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Fortpflanzung - Leben und Tod


'Joanne Finkelstein Joanne Finkelstein

Während sich die USA international selbst als liberale Modellgesellschaft präsentierten, wurde 1976, als Amerika sein 200-jähriges Bestehen feierte, der Scharfrichter wieder auf die Liste beamteter Berufe gesetzt. Gerade mal fünf Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe abgeschafft und den Scharfrichter arbeitslos gemacht hatte. Als sich Anfang der siebziger Jahre die Todeszellen immer weiter füllten, ortete man wenig Begeisterung, die Verurteilten in die Gaskammer, auf den elektrischen Stuhl oder an den Galgen zu schicken. Doch 1976 änderte sich dies. Die allgemeine Stimmung verlangte nach Horror und Schrecken, und die Todesstrafe wurde wieder eingeführt.

Vielleicht lag es am Schock über Elvis Presleys Ausschweifungen oder der Rocky Horror Picture Show, Hollywoods Kinoversion von Londons experimentellem Bühnenschlager. Vielleicht war es auch Amerikas Fehlentscheidung Vietnam oder der Aufschwung des Kapitalismus, der Arm und Reich, Erste und Dritte Welt so klar voneinander trennte.Vielleicht waren es auch die Bürgerrechtsbewegung und die Black Consciousness, die die Stimmung umschlagen ließen. Was auch immer die Gründe waren, der Wechsel im Zeitgeist zeigte sich in unzähligen Dingen. Denken wir nur an die vielen gewalttätigen, Furcht erregenden, rachsüchtigen und blutrünstigen Mainstreamfilme, die von Hunderten von Millionen gesehen wurden: Rosemaries Baby, Uhrwerk Orange, Der Exorzist, Bonnie und Clyde, Taxi Driver, Shining, Freitag der Dreizehnte, Texas Chainsaw Massacre oder Dressed to Kill. Es offenbarte sich auch im materiellen Verfall der Städte; im Zerbröckeln der urbanen Infrastruktur; in willkürlichen Akten von Gewalt auf der Straße und in der Dämonisierung des öffentlichen Raums als etwas Gefährliches.

Es mag weit hergeholt anmuten, eine Studie über zukünftige Trends bei Sex und Reproduktion mit der Entscheidung über die Todesstrafe des Obersten Gerichtshofs der USA einzuleiten, doch die Darstellungen solch überaus bedeutsamer Handlungen in der allgemeinen Vorstellung verdeutlichen, wie der Staat in die Subjektivität des Einzelnen eindringt und die Denkmuster mitformt. (1) Das Fernsehen zeigt den bunten Haufen außerhalb des Gefängnisses, wo eine Hinrichtung vollstreckt werden soll – Mitglieder des Ku-Klux-Klans in den traditionellen Kutten; Christen, die gegen die Todesstrafe opponieren; Frauengruppen, die das Justizsystem bekritteln; Schwarze, die gegen Rassismus in der Richterschaft protestieren; und alle schwingen sie Schilder mit zornigen und kämpferischen Sprüchen und Parolen – und trägt mit diesen Bildern zur öffentlichen Meinung über Fragen von Leben und Tod bei. Es ist unmöglich, den Umschlag der allgemeinen Stimmung zu erfassen. Doch hie und da hat man die Gelegenheit, die gewaltige Maschinerie hinter dem Zeitgeist zu erblicken, der seinerseits die Subjektivität des Einzelnen beeinflusst.

Der moderne Staat ist eine gigantische Maschine, die individuelles Leben als Problem betrachtet, das es zu verwalten gilt. Dabei schafft der Staat Formen der Subjektivität, Werte, Einstellungen und Gefühle, die mit den Bedürfnissen einer technologisierten und rationalen Gesellschaft im Einklang stehen. Der Staat bestimmt durch die Verfügung von Gesetzen und Bürgerpflichten sowie durch die Verbreitung von Vorstellungen, Wünschen und Bildern, die den Kulturprodukten anhaften, die Bedingungen, unter denen die Menschen leben sollen. Die Vorstellung vom Staat als Maschine, als gewaltigem Apparat mit dem einzigen Zweck, ein Kollektiv von Individuen aufrecht zu erhalten, ist uns geläufig. Bis zu einem gewissen Grad ist Amerika die Schablone für die westliche industrialisierte Welt. Es ist eine Reklame für Modernität, Liberalismus, kulturelle Pluralität, ethnische Vielfalt, Selbstbestimmung und bürgerliche Entschlossenheit. Es ist auch ein Beispiel für die Widersprüche der Modernität, für das, was schief laufen kann. Wie auch andere industrialisierte und technologisierte Gesellschaften, wird Amerika von nicht diagnostizierten sozialen Pathologien, Antinomien und Fehlern geschüttelt. Während die meisten anderen Industrienationen ihre Begeisterung für die Todesstrafe verloren haben und sie entweder per Gesetz abgeschafft haben oder nicht exekutieren, feiert sie in Amerika fröhliche Urständ. Dass der Staat seine Bereitschaft wiederbelebt, seine Bürger zu töten, offenbart die vorherrschende Stimmung (McFeely, 1999). (2)

Es ist eine Funktion aller Regierungen darüber zu bestimmen, wer unter welchen Bedingungen leben soll und wer nicht, und die Reproduktionskontrolle ist nichts anderes als die Planung menschlichen Lebens. Seit Jahrtausenden versucht der Mensch im Rahmen der sozialen Planung Reproduktion und Fruchtbarkeit zu steuern. Frühe Aufzeichnungen über die Empfängnisverhütung finden sich im Kahun-Papyrus über die ägyptische Medizin, das auf 1850 v. Chr. datiert wird (Riddle, 1993) und bei Plinius, der Folgendes zur Bevölkerungskontrolle rät: Man soll eine bestimmte Haarspinne jagen, die in ihrem Kopf zwei herausziehbare kleine Würmer beherbergt. Anschließend wickle man sie in Rehleder und befestige sie vor Sonnenaufgang an einer Frau, um eine effektive Empfängnisverhütung für ein Jahr zu erzielen (Plinius, 1991, 29, 85). Was man nicht alles für die Bevölkerungskontrolle tut. Ähnliche Verfahren entwickeln sich um die Todesstrafe, Abtreibung, Wehrpflicht und Heirat. Alle Gesellschaften versuchen das Leben zu ordnen. In liberalen Gesellschaften werden derartige Regelungen gerne mit den schwerwiegenden Begriffen Eugenik und Moralismus befrachtet. Es ist jedoch naiv zu glauben, dass nicht täglich ins Leben der Menschen eingegriffen und ihm ein Wert verliehen würde, sei es nun in liberalen oder in eher diktatorischen Gesellschaften. Wo immer Regierungen im Spiel sind, gibt es eine Vielzahl von Methoden zur Bevölkerungskontrolle.

Die Geschichte der Bevölkerungsstudien – von Antonie van Leeuwenhoeks Vorhersagen aus dem 17. Jahrhundert bis zu den aktuellen Prognosen der Vereinten Nationen – sagt bloß auf euphemistische Art, wer leben soll und wer nicht. Demografische Studien zeigen, dass nicht die Frage nach der Bevölkerungsgröße, die der Planet verkraften kann, oder nach dem Alter dieser Bevölkerung entscheidend ist, sondern die, welchen Lebensstandard man haben möchte. Wie viele Menschen die Erde verkraften kann, hängt davon ab, wie viele sich ihr Protein lieber in Form von McDonald’s-Hamburgern als z. B. in Form von Kakerlaken zuführen möchten; wie viele lieber Baumwolle als Polyester tragen wollen; wie viele ein Auto sowie Zugang zu Reproduktionstechniken und Lebenserhaltungssystemen haben wollen. Diese persönlichen Gewohnheiten und sozialen Praktiken schaffen die Verhältnisse der Zukunft. Obwohl es natürliche Beschränkungen für die Bevölkerungsgröße gibt, hat der Lifestyle des Menschen eine größere und direktere Auswirkung darauf.

Um die Beweggründe hinter den regulatorischen Systemen der Gesellschaft ans Tageslicht zu fördern und deren Konsequenzen zu rechtfertigen, muss man sich über die Vorstellungen, die das tägliche Leben formen und bestimmen, im Klaren sein. So steht das Nachdenken über die Todesstrafe nicht im Widerspruch zu Gedanken über die Reproduktion und die Zukunft der Gesellschaft. Dem Töten von Verbrechern zur Ausschaltung menschlicher Gewalt liegt eine Logik zu Grunde, die sich auf andere Situationen überträgt und den Zeitgeist mitformt. Die Todesstrafe als Abschreckung einzusetzen, um die zivilisierte Gesellschaft zu bewahren, ihrer moralischen Entrüstung Ausdruck zu verleihen und den Zorn verrauchen zu lassen, der bei jeder Verletzung der wichtigsten Regeln einer Gesellschaft auszubrechen droht, fußt auf der Annahme, dass der Einzelne und der Staat in einer sich gegenseitig definierenden dyadischen Beziehung stehen. Es ist legitim zu fragen, ob diese Denkweise richtig ist und ob ein logischer Fehler vorliegt. Selbst wenn dem so wäre und sogar wenn der Zeitgeist diese Position aufgäbe, so bliebe doch der Hauptpunkt bestehen: Das Geschäft des modernen Staates ist es, über das menschliche Leben zu richten.

Dasselbe zeigt sich am Beispiel der menschlichen Fortpflanzung. Heutige Genforscher spekulieren mit einem Ende des Todes. Organismen brauchen nicht zu altern oder zu verfallen. Eine Faust’sche Welt der Unsterblichkeit liegt vor uns. Das Human-Genome- Projekt (initiiert vom US Energieministerium und dem National Institute of Health) ist ein Beispiel, wie die Technowissenschaft auf das Problem des Lebens angewandt wird. Das HGP wird die menschliche DNA kartografieren. Und dieses neu gewonnene Wissen über den genetischen Bauplan des Menschen wird auf der Mikroebene unterschiedlichster Diskurse z. B. über medizinische Praktiken, Verhütungs- oder Reproduktionstechniken sowie Biosozialität oder Sozialplanung allmählich in das soziale Gefüge eingebettet werden. So wie die Wissenschaft die Natur natürlich und die Pönologie die Todesstrafe vernünftig erscheinen ließ, so kann uns die genetische Kartierung Reproduktionstechniken als Lösung für die Probleme des Lebens verkaufen.

Eine wissenschaftliche Initiative von der Größe des Human-Genome-Projekts ist der Beweis für eine beliebte Denkweise. Sie zeigt, wie das Verständnis des Pathologischen zum Verständnis des Normalen führen kann. So wie z. B. kulturelle Formen – wie gewalttätige Filme – als ästhetische Absage an einen verschobenen Anti-Humanismus fungieren können und wie kriminologische und sexologische Studien Theorien über soziale Normalität hervorgebracht haben, ermutigt uns die Forschung in ihrer ureigensten Eigenschaft als problemlösende Reflexionsform zu glauben, dass wir die Qualität unseres Lebens verbessern und einige seiner „natürlichen“ Fehler und Schwächen korrigieren können. Das Human-Genome-Projekt mit seiner Verbindung zur Reproduktionswissenschaft verspricht, die menschliche Gesellschaft zu verbessern. Es lässt es machbar und wünschenswert erscheinen, die nächste Generation zu perfektionieren. Die diesen sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Praktiken zu Grunde liegenden Annahmen und Werte werden zur Plattform für das Ausmalen einer besseren Zukunft. Vorbei die Tage willkürlicher reproduktiver Paarung, die durch kulturelle Riten des Heiratens, durch Inzesttabus und Gesetze gegen gemischtrassige Ehen lose geregelt wurden. Wir stehen kurz davor, durch den Einsatz technologischer Mittel eine wissenschaftlich optimierte nächste Generation – ein besseres Ergebnis – hervorzubringen.

Doch nicht technische Fähigkeiten allein bestimmen, wie wir uns verhalten oder was wir wollen. Es sind weniger die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, die die Bedingungen für den Ablauf des menschlichen Lebens bestimmen werden, sondern die politischen Institutionen, die die individuellen Freiheiten regeln, die wirtschaftlichen Übereinkünfte in Bezug auf Märkte, Besteuerung und Einkommensverteilung, Familiengröße, Migration, Kinderbetreuung, unkontrolliertes Städtewachstum und städtische Infrastruktur. Die meist unbewusst getroffenenen Entscheidungen des täglichen Lebens – wie z. B. das Aufdrehen des Fernsehers, des Computers oder des Lichts, das in einem leeren Raum angelassen wird, das Autofahren und der Appetit auf industriell gefertigte Nahrungsmittel wie Coca-Cola, McDonald’s und Nestlé – sind die wahren Faktoren, die dem menschlichen Leben letztendlich seinen Wert verleihen.

Das zwanzigste Jahrhundert wurde vom Historiker Eric Hobsbawm als das Zeitalter der Extreme beschrieben. Es sah Vorkommnisse noch nie dagewesener menschlicher Zerstörung durch Krieg, Armut und wissenschaftliches Experimentieren, während zur selben Zeit voller Begeisterung auf psychologischer, philosophischer und kultureller Ebene nach den Geheimnissen des Lebens gesucht und geforscht wurde. Es war ein Zeitalter, in dem der Tod wie das Leben der direkten Intervention des Staats unterworfen wurden. Es war ein Zeitalter, das Zeuge der Sehnsucht nach Utopia und von Experimenten in Social Engineering und Eugenik war. Jede Gesellschaft versucht Leben und Tod zu kontrollieren – und die Wiederholung von Heirat und Krieg sind die offensichtlichsten Mechanismen dafür –, nur dass heute in den Industrieländern Wissenschaft und Technik dazu herangezogen werden. Medizinisches Heldentum, Biotechnik, demografische Analysen und wissenschaftliche Studien über das Funktionieren von Gesellschaften verleihen dem modernen Staat bessere Management- und Verwaltungskenntnisse zur Kontrolle des Einzelnen.

Setzt man das heutige Wissen ein, um die Zukunft zu gestalten oder vorherzusagen, so widersetzt man sich den Lektionen aus der Geschichte und erwartet, dass die technoadministrative Rationalität über das Chaos siegen wird. Dabei genügt schon ein Blick auf die Geschichte der Sexualität, um uns daran zu erinnern, wie widerstandsfähig der Mensch gegen derartige äußere Kontrollinstanzen ist. In der kurzen Zeit, in der die Sexualität systematisch untersucht wurde, gibt es genug Beispiele für das Irrationale, Verwirrende, Überraschende und Unvorhersagbare, die zeigen, dass der Versuch, die Gesellschaft mittels der Wissenschaft zu steuern, enttäuschend enden wird. Die Geschichte der Sexualität ist eine Geschichte der Anspielungen, die immer wieder deutlich macht, dass die menschliche Lust nicht gesteuert werden kann. So begeistert der moderne Staat das Leben problematisiert und techno-wissenschaftliche Lösungen eingesetzt hat, so widerspenstig war der Einzelne. Auch die wissenschaftlichen Sexualstudien können in all ihrer Diversität und Komplexität nicht beweisen, dass eine „natürliche“ und einfache Kraft wie Sexualität gebändigt werden kann.

Sex – nächster und letzter
Das Verständnis für die Rolle der Sexualität im menschlichen Leben ist noch relativ jung. Der Kinsey-Report war jedoch nicht die erste sogenannte wissenschaftlich-empirische Studie über das menschliche Sexualverhalten. 1929 veröffentlichte Katharine Davis Factors in the Sex Life of 2,200Women und George Hamilton A Study in Marriage, wofür er 200 Männer und Frauen interviewte. Anfang der dreißiger Jahre schrieben Robert Dickinson und Lura Beam A Thousand Marriages. Kinseys Studie war jedoch die erste, die umfangreiche Befragungen durchführte. So bildeten rund 18.000 Interviews die Grundlage für das 1948 erschienene Buch Sexual Behavior in the Human Male und das 1953 veröffentlichte Sexual Behavior in the Human Female. Beide wurden von Beginn an kritisiert. Kinseys Daten wären fehlerhaft, da die Befragten Freiwillige waren und nicht zufällig aus einem Querschnitt der Bevölkerung ausgewählte Probanden. Unter den Interviewpartnern waren Kinseys Frau und Kinder, seine Studenten, eine große Anzahl von Gefängnisinsassen sowie Kinseys eigene gelegentlichen Sexualpartner – Männer, die – wie man heute sagen würde – schnellem schwulem Klosex nachgehen. Trotz dieses problematischen Auswahlverfahrens wurde Kinseys Buch begeistert angenommen und viel gelesen. Sein Schreibstil, seine eigenen wissenschaftlichen Referenzen und die Großzügigkeit der angesehenen Rockefeller Foundation, die das Institute of Sex Research an der Indiana University zum Teil finanzierte, trugen zur Autorität des Buchs bei. Die Geschichte hat das Bild von Kinsey ein wenig befleckt. Obwohl er wie ein ganz gewöhnlicher Mann aussah, ein qualifizierter Wissenschafter mit einer guten Stelle an der Universität war, so deckte eine jüngst veröffentlichte Biografie seine Neigungen zu Pädophilie, anonymem homosexuellem Sex und anderen Praktiken wie Partnertausch unter seinen Kollegen auf, die zu Hauptdarstellern in den am Dachboden seines Vorstadthauses gedrehten Amateurfilmen wurden (Jones, 1997). Als Kinsey 1956 62-jährig starb, litt er an einer schweren Beckenentzündung, die sehr wohl von seinen lebenslangen masochistischen Masturbationspraktiken herrühren konnte. Während diese Enthüllungen ihn als Lüstling bloßstellen und er ebenfalls in die Riege der kauzigen viktorianischen Sexologen wie Havelock Ellis, Krafft-Ebbing oder Österreichs Freud eingereiht wird, hat seine Forschungsarbeit doch noch Gewicht. Er bewies, dass sexuelle Vorlieben stärker von den sozialen Bedingungen wie Kindheit oder Familie geprägt werden als von biologischen Trieben. Er hat eine Vielzahl von Sexualpraktiken dokumentiert, die man als tabu, abweichend, unkonventionell, unbeliebt oder pervers eingestuft hätte. Er hat auch gezeigt, dass sich die sexuellen Neigungen mit der Zeit und den Umständen ändern. All das führte zu einem neuen Verständnis von Sexualität, demzufolge sie keine natürliche Gegebenheit oder präsoziales biologisches Bedürfnis ist, sondern eher als Korrelation demografischer Einflüsse wie Alter, Geschlecht, ethnischer Identität, Klasse und Ausbildung gesehen werden muss.

Folgende Fakten von Kinseys Forschungen während der fünfziger Jahre machten die Runde: ca. 85 Prozent der Männer haben vorehelichen Sex, rund 50 Prozent haben außerehelichen Sex, 30 Prozent geben gelgentliche homosexuelle Erfahrungen als Erwachsene zu und 4 Prozent sind ausschließlich homosexuell. Was die Frauen betrifft, so haben rund 50 Prozent vorehelichen und ca. 25 Prozent außerehelichen Sex. Die erwähnenswerten Trends des nächsten Kinsey-Reports, der 1970 veröffentlicht und 1989 überarbeitet wurde, sind folgende: Ein großer Prozentsatz der Befragten wäre für Gesetze gegen Ehebruch; ca. 83 Prozent der Männer und 90 Prozent der Frauen sind der Meinung, dass Homosexualität „fast immer falsch“ sei; und rund 60 Prozent würden sie gesetzlich verbieten. Die Interpretation dieser Fakten unterliegt denselben soziologischen Einflüssen wie die meisten anderen Verhaltensformen auch. Das heißt, dass wir nur das als wahr und sinnvoll erachten, was wir bereits glauben und was unsere eigene soziale Position widerspiegelt. Akzeptiert man Kinsey, so akzeptiert man damit auch die Sicht, dass wir eben zufällig in einem liberalen Sozialklima leben, in dem heterosexuelle Paarungen und auf Romantik aufbauende Langzeitbeziehungen das normale Paradigma sind.

William Masters und Virginia Johnson (1966) folgen in ihrer Forschungsarbeit Kinseys Pfad insofern, als sie Sexualität als geeignetes Thema für wissenschaftliche Untersuchungen betrachten. Im Gegensatz zu Kinsey berücksichtigen sie dabei die menschliche Erfahrung jedoch kaum. In der Reproductive Biology Research Foundation, die in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri eingerichtet wurde, untersuchten Masters und Johnson eingehend die Physiologie und Anatomie menschlicher Sexualaktivitäten unter Laborbedingungen. Biochemische Apparate wie Elektrokardiografen und Elektroenzephalografen wurden zur Aufzeichnung sexueller Stimulationen und Reaktionen genauso herangezogen sowie direkte Beobachtung. Masters und Johnson führten auch klinische Eheberatung durch, wobei sie sich auf Probleme der sexuellen Leistungsfähigkeit konzentrierten. Ihr Hauptaugenmerk legten sie jedoch auf den Körper und die Frage nach physischen Reaktionen. Unter Sex beim Mann verstanden sie lediglich das Funktionieren des Penis sowie die Produktion von Testosteronen und Androgenen, und bei der Frau ging es um Vaginalkontraktionen und die Erregungskurve. Ihre Daten bezogen sie von 382 weißen Frauen und 312 weißen Männern zwischen 20 und 30 – einer ziemlich einförmigen Gruppe also, meist Städter der oberen Mittelklasse.

Die Arbeit von Masters und Johnson ist nur bedingt anwendbar, da die soziale Bedeutung sexueller Praktiken in ihren Berichten immer wieder ausgeklammert wird. Sie betonten die essenzielle Natur physischer Reaktionen sogar beim Vergleich spezieller Praktiken zwischen Hetero- und Homosexuellen, deren Lebensformen oft stark voneinander abweichen. So schlossen sie zum Beispiel, dass ungeachtet dessen, wer eine bestimmte Praktik anwendet, die Sexualmechanismen dieselben waren. Sie ließen dabei die verschiedenen Bedeutungen, die Männern, Frauen oder selbstdeklarierten Heterooder Homosexuellen dem Küssen oder dem Analverkehr beimessen, völlig außer Acht. Indem sie den Körper und dessen natürliche Prozesse für das Verständnis der Sexualität so betonten, erscheint die Arbeit von Masters und Johnson von der menschlichen Erfahrung eigenartig abgehoben. Nichtsdestotrotz war sie zu ihrer Zeit populär, wurde oft gelesen und öffentlich anerkannt – ein klarer Beweis dafür, dass die „wissenschaftliche“ Erforschung der Sexualität möglich und zweckdienlich schien.

Shere Hite machte in ihrer Forschungsarbeit zwischen 1970 und 1980 nicht denselben Fehler, sich nur auf Sex als physischen Prozess zu konzentrieren. Sie wollte die Gefühle der Frauen zu Sex und Liebe ausloten. In drei Berichten veröffentlichte sie die Informationen, die sie durch Befragung und Beobachtung von über 5.000 Frauen gesammelt hatte. Dabei stellte sie offene Fragen, wie z. B.: Ist Sex für sie wichtig? Woran denken sie beim Sex? Haben sie Fantasien? Regt Pornografie sie an? Was halten sie von Sado-Masochismus? Kommen sie längere Zeit ohne Sex aus? Wer bestimmt Tempo und Stellung beim Sex – sie oder ihr Partner? Wie alt waren sie bei ihrer ersten sexuellen Erfahrung? Welcher Typ Mensch zieht sie für gewöhnlich an? (Hite, 1976, S. 573–588)

Nach der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse war Shere Hite für eine gewisse Zeit eine Berühmtheit und ihre Arbeit forderte ständig Kontroversen heraus, vor allem hinsichtlich ihrer Methodologie und ihrer Schlussfolgerungen. Seit den drei Publikationen von Hite (jedoch nicht unbedingt wegen diesen) ist eine allgemeine Stimmung zu spüren, dass wir in einer sozialen Atmosphäre sexueller Freiheit leben. Das Lösen gesetzlicher Einengungen gegen die Veröffentlichung von immer expliziterem Material; die Zunahme öffentlicher Bekenntnisse von Sexaholikern, Porno-Filmproduzenten, Telefonsex- Mitarbeitern; journalistische Enthüllungen der sexuellen Neigungen von Politikern, Künstlern und Stars; die florierende Pornoindustrie im Internet – all das trägt zu dem Eindruck bei, dass Normen und Praktiken rund um die Sexualität immer flexibler werden (Chapple & Talbot, 1989). Bei immer mehr Beiträgen zu sexuellen Belangen in den Massenmedien, einer größeren Kommerzialisierung von Sex und mehr Sex in der Wirtschaft (D’Emilio & Freedman, 1988) sind diese Fragen wert gestellt zu werden: Was wissen wir wirklich über Sexualität? Und welche Rolle spielt sie im sozialen Leben?

Freud bewies die proteische Art sexueller Wünsche, indem er die Aufmerksamkeit auf die Sexualität in der Kindheit lenkte und darlegte, wie sehr Sex die verschiedensten alltäglichen Bereiche des Lebens, wie Träume, Witze, Redeweisen und Versprecher, durchdringt. Obwohl er den Sexualtrieb als biologische oder triebhafte Gegebenheit sah, die allen Menschen gemeinsam ist und sich in vielerlei Hinsicht analog zu anderen physischen Bedürfnissen verhält, forschte und schrieb er über die Sexualität auf eine Weise, die diese Annahme ironischerweise selbst entkräftete. Seine Fallstudien zeigen wiederholt, dass sich die erwachsene Sexualität aus einem langen und komplexen Vorgang individueller Beobachtungen und Experimente herausbildet. Sexuelle Identität und Funktionalität entwickeln sich langsam, ja, sogar heimlich. Trotz der Anerkennung, die er dem Primat des Genitalen und der Bedeutung reproduktiver Sexualität zollt, beschreibt Freud die menschliche Sexualität als ein sozial konstruiertes Zufallsprodukt. Die Sexologen des 19. Jahrhunderts erkannten ein Kontinuum sexueller Aktivität an, waren sich jedoch einig, dass Abweichungen von der Norm krankhaft wären. Havelock Ellis (1897) und Krafft-Ebbing (1886) räumten ein, dass sexuelle Neigungen eine Reihe von Interessen umfassen, doch wenn viele dieser Wünsche im Verhalten sichtbar würden, dann habe eine Inversion der natürlichen sexuellen Ordnung stattgefunden. Das entspricht in etwa dem Vermächtnis der Anthropologen und Ethnografen des frühen 20. Jahrhunderts, deren Zusammentreffen mit den traditionellen und exotischen Gesellschaften der nicht-westlichen Welt in unzähligen Beispielen über divergente Sexualbräuche und Geschlechtsbestimmungen kommentiert wurde. So berichteten z. B. Bronislaw Malinowski (1997) und Margaret Mead (1935), wie Sexualität eine Fusion von Natur und Kultur sei, wie alle Sexualpraktiken trotz ihrer Vielfalt Lösungsansätze des universellen Problems seien, die natürlichen menschlichen Bedürfnisse zu steuern und Zivilisation zu schaffen. Ihre Dokumentation kultureller Vielfalt stellte die Ansicht einer standardisierten menschlichen Natur nicht in Frage. Stattdessen erklärte sie die Vielfalt als polysemen Ausdruck. Wie die viktorianischen Sexologen erkannten diese frühen Anthropologen nicht die ihrem Denken über Sexualität zu Grunde liegenden essenzialistischen Annahmen. Das ist die große Ironie dabei. Obwohl sie durch ihre Forschung die theoretischen und empirischen Grundlagen lieferten, solch essenzialistisches Denken über den Haufen zu werfen, verabsäumten sie es über ihre eigenen Annahmen von sexueller Dimorphie, Geschlechteridentifikation und biologisch bestimmter menschlicher Natur hinauszublicken.

Michel Foucault war nicht der Erste, der sich Gedanken über die Geschichte der Sexualität und des Körpers machte, aber sein Einfluss ist derzeit am stärksten. Angefangen bei seinen frühen Werken (1977, 1980) über Psychiatrie, Kriminalität, sexuelle Abweichung, Hermaphrodismus, Justiz usw., hat er nach und nach seinen Standpunkt herausgearbeitet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und systematische Verwaltungsprozeduren bezüglich des Körpers zum Rahmen werden, der das soziale, kulturelle und sexuelle Wissen eines jeden Individuums stützt. Geht man von einer „natürlich gegebenen“ Sexualität aus, die von außen in Schach gehalten werden muss (wie Freud, Mead und Malinowski sie vielleicht gesehen haben) oder geht man von ihr als einem „obskuren Bereich“ aus, der durch wissenschaftliche Untersuchungen aufgedeckt werden muss (was Masters und Johnson vielleicht gedacht haben), so missversteht man die soziale Bedeutung von Sexualität (Foucault, 1977, S. 105f). Foucault sieht in der Sexualität ein „großes Oberflächennetzwerk“ mit widerstreitenden Interessen, die das Verständnis und die Erfahrung des Individuums im Hinblick auf die Genüsse und Eigenschaften des eigenen Körpers ständig beeinflussen. In westlichen Gesellschaften fungieren die Diskurse, die rund um den Körper entstanden sind, auch als Systeme zur Durchsetzung von Gesetzen, als ökonomische Systeme, die den Umlauf von Reichtum und Besitz bestimmen, sowie als Klassifikationssysteme, die dem Einzelnen soziale Anerkennung und Privilegien verschaffen (S. 107–110). Während diese Diskurse eingesetzt werden und sich verbreiten, nehmen neue Klassifikationssysteme Gestalt an, die z. B. neue Persönlichkeiten hervorbringen – „die nervöse Frau, die frigide Ehefrau, die indifferente Mutter … das hysterische oder neurasthenische Mädchen“ –, die genau die Fallstudien waren, die vielleicht in Siegmund Freuds Wiener Praxis kamen.

Versteht man, dass Sexualität mehr mit Kulturgeschichte und sozialer Praxis als mit essenziellem oder angeborenem menschlichen Verhalten zu tun hat, wird man viel leichter erkennen, wo in der Öffentlichkeit Diskurse über Sex am Werk sind, die unsere geistigen Gewohnheiten formen. Die Massenmedien, die Populärkultur und die Konsumtrends haben die wichtige Funktion, die abstrakten Kräfte des Kulturellen und des Historischen in unmittelbare Erfahrung des reflektierten Individuums umzusetzen. Nehmen wir zum Beispiel die Popularität von Kino, TV-Seifenopern oder Sitcoms. Im Allgemeinen dominieren Liebe und Sex bei all diesen Unterhaltungsformen. Somit sollte man sie besser von ihrer didaktischen Funktion her betrachten. Sie ersetzen in der Form, nicht aber in der Funktion die schriftlichen Lebensregeln, die bei der neuen Bürgerschicht der industriellen Epoche so beliebt waren. Diese allgegenwärtigen Programme sind das Äquivalent zu den Handbüchern darüber, was man zu denken und wie man sich zu benehmen hat. Sie beantworten Fragen, die vermeintlich jeden interessieren – was soll man tun, wenn man sich am Arbeitsplatz verliebt? Wenn ein Kollege um einen unmöglichen Gefallen bittet, der ethisch kompromittierend wäre? Wenn Gier, Neid, Konkurrenzkampf und beruflicher Ehrgeiz die häusliche, private Sphäre beeinträchtigen? Machen flotte Dreier Spaß? Wie wichtig ist die Penisgröße? Wer hat Analsex? Wer hat oralen Sex?

Derartige Fragen betonen bestimmte Verhaltensformen; die Beantwortung derselben definiert akzeptable Formen männlicher und weiblicher Sexualität. Die Darstellung des sozialen Lebens in den beliebten Fernsehserien ist eine diskursive Lektüre des Historischen und Kulturellen. Indem sie scheinbar darüber reflektiert, was akzeptabel ist, was auch sonst jeder zu tun scheint, schreibt sie Praktiken vor. Sie pathologisiert, um zu normalisieren. Sie informiert durch das Ansprechen wichtiger Fragen und gibt dann die unzweideutige Antwort darauf. Keine Sitcom oder Seifenoper, kein Mainstream-Film endet wirklich unstrukturiert. Das würde bedeuten, das „große Oberflächennetzwerk“ der Klassifikation und Instruktion zu umgehen, das Foucault als Teil der modernen Techniken erkannt hat, mit deren Hilfe unsere Vorstellungen von Sexualität (und vielem mehr) strukturiert werden.

Um zu begreifen, dass biologische Bedürfnisse und menschliche Fähigkeiten historische und soziale Konstrukte sind, muss man das Fehlen von Universalitäten in menschlichen Erfahrungen akzeptieren. So berichtet z. B. der Anthropologe Gilbert Herdt von einem Beispiel ritualisierter homosexueller Fellatio, die unumstößlicher Bestandteil des sozialen Lebens ist und von allen Männern befolgt wird, jedoch nicht als Verstoß in einer rein heterosexuellen Kultur betrachtet wird. Der Stamm der Sambia in Neu Guinea, Jäger und Gärtner, haben eine klare Dimorphie in ihren Überzeugungen und Praktiken, die die Geschlechter – und die Kultur von der Natur – eindeutig voneinander trennt. Die Gesellschaft ist streng patrilinear und patrilokal. „Alle Ehen werden abgesprochen; Brautwerbung ist unbekannt und die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind nicht nur rituell polarisiert, sondern oft sogar feindselig“ (1996, S. 432). Die Sambia haben einen „geheimen Männerbund, der Frauen ideologisch als minderwertige, gefährliche Kreaturen abtut, die die Männer verunreinigen und sie ihrer männlichen Substanz berauben können“ (S. 433). Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern werden noch durch die unterschiedlichen Reife- und Standeszyklen von jungen Mädchen und jungen Knaben belastet. Obwohl die Männer einen höheren sozialen Stellenwert genießen, haben die Frauen einen höheren Status hinsichtlich Reproduktion, da ihr Körper gemäß dieser Kosmologie von Natur aus fruchtbarer ist.

Männer können andererseits ohne zusätzliche Hilfe keine Reife erlangen. Der Same wird als der wichtigste Funke des Lebens betrachtet, aber er wird vom menschlichen Körper nicht natürlich produziert. Er muss daher künstlich und von außen zugeführt werden. Daher praktizieren sambische Männer gleichgeschlechtliche Fellatio, bei der junge Knaben den Samen von älteren Jugendlichen aufnehmen können. Alle Männer nehmen an diesen Praktiken in verschiedenen Reifestadien teil. Die rituelle Funktion der Fellatio liegt in der Aufnahme von Samen, um dadurch Männlichkeit zu erzeugen. Inseminationen über viele Jahre hinweg ermöglichen es den Männern, mit den Frauen „gleich zu ziehen“ und ihren rechtmäßig höheren sozialen Status einzunehmen. Diese gleichgeschlechtlichen homoerotischen Erlebnisse zwischen sambischen Männern dauern bis nach ihrer Heirat und der Geburt des ersten Kinds. Manchmal werden sie auch über diese Konvention hinaus fortgeführt. Somit kann ein verheirateter Mann Beziehungen mit jungen Knaben aufrechterhalten und eine öffentliche und konventionelle Ehe mit einer Frau führen (S. 436). Anhand dieser von Herdt aufgezeichneten Praxis ist es ein Leichtes zu sehen, wie das Streben nach Lust in diesem Fall einen Weg gefunden hat, selbst wenn man dabei gegen den Strom schwimmt. Nehmen wir dies als Beispiel für die Unregierbarkeit der menschlichen Sexualität.

Die Praktiken und Klassifikationen der Sexualität der sambischen Kultur illustrieren das Fehlen jeglicher Standards für menschliches Verhalten. In westlichen Kulturen würde die Praxis der Fellatio zwischen sambischen Männern als homosexuelle Pädophilie gewertet werden. Für die Sambier wiederum ist durch ihren strikten Glauben an geschlechtliche Dimorphie das Konzept Homosexualität per se nur schwer zu begreifen. Außerdem wäre es nicht angemessen, ihre Rituale der Geschlechtersozialisation mit diesen Begriffen beschreiben zu wollen. Die Anthropologie und die Geschichte bieten unzählige Beispiele dafür, dass sexuelles Verhalten als Mittel der Universalisierung individueller Identität bedeutungslos ist. Ist etwa die Identität eines Heterosexuellen, eines Homosexuellen oder eines Bisexuellen heute dieselbe wie in den Niederlanden um 1700 oder im klassischen Griechenland oder im heutigen Iran? Offensichtlich nicht. Judith Butler (1993) erklärt uns, das „Geschlecht [sei] weder eine rein psychische Wahrheit, die man sich als ,innerlich‘ und ,versteckt‘ vorstellt, noch lässt es sich auf eine rein äußerliche Erscheinung reduzieren. Im Gegenteil, diese Unentschiedenheit muss als Spiel zwischen Psyche und Erscheinung nachgezeichnet werden“ (S. 234).

Sexuelles Wissen ist situationsbedingt und selbst-referenziell. Wir lernen, während wir voranschreiten, und was wir lernen, ermöglicht es uns erst weiterzugehen. Sexualwissen ist weder konsequent noch wahr. Seine Regeln ändern sich dauernd. Zu einem Zeitpunkt in der Geschichte wird es als die fundamentalste menschliche Erfahrung angesehen; zu einem anderen ist es der antizivilisatorische Impuls, den es zu steuern und zu beherrschen gilt; und zu einem wieder anderen Zeitpunkt ist es ein legitimes Experimentierfeld für Fortschritte in der Wissenschaft, der Medizin, der Psychochemie und ähnlichem. Die Vielgestaltigkeit der Sexualität ist eine offene Einladung darüber nachzudenken, was Sexualität in diesem und in jedem anderen Augenblick ist. Daher bleibt nur noch die historische Unvermeidbarkeit der hier gestellten Frage: Was ist Sex im Zeitalter seiner reproduktiven Überflüssigkeit?
Technologie – mehr oder weniger
Anthropologische Studien haben immer wieder festgestellt, dass Grenzüberschreitungen eine fruchtbare Quelle für soziale Veränderungen sind. Reisende, die entfernte Gemeinschaften durch Handel miteinander verbanden; Individuen eines dritten Geschlechts, die die natürliche Annahme der Dimorphie in Frage stellten; Hofnarren, Berühmtheiten, Parvenüs, Transvestiten, etc., die die Nischen zwischen den sozialen Gruppierungen für sich in Anspruch nahmen und so die Trennmauern durchbrachen, die andernfalls zu stark schienen – diese Zwischenwesen sind neue Lebensformen, die Schnittstellen zwischen verschiedenen sozialen Welten bilden und sie in verschiedenste Richtungen treiben. Aus unserer jetzigen Schwellenposition kann sehr viel gemacht werden.

Im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter des Cyborg und des wissenschaftlich erforschten Körpers, beginnen wir gerade, das Techno-Soziale gemütlich in Besitz zu nehmen, die Kreuzung zwischen technischer Virtuosität und sozialer Anpassungsfähigkeit. Wie einst Telefon und Radio diese Kreuzung kennzeichneten, tun das heute elektronische Produkte wie Video, Computerprogramme und Virtual Reality. Und so wie einst Telefon, Radio, Fernsehen, Auto und Film das gewohnte soziale Leben in Aufruhr versetzten, haben die neuen Wege der Telekommunikation und der Biotechnik mit ihren unendlichen Versionen der Wirklichkeit unser Denken über die Gesellschaft und die Natur der menschlichen Identität grundlegend verändert. Wir akzeptieren nun einfach, dass es komplexe Verbindungen zwischen Technik, Wissenschaft, Biologie und der Gesellschaft gibt. Das zeigt sich darin, wie effizient und raffiniert wir uns an die moderne Erfahrung angepasst haben (indem wir zum Teil in der materiellen Welt und zum Teil in den abstrakten Dimensionen der Hyperrealität leben), sodass es keine trennbaren und unterscheidbaren Welten mehr gibt. Die Technik ist Mittler für all unsere sozialen und biologischen Aktivitäten: Wir halten Telekonferenzen ab, wir kaufen per Computer ein, verschicken E-Mail-Nachrichten und verspüren enorme Freude und Erheiterung, wenn wir ein Playmate hervorzaubern, das die Fantasien des Marquis de Sade oder der Lara Croft verkörpert. Die technologischen Erzatzangebote für das Eigentliche sind zu beliebt, als dass man sie Substitut nennen könnte. Sie sind das Eigentliche, und sie haben die menschliche Sozialität in eine neue Dimension gebracht, in eine Hyperrealität. Somit sind wir drauf und dran, wie Schwellenwesen auszusehen, die gleichzeitig in einer materiellen Welt, einem abstrakten Cyberspace und einer imaginären Zukunft existieren. Wenn dem so ist, dann befinden wir uns gemäß den Regeln der Liminalität am Anfang tief greifender sozialer Veränderungen.

Waren wir nicht immer so in der Schwebe? Im 19. Jahrhundert stellte man sich den Körper als Maschine vor, die von einer inneren Kraft, einem Selbst, einer Psyche oder einem Bewusstsein beseelt war. Im Verlauf des Jahrhunderts wurde der Körper beobachtet, vermessen und kartografiert sowie seine Topografie gescannt. Phrenologische Beulen am Kopf zeigten seine Fähigkeiten und physiognomische Merkmale wie die Größe der Nase, der Ohren, der Hände, der Füße, die Fülle der Lippen, die Breite der Stirn wurden als Zeichen der Ehrlichkeit, Intelligenz, Mäßigung, Aggresion etc. interpretiert. Man meinte, der Charakter manifestiere sich im Aussehen, so als wäre das Innerste immer besser an der Außenseite zu sehen. Das war eine bemerkenswerte soziale Veränderung, die sich sowohl im Stil des öffentlichen Auftretens als auch im privaten Lusterleben niederschlug. Anfang des 20. Jahrhunderts wies der Körper kaum noch bedeutende Reste von Natur, Charakter und Trieb auf. Er war ein mechanischer Körper, der zur Gänze in Frederick Taylors Zeit- und Bewegungsstudien erfasst war, aus denen das „wissenschaftliche Management“ für das nächste halbe Jahrhundert die Arbeitsvorgänge der Individuen ableiten sollten. Auch dieses Wissen zeitigte Konsequenzen. Der mechanische menschliche Körper hatte wie andere Automaten auch seine Belastungsgrenzen. Das zeigte sich in Nervenzusammenbrüchen, Hysterie, Geisteskrankheit und psychosomatischen Symptomen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war der Körper gespalten: Einerseits war er die kultivierte und effiziente Maschine, die geschickt gigantische Wolkenkratzer errichten, Land, Luft und Wasser erobern und virtuose Aufgaben vollbringen konnte. Andererseits war er ein zerbrechlicher Behälter, der chirurgische Eingriffe, Elektrotherapie, Psychotherapie, medikamentöse Therapie, Physiotherapie, prothetische Hilfen, Hormonbehandlungen, sexuelle Neuausrichtung und Organspenden benötigt. Die Schwäche des Körpers machte ihn zu einer Dauerbaustelle. Seine Bedürfnisse und Merkmale waren weder natürlich noch künstlich, sie waren einfach Teil einer flüssigen Landschaft. Der neue liminale Körper muss angeschirrt, gepflegt, verwaltet und trainiert werden, in Übereinstimmung mit den sozialen Welten, die er bewohnt – so wie es der Körper seit jeher in der Geschichte wurde.

Die erhöhte Aufmerksamkeit, die die Unterhaltungs- und Kulturindustrie sowie die Biomedizin und die Techno-Industrie dem menschlichen Körper schenken, erzeugt ein sich verbreitendes Netzwerk von Wissen und Praktiken, das uns ständig umschreibt. Diese Regulationsmechanismen definieren den Körper und schreiben ihm seine verschiedenen Funktionen vor, jedoch immer im Kontext historischer Ungewissheit. Das bedeutet letztlich, dass es keine Antworten auf die Fragen nach dem nächsten bzw. dem letzten Sex geben kann. Es kann keine Definition dafür geben, was übermäßig oder überflüssig ist, welche Praktiken lebenswichtig und historisch nachhaltig sind oder welche Lebensgewohnheiten die bestmögliche soziale Welt hervorbringen werden. Wie Oscar Wilde in Das Bildnis des Dorian Grey witzelt: „Alles wird zum Vergnügen, wenn man es nur zu oft macht.“

Auch wenn der Körper unser erstes und natürlichstes Technikobjekt und Instrument ist, so wird er doch permanent von öffentlichen Wissensystemen, die etwas anderes aus ihm machen wollen, von uns entfernt. Der historische Augenblick, in dem wir leben, bringt uns das Gehen, das Sprechen, das Denken, das Sitzen, das Tanzen, das Schwimmen, das Tabletten-Schlucken, das Sexhabenwollen, das Musikhören etc. bei. Ein weltmännischer Marcel Mauss teilt uns mit, dass „in jeder Gesellschaft jeder weiß und zu wissen hat, was er/sie in jeder Situation zu tun hat. Natürlich ist auch das soziale Leben nicht vor Dummheit und Abnormitäten gefeit […] Die französische Marine begann erst kürzlich mit der Schwimmausbildung ihrer Matrosen“ (1934). Er fährt fort zu erläutern, dass die Eroberung des Körpers durch die Art, wie wir über ihn denken, die fundamentale, für alles soziale Leben notwendige Geste sei. Und das ist die Grundlage, von der alle Rückschlüsse auf die Natur des Körpers gezogen werden müssen.

Ob nun der Körper als wissenschaftliches Feld für die Biotechnik, als Stätte kultureller Angst, reif für die Therapie, als Baudrillard’scher Bildschirm, der ausschließlich Bilder der Hyperrealität spielt, oder als Überfluß in einem Zeitalter reproduktiver Überflüssigkeit dargestellt wird, ist unerheblich. Wann immer wir uns fragen, was als nächstes geschieht, wann immer wir in die Zukunft zu projizieren versuchen, merken wir, dass wir nur in den Freuden erfolgreich sind, die wir aus dem Diskurs über die historische Gegenwart ziehen.

Anmerkungen

(1)
Der Begriff Staat ist im Sinne von Königreich, Zivilisation, Zeitgeist, Kultur, Diskurs etc verwendet und austauschbar. Das ist auf den ersten Blick vielleicht zu umfassend, ist jedoch notwendig, wenn man über die individuelle Erfahrung theoretisiert und ein Konzept benötigt, das sich auf eine externe, ideale Einheit – eben den Staat – bezieht (Helliwell und Hindess, 1999). Der Staat und das Individuum existieren binär in dem Verständnis, dass beide Termini unmöglich zu definieren sind. Verbindet man sie, nimmt man damit nicht notwendigerweise das übersozialisierte Konzept vom Individuum an, das Dennis Wrong beschreibt (1976). zurück

(2)
Im Auburn-Gefängnis im US-Bundesstaat New York fand am 6. August 1890 die erste Hinrichtung am elektrischen Stuhl statt. Der Gefangene, William Kennler, starb langsam. Die Exekution verlief sehr schlecht; die zugeführte elektrische Spannung war zu gering und die Elektroden schlecht fixiert. Doch nicht einmal ein Jahr später fanden weitere Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl im Sing-Sing-Gefängnis statt. zurück

References

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