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Gewebekultur & Kunst-Gebärmütter


'Oron Catts Oron Catts / 'Ionat Zurr Ionat Zurr / 'Guy Ben-Ary Guy Ben-Ary

Das Tissue Culture and Art Project (begonnen 1996) ist ein künstlerisches Forschungsund Entwicklungsprojekt-in-progress über die Nutzungsmöglichkeiten von Gewebekulturen und Tissue Engineering als künstlerisches Ausdrucksmedium.

Das Tissue Culture and Art Project (TC&A) verwendet Biotechnologien (in der Hauptsache Gewebekulturen und Tissue Engineering) als neue künstlerische Ausdrucksformen, die aufmerksamkeitsschärfend und wahrnehmungsverändernd in Bezug auf die Existenz dieser Technologien, ihre Benutzung und ihre massiven Folgen für die Zukunft wirken sollen.

Was ist Tissue Engineering?
Tissue Engineering ist die Herstellung (Fabrikation) menschengemachter Gewebe oder Organe, sogenannter Neo-Organe (1), zur Schaffung von Körperersatzteilen. Beim Tissue Engineering wird in der Regel ein künstliches, abbaubares Biopolymergerüst in einer gewünschten Form konstruiert, das dann mit den entsprechenden Zellen besät und in eine mit Nähr- und Wachstumsstoffen angereicherte Lösung eingesetzt wird, die Körperbedingungen zu emulieren versucht (37°C, 5% CO2). Das System, das diese Lebensbedingungen herstellt, bezeichnet man als Bioreaktor. Auf Grund der Fortschritte in der Stammzellentechnologie handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine künstliche Gebärmutter, in der man neue Organe/Erweiterungen/Zusätze für uns züchtet.

Das Tissue Engineering ermöglicht die Herstellung von – wie wir sagen – halblebendigen Objekten. Ein Gewebe ist eine Ansammlung von Zellen eines Einzelorganismus, die auf die Ausführung einer bestimmten Aufgabe spezialisiert sind. Werden diese Zellen mit anderen (nicht unbedingt vom selben Organismus stammenden) Geweben und künstlich konstruierten Trägergerüsten kombiniert, lassen sich aufgabenspezifische oder allgemein einsetzbare Werkzeuge „züchten“. Das TC&A Project setzt Tissue Engineering und künstliche Gebärmütter zur Aufzucht von Skulpturen ein.

Solche Skulpturen befinden sich immer noch im Bereich einer symbolischen Geste, die eine neue Objekt- oder Seinskategorie darstellt. Es sind Objekte, die zum Teil künstlich konstruiert, zum Teil gezüchtet/geboren werden. Sie bestehen sowohl aus synthetischen Materialien als auch aus lebender Biomasse komplexer Organismen. Diese Entitäten (Skulpturen) lassen die Grenzen zwischen Geborenem und Fabriziertem, Belebtem und Unbelebtem verschwimmen und stellen unsere Wahrnehmung des Körpers und der konstruierten Umwelt sowie unser Verhältnis zu ihnen weiter in Frage.

Der Einsatz halblebendiger Objekte kann als eine Möglichkeit zur Herabsetzung der mit den neuen Technologien verbunden Risiken sowie zur Ausschaltung einiger Probleme mit den bestehenden Technologien und der Konsumkultur gesehen werden. Die Umstellung der Produktionskultur von Herstellung auf Zucht könnte die mit der Industrieproduktion verbundenen Umweltprobleme verringern. Die Beziehungen, die Konsumenten zu diesen halblebendigen Objekten aufbauen, werden anders sein als die zu unbelebten Objekten. Tissue Engineering ermöglicht sowohl die Veränderung unseres eigenen Konstruktionsplans als auch die Schaffung einer neuen Kategorie von „Dingen“. Momentan versuchen die Wissenschaftler noch, die Natur nachzuahmen. Aber wie werden wir aussehen, wenn wir uns entschließen, sie zu verbessern? Werden Neo-Organe von der Mode bestimmt werden? Wird lebende Materie vollkommen verdinglicht werden? Uns scheint, dass den Entwürfen, Prüfungen und Infragestellungen der möglichen Zukünfte, in die uns diese Technologien führen können, nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil wird.
Die Sorgenpuppen
Wir beschlossen, in der künstlichen Gebärmutter moderne Versionen der legendären guatemaltekischen Sorgenpuppen zu züchten.
Die guatemaltekischen Indianer geben ihren Kindern eine alte Überlieferung weiter. Wenn du Sorgen hast, erzähle sie deinen Puppen. Beim Zu-Bett-Gehen sollen die Kinder für jede Sorge eine Puppe aus der Schachtel nehmen und ihre Sorge mit dieser Puppe teilen. Über Nacht wird die Puppe ihre Sorgen zerstreuen. Aber aufgepasst, da es in jeder Schachtel nur sechs Puppen gibt, sollte man nur sechs Sorgen pro Tag haben. (2)
Da wir keine Kinder mehr sind, beschlossen wir, sieben Puppen zu gebären. Kann sein, dass wir nicht mehr als sechs Sorgen haben sollten, aber wir haben sie nun einmal. Die geschlechtlosen, kindlichen Puppen stehen für den momentanen kulturellen Schwebezustand: Er ist durch kindliche Unschuld und eine Mischung aus Neugier und Angst in Bezug auf die Schaffung eines neuen Geschlechts – und damit eines neuen Zeitalters – charakterisiert.

Wir gaben den Puppen alphabetische Namen, da wir der Meinung sind, dass wir für jeden Buchstaben der Sprache, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, eine Sorge finden könnten. Während der Arbeit am Tissue Culture and Art Project teilten uns Menschen ihre Ängste mit. Diese Puppen repräsentieren einige davon. Sie sollen noch weitere Puppen und weitere Namen finden … Sie werden diesen Puppen Ihre Sorgen (und nicht nur solche, die mit Biotechnologie zu tun haben) zuflüstern können und hoffen, dass sie Ihnen diese Sorgen nehmen.
Puppe A
steht für die Sorge um absolute Wahrheiten und Menschen, die glauben, sie zu besitzen.
Puppe B
repräsentiert die Sorge um die Biotechnologie und ihre Triebkräfte. (siehe Puppe C)
Puppe C
steht für Kapitalismus, Konzerne.
Puppe D
steht für Demagogie und potenzielle Destruktion.
Puppe E
steht für Eugenik und die Menschen, die glauben, so überlegen zu sein, dass sie sie betreiben können.
Puppe F
ist die Furcht vor der Furcht selbst.
G
ist keine Puppe, da die Gene in allen halblebendigen Puppen vorhanden sind.
Puppe H
symbolisiert unsere Angst vor der Hoffnung …
Unsere Puppen wurden von Hand aus abbaubaren Polymeren (PGA und P4HB) und chirurgischen Nähten geformt. Die Puppen wurden sterilisiert und mit Endothelzellen, Muskelzellen und Osteoplasten (Haut-, Muskel- und Knochengewebe) besät, die über und in die Polymere wachsen. Mit dem Gewebewachstum zerfallen die Polymere und damit werden die Puppen teilweise lebendig! Werden sie uns unsere Sogen nehmen? Der Prozess, mit dem das Natürliche (das Gewebe) vom Gemachten (den Polymeren) Besitz nimmt, ist nicht „präzise“. Jeden Augenblick entstehen neue Formen, die von vielen Variablen abhängen, wie dem Zelltyp, dem Rhythmus des Polymerzerfalls und der Umgebung in der künstlichen Gebärmutter (dem Bioreaktor). Das bedeutet, dass keine Puppentransformation völlig vorhersehbar ist und jede von ihnen einzigartig ist. Unser „nächstes Geschlecht“ befindet sich immer noch in einem Raum des Dialogs mit der Natur und nicht der kompletten Kontrolle über sie. Unsere Puppen sind keine Klone, sondern Unikate.
Kunst-Gebärmütter und das nächste Geschlecht
Wir befinden uns im Zeitalter der verlorenen Unschuld; darin treiben wir unsere menschlichen Eigenschaften der Neugier und Manipulation bis an die äußerste Grenze. Wir lernen die Bausteine unseres eigenen Körpers (und die anderer Organismen) zu manipulieren. Das nächste, in der künstlichen Gebärmutter gezeugte Geschlecht ist vielleicht ein kalter Akt zur Berechnung des „besten“ Geschlechts.

Dieser Fortpflanzungsakt wäre weit entfernt vom heiligen, emotionalen Ritual dessen, was wir heute unter Sex verstehen. Die außerhalb des Körpers liegende (vom männlichen wie vom weiblichen Körper gleichermaßen entrückte) Kunst-Gebärmutter wird der Ort sein, wo die Fortpflanzung stattfindet. Wir werden die Gebärmutter maßschneidern, damit sie unsere Individualität zum Ausdruck bringt, und ihr emotional verbunden sein, weil sie der einzige Ort des wahren Geschlechtsakts ist.

Werden wir dem Sex immer noch so viel Bedeutung beimessen, oder werden wir ihn endlich frei von jedem Zeugungszwang sehen? Vielleicht sind wir imstande, uns physisch (und geistig) von den binären „natürlichen“ Beschränkungen zu befreien und neue Formen und Spiele zu erschaffen?

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir uns auf diese Fragen einlassen müssen, wenn wir uns den selbst auferlegten Herausforderungen und der selbst auferlegten Verantwortung stellen wollen. Wir sind nicht mehr unschuldig – waren es auch nie.

In Zusammenarbeit mit SymbioticA (The Art and Science collaborative research lab) und dem Department of Anatomy and Human Biology der University of Western Australia sowie dem Tissue Engineering and Organ Fabrication Laboratory am Massachusetts General Hospital, Harvard Medical School.
Dieses Projekt wurde über das Australian Council (Kunstrat) vom Commonwealth Government unterstützt.


(1)
Robert S. Langer; Joseph P. Vacanti: „Tissue Engineering: The Challenges Ahead“, Scientific American; April 1999, S. 62–65. zurück

(2)
Auszug aus der Notiz, die der Worry-Doll-Packung beigelegt war. Die Sorgenpüppchen wurden in einem Comic-Shop in Boston erstanden. zurück