einzelheiten über Fortpflanzungsverweigerung und Adoption bei Tieren vgl. Bagemihl, Biological Exuberance, S.196–208 zurück
(19) Eine Abhandlung über die Autonomie von Transgender-Identitäten von der Chirurgie und von anderen Formen der Körpermodifikation findet sich in Bagemihl, Bruce:„Surrogate Phonology and Transsexual Faggotry: A Linguistic Analogy for Uncoupling Sexual Orientation from Gender Identity“, in: Anna Livia; Kira Hall (Hg.), Queerly Phrased: Language, Gender, and Sexuality, Oxford University Press, New York 1997, S. 380–401; Cromwell, Jason: Transmen and FTMs: Identities, Bodies, Genders, and Sexualities, University of Illinois Press, Urbana 1999 zurück
(20) Carse, James P.: Finite and Infinite Games, Ballantine Books, New York 1986; S. 148; Bey, Hakim: Immediatism, AK Press, Edinburgh und San Francisco 1994, S. 30, 53–55 zurück
(21) Eine eingehende Diskussion des Konzeptes der Fortpflanzung als bereits biologisch „überflüssige“ Komponente der Sexualität, d. h. bloßes Neben- oder Zufallsprodukt anderer Kräfte, findet sich in Bagemihl, Biological Exuberance, vor allem S. 252–255 zurück
(22) Kureishi, Hanif: Sammy and Rosie Get Laid, Penguin, New York 1988, S. 33 zurück
|