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BodySpin


' Time's Up Time's Up

Bislang eigneten sich VR-Szenarien und VR-Situationen aufgrund architektonischer Probleme nicht zur Erforschung des öffentlichen Individuums. SPIN setzt sich gleich über mehrere derartige Einschränkungen hinweg. BodySpin ist ein Environment, das die Aktionen und Reaktionen des öffentlichen Individuums in einem virtuellen Raum untersuchen soll, dessen abstrakte Physik am inneren biomechanischen Zustand des Individuums ausgerichtet ist.
Virtueller Situationismus – Situierte Virtualität
Der Körper als Schauplatz für alles. Bei der Entwicklung von Systemen zur Schaffung experimenteller Situationen für das öffentliche Individuum ging es bisher um die Situierung des Körpers in einer Umgebung, in der das Individuum agieren kann und die selbst auf das Individuum einwirkt. Dafür wurde der Begriff „Reale Virtualität“ geprägt. Die dabei erzeugten Räume unterschieden sich so sehr von unserer Vorstellung von Normalität und die verschiedenen Funktionsweisen und gegenseitigen Beziehungen des Raumes und der Objekte waren so weit von unserer alltäglichen Erfahrung entfernt, dass sie als Virtualität bezeichnet wurden – nur dass es eben eine reale war.

Die Schaffung solcher Räume/Environments ist schwierig und mühsam und wird durch elementare physikalische Phänomene wie Schwerkraft, Schwingung, Zug- und Reibungskräfte eingeschränkt. Also mussten die Umgebungen auf ihre elementare, platonische Form reduziert werden: vollkommene, im Raum schwebende Kugeln, einer Physik unserer Wahl gehorchend. Wir wollten Immersion und Bewegungsfreiheit zugleich, Ganzkörperkontrolle und Rundumwahrnehmung. Eine Form von Erfahrung, die in keinem uns bekannten bzw. zugänglichen VR-Kontext möglich ist.
Also haben wir unseren eigenen VR-Kontext erzeugt.

SPIN (Spherical Projection INterface)
SPIN, das Spherical Projection Interface, ist ein Trackball von drei Metern Durchmesser, in dessen Inneren man umhergehen kann. Die Bewegung des unter den Schritten des Benutzers rotierenden Trackballs wird auf einen virtuellen Raum übertragen; Projektionen davon werden auf die lichtdurchlässigen Wände der Kugel geworfen. So entsteht der Eindruck einer Wanderung im virtuellen Raum. Es gibt kein Vorwärts, keine Brillen oder andere störende Gegenstände – SPIN zeichnet sich vor allen anderen Schnittstellen durch absolute Bewegungsfreiheit aus. Die Navigation durch den virtuellen Raum wird über die Roll-Bewegung gesteuert – so erhält der Ausdruck „Walk-through“ endlich reale Bedeutung.

Durch die Platzierung des Körpers innerhalb des symmetrisch rotierenden SPIN-Raumes perforiert das öffentliche Individuum die Membran und taucht auf spektakuläre Weise in den virtuellen Raum ein. Der hohe Immersionsgrad ermöglicht es uns, das Verhalten des öffentlichen Individuums auf bisher völlig undenkbare Art und Weise zu erforschen.

Befindet sich der User einmal im SPIN, ist er im IRS (Inverted Reality System) gefangen.

Das Inverted Reality System (IRS)
Das IRS erlaubt einen völlig neuartigen Umgang mit virtuellen Environments, die weder auf der bloßen Kopie oder Simulation eines existierenden oder geplanten (aber auf Grund zu hoher Kosten nicht implementierten) realen Raumes beruhen, noch auf einem kunstvoll gestalteten Irrgarten aus Tunneln, Räumen usw.

SPIN-User befinden sich im Prinzip in einer großen Drahtkugel, deren Schwerkraft nach außen gerichtet ist, als wäre sie von einer Zentrifugalkraft verursacht. Diese Kugel tritt an die Stelle der üblicherweise flachen Grundebene von VR-Welten. Im Kugelinneren und auf ihrer Oberfläche werden je nach Vorgabe des Benutzers Welten erschaffen.

Das IRS ermöglicht weiters die ideale Implementierung eines Multi-SPIN-Environment, in dem mehrere SPINs einander von verschiedenen Sektoren der Kugel aus gegenüber stehen. Da der User immer durch den Innenraum der Kugel auf die andere Seite sehen kann – wie das etwa auch in einer rotierenden Ferien-Raumstation der Fall wäre –, ist es auch wahrscheinlicher, dass er seinen Kollegen im jeweils anderen SPIN sieht. So werden Wahrscheinlichkeit und Tiefe der Beziehung verstärkt.

Biomechanik und Drahtmodell-Physik
Hier wird nicht die Welt ersetzt – obwohl wir eine nahtlose Rundum-Erfahrung generieren, ist dies eine offensichtlich irreale Welt der Drahtgitter-Objekte und Tron-Physik: die Einheit der Kugel, das Individuum in einer Kugel, die selbst wiederum in einer größeren Kugel umherrollt, eine – wie eine Art (Ruckersche/Thulsche/esoterische) Hohle Erde von außen nach innen gestülpte – Weltkugel. Das Bild der Kugel, in der sich die einzelnen Individuen befinden, verschwindet rasch aus der Erinnerung, die Immersion gewinnt die Oberhand.

Mit diesem Projekt brechen wir eine weitere glatte Oberfläche auf. Wie wir wissen, ist die biomechanische Einheit begrenzt – sie besitzt eine Hautoberfläche oder wird durch andere Grenzen definiert. (1) Mit nichtinvasiven Sondierungen, Lichtreflexion und Gehirnwellenmessung brechen wir diese Barriere auf, um gewisse biophysikalische Reaktionen auf die Situation nachzuweisen. Diese Reaktionen werden dann wiederum auf das Individuum in der SPIN-Situation gerichtet, das somit in eine Welt eingetaucht wird, die eine Reflexion, eine erneute Darstellung des eigenen Innenlebens ist. Nicht nur eine durch Bio-Feedback modulierte Audiofrequenz oder Blinklicht-Synchronisierung, sondern der innere Zustand der Einheit wird auf die Eigenschaften und Neigungen der die Einheit umgebenden Welt übertragen.

Kurzbeschreibung
BodySpin zielt darauf ab, Verhaltensmuster in einem simulierten Environment zu untersuchen, in dem der Körper des Users integriert und nicht überwunden werden soll. Der Forschungsschwerpunkt liegt nicht nur auf der Frage nach den Auswirkungen eines VRSystems auf den Körper des Users, sondern vielmehr auf der Frage nach dem Einfluss unserer physischen Präsenz auf die Parameter eines solchen Systems und auf das an den Körper zurückgegebene Feedback (Loop).

Wenn wir im Zuge dieser Untersuchungen neue Hardware erfinden müssen, so werden wir das eben tun.

Eine Koproduktion von Time’s Up und Ars Electronica.

Anmerkung

(1)
„ ... das Konzept der biomechanischen Einheit entstand als Analogie und Erweiterung der Vorstellungen H.R. Maturanas und F.J. Varelas von einer autopoietischen Einheit […] ein Sonderfall. [Die Einheit erfordert] die notwendige Existenz einer Grenze, eines Randes, einer Unterscheidung zwischen dem, was innerhalb der Einheit ist, und dem, was außerhalb ist. Beispiele reichen von Einzellern oder Viren bis zu einem Planeten, der durch die äußerste Schicht seiner Atmosphäre begrenzt ist … es ist oft sinnvoll, andere Objekte in eine biomechanische Einheit von Interesse einzubeziehen; das Auto-Fahrer-System oder das Fernseh-Zuseher-System als Ganzes betrachtet.“ in Closing the Loop 98 Laboratory Reports, Edition Time’s Up, 1999, S. 20. zurück