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Ars Electronica 2000
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Festival 1979-2007
 

 

openX-electrolobby
(the top level domain of life)



openX-electrolobby ist der neu konzipierte Festivalbereich für netzinspirierte Digital Culture. In einem E-Mail-Chat haben sich Beusch / Cassani und die electrolobby-Residents Finger und Neuronen warm geschrieben.
VROOOOM!!! Über Nacht ist das Netz vom Leben eingeholt worden. Oder umgekehrt. Jedenfalls hat jetzt auch das Leben sein Suffix: „Bienvenue dans la vie.com – Willkommen im Leben.com“ – verkündet der flotte Slogan von France Telecom. Und schon operieren wir alle im aufregendsten Territorium schlechthin: in der Top Level Domain des Lebens … Welche erfrischenden Strategien und strategischen Experimente entstehen angesichts der rasanten Verlagerung gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Handlungsfelder in die globalen Computernetzwerke? Wie äußert sich der selbstbewusste Umgang der Internet-Generation mit den Herausforderungen, Konflikten und Opportunitäten dieses zusammenwachsenden Aktionsraums? Welche überraschenden Allianzen werden eingegangen, welche Optionen geschaffen, welche antizipativen Arrangements getroffen? Wie wird die Energie, die beim Aufeinanderprallen konkurrierender Aktivitäten und Visionen freigesetzt wird, in der netzinspirierten Digital Culture der frühen Nuller Jahre genutzt?

Diese Fragen im Hinterkopf, haben wir den aktuellen Mutationen jenes spezifischen Netz- Spirit nachgespürt, der in den vergangenen paar Jahren so viel in Bewegung gebracht hat. Für die einen ist er natürlich längst tot, klar; andere entdecken erst jetzt sein volles Potenzial und wieder andere nutzen ihn bereits zur Entwicklung neuer Business-Modelle. Sicher ist: An den produktiven Schnittstellen von Subkultur, E- und M-Kommerz, Design, Lifestyle, Kunst, Free Software, Advanced Communities und Experimental Entertainment wird weiterproduziert und Neues entwickelt.

Da ist zum Beispiel Monotonik, eines der gegenwärtig spannendsten Internetlabels, hervorgegangen aus der Tracker-Szene, die lange vor dem MP3-Hype das Netz zur Distribution und Produktion von digitaler Musik genutzt hat.

h0l: Die Tracker-Szene bot/bietet die Möglichkeit, nur mit dem Computer und ein paar Soundsamples Musik zu machen – keine Keyboards, keine schrägen Klangmodule, Gitarren oder Sonstiges. Es begann Mitte der 80er-Jahre mit rein mathematisch generierten Sounds am Commodore 64, aber mit dem Commodore Amiga kamen ab ca. 1987 vermehrt Samples dazu. Der erste Tracker war Soundtracker und seitdem gab es Fasttracker, Protracker, Impulsetracker und Startrekker, um nur ein paar Klone für Amiga, Atari ST und den PC zu nennen … Der Höhepunkt der Tracker-Szene war wahrscheinlich von 1990 bis 1992 am Amiga. In den letzten zwei bis drei Jahren hingegen ist MIDI-Equipment viel billiger geworden und auch einfacher zu benutzen, während MP3 als Format immer brauchbarer wurde, und so verschwinden MODs immer mehr. Dennoch sind sie nach wie vor faszinierend und es macht Spass, damit rumzuspielen.

TNC: Einer der spannendsten Aspekte des MOD-Formats war/ist, dass jeder sehen kann, wie der Track programmiert wurde.

h0l: Das Coole bei MODs war schon immer, dass sie so klein sind (die frühen MODs waren normalerweise weit unter 200k!) und sich nur auf elektronischem Weg verbreiten lassen. Sie waren in mehrfacher Hinsicht Vorläufer der derzeit stattfindenden MP3-Revolution, aber MODs wurden auf Disketten per Post vertrieben, mit 300- Baud-Modems usw. Ganz besonders cool an MODs ist außerdem, dass man alle vom Producer verwendeten (MIDI-artigen) Songdaten und Echtzeiteffekte tatsächlich sehen kann – man kann im wahrsten Sinne des Wortes sehen,„wie“ er den Track gemacht hat und ihn, wenn man will, sogar verändern.

TNC: Manche sehen darin eine Analogie zur Open-Source-Bewegung und vergleichen Tracking sogar mit Coding.

h0l: Tracking spielt sich hauptsächlich im Musikbereich ab, aber durch die extrem „code-ähnliche“ Schnittstelle ist der Zugang für jemanden, der technisch nicht so gut drauf ist, nicht wirklich einfach. Dazu kommt, dass z. B. seit jeher für einige Werte das Hexadezimal-System verwendet wird, was auch leicht abschreckend wirkt. Aber im Endeffekt geht es ja darum, Musik zu machen – und dazu brauchts auch Talent! Wenn man nur vier Kanäle zur Verfügung hat und weder auf Echtzeit- Echo, noch auf Verzerr-Effekte und sonstige anspruchsvolle Techniken zurückgreifen kann, muss man die „Tricks“ für eine gute Produktion natürlich erst mal lernen.
MONOTONIK (www.mono211.com)
Monotonik ist eines der gegenwärtig spannendsten Internet-Musiklabels im Bereich Ambient IDM-Techno und Dope Beats – nicht zuletzt wegen der Herkunft von Labelboss h0l aka Simon Carless aus der Tracker-Szene. Seit jeher dem Open-Source-Gedanken verbunden, an der Schnittstelle von Demo-Scene und Coding angesiedelt, haben Tracker, die man auch als Hacker-Musiker bezeichnet hat, lange vor dem MP3-Hype das Netz zur Distribution und Produktion von digitaler Musik genutzt. Mit Lackluster (aka Distance), Subi, Vim!, Thug (aka Serkul), Dharma+Dice, Sushi Brother, Jiva, u. a.
TNC: Gamer- und Tracker-Szene waren schon immer eng miteinander verbunden. Seit neuestem entwickelst du auch Computerspiele.

h0l: Das nächtelange Hacking war das perfekte Training für die technischen Disziplinen, die man zum Programmieren von Computerspielen braucht. Die meisten Talente der Amiga-Demo-Szene der frühen 90er (hauptsächlich Coder und Grafiker, aber auch viele Musiker) arbeiten ja heute in der Game-Industrie.

TNC: Bis zum Vorjahr hat Monotonik Tracker-Files im MOD-Format angeboten. Aber jetzt habt ihr auf MP3 umgestellt. Anders als bei der MP3-Szene liegt beim Tracking der Schwerpunkt auf der Produktion von Musik, nicht auf der Verbreitung von bereits aufgezeichneter Musik. Was hältst du von Napster, Gnutella, Freenet und anderen MP3-Distributionsmodellen?

h0l: Ich stehe dem mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Mein Hauptproblem damit ist, dass es sich hierbei im Wesentlichen um Musikpiraterie handelt. Aber andererseits wird so die Arbeit eines bestimmten Künstlers einem neuen Publikum näher gebracht, und das ist bestimmt gut. Letztendlich allerdings verlieren wahrscheinlich nicht nur die großen, anonymen Firmen dadurch Geld, sondern auch die kleinen, unabhängigen Labels und die Künstler selbst. Ich hoffe, dass wir in Zukunft Schnittstellen im Stil von Napster haben werden, wo der Kunde für jeden heruntergeladenen Track einen minimalen Geldbetrag (sagen wir, 10 Cent) bezahlt. Das Geld sollte direkt auf das Konto des Künstlers überwiesen werden. Natürlich ergibt sich in so einem Fall ein Qualitätsproblem. Und die virtuellen Labels bzw. Musikläden werden diejenigen sein, die gute Musik dann tatsächlich auswählen. Und genau aus diesem Grund könnten virtuelle Labels wie z. B. Monotonik in Zukunft tatsächlich eine wichtige Rolle spielen – denn durch Qualitätsregulierung wird das Netz erst so richtig florieren :)

Line-Up for the Open-Source-Society

Wir haben vor ein paar Jahren für unsere Tätigkeit im Rahmen von TNC Network den Begriff Data-Jockey eingeführt: „Ein Data-Jockey pflegt einen lustvollen Umgang mit Daten und Information in der globalen Kommunikations- und Mediengesellschaft. Er filtert Information, zerlegt und bearbeitet sie und setzt sie zu neuen Emotionen und Inhalten zusammen. Der Challenge besteht darin, ein Line-Up zu programmieren, das die Frage nach Unterhaltungswert und Dramaturgie auch in technischen Systemen stellt.“ Die für die electrolobby herausgefilterten Projekte haben die Qualität, als Impulsgeber zu funktionieren, definieren sich im Austausch, sind Meilensteine oder schlicht kleine hippe Hacks, zielen auf Aktivierung unserer Softskills oder bieten dank ihren Verknüpfungen spannende Andockpunkte. Wie zum Beispiel das Free Software Project, das exemplarisch für einen aus der Netzpraxis heraus entwickelten Ansatz steht. Es ist der Versuch, dem Phänomen Open Source und der Vision einer Open-Source-Society in einer direkt am Linux-Modell inspirierten Methode auf die Spur zu kommen.

Leonard: Die grundlegende Idee besteht darin, beim Schreiben über die Free-Software- Bewegung jenen Spirit einfliessen zu lassen, der diese Bewegung selber auszeichnet. Da ich die einzelnen Kapitel öffentlich schreibe, kann die Free-Software-Community während dem ganzen Entstehungsprozess kritische Kommentare abgeben (eine Analogie zum Peer-Review-Prozess, dem Herzstück von Free Software/Open Source). Schon seit Jahren schreibe ich über Free Software und profitiere enorm vom direkten Feedback tausender Leser – das wollte ich nicht aufgeben.

TNC: Ein Programm zu kodieren und ein Buch zu schreiben sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse. Wie wendest du die Open-Source-Methodik an?

Leonard: Ähnlich wie Linus Torvalds gewähre ich den Leuten nicht immer Zugang zum „Kernel"; damit meine ich, dass niemand hergehen und den Haupttext umschreiben kann (zu dem übrigens Projektträger Salon das Copyright besitzt). Ich habe eine Vision, die ich in Worte fassen möchte, und diese Vision werde ich verfolgen. Das Free Software Project ist technisch gesehen keine Free Software und in diesem Punkt bin ich für Kritik relativ offen. Ich suche eine Art Unterlage, auf der rund um den Kern ein Überbau entstehen kann. Diskussionsforen, Glossare, Quellenverzeichnisse sind die Bereiche, die zur Teilnahme offen stehen, und ich versuche auch, Wege zu finden, etwaige Beiträge in den Haupttext zu integrieren. Man hat mir vorgeworfen, ich würde einfach versuchen, auf diese Weise zu einem „Free Editing“ zu kommen, aber es geht mir natürlich um weitaus mehr. Das Ganze soll zu einer gemeinsamen, geteilten Erfahrung zwischen meinen Lesern und mir werden.
FREE SOFTWARE PROJECT (www.salon.com/tech/fsp)
Ein von Andrew Leonard und Salon.com initiiertes, ambitiöses Netz-Projekt, das dem Phänomen Open Source und Free Software in einer direkt am Linux-Modell orientierten Methode auf die Spur zu kommen versucht. Eine Mischung aus experimentellem Online-Journalismus und dem Open Source Way of Life, in dem die Peer-to-Peer-Review für kontinuierliches Feedback der Szene-Protagonisten garantiert.
TNC: Wie funktioniert diese Peer-to-Peer-Review? Was kriegst du für Feedback? Wie beeinflusst dies das Gesamtprojekt?

Leonard: Im Allgemeinen sind die Reaktionen sehr positiv, obwohl ich einige Male reingelegt wurde. Leute wie Richard Stallman und Eric Raymond haben mich auf tiefer liegende Probleme hingewiesen und ich habe versucht, ihre Ansichten zumindest teilweise einzubauen.

TNC: Das Free Software Project ist eine radikale Innovation im Online-Journalismus. Wie hat sich die Nicht-Linearität auf deine Vorstellung vom Schreiben ausgewirkt?

Leonard: Vor kurzem war ich in Finnland und einige meiner Interviewpartner hatten das erste Kapitel als Ausdruck vor sich liegen. Dadurch wurde der Interview-Prozess viel intimer – sie wissen, worum es in meiner Geschichte geht und worauf ich hinaus will. Noch faszinierender ist jedoch, dass ich meinen ursprünglichen Plan, ungefähr einmal im Monat ein komplettes Kapitel ins Netz zu stellen, bereits verwerfen musste. Das würde die Möglichkeiten des Web schlicht nicht ausschöpfen. Ich arbeite an kürzeren Abschnitten, die rascher gepostet werden können, und hoffe, dass ich so im Kontext der Erzählung auf aktuelle Ereignisse reagieren kann.

TNC: Wie würde eine vernetzte Open-Source-Society aussehen? Was ist ein Open- Source-Lifestyle?

Leonard: Meiner Ansicht nach ist die Möglichkeit, dass sich auf Sharing-Basis eine neue Form des Kapitalismus entwickelt, sehr aufregend. Ich glaube, es ist ausgesprochen spannend, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich über geografische, firmenbedingte und sprachliche Grenzen hinwegsetzt. Meiner Meinung nach hat die Internet-Kultur eine tief greifende Wirkung auf die Weltwirtschaft, und möchte daran teilhaben, wenn schon nicht als Coder, dann als Chronist. Ein auf Open Source beruhender Lifestyle basiert eher auf Sharing als auf Anhorten – er fördert fruchtbare Zusammenarbeit statt aggressivem Wettbewerb und ermöglicht es der Community als Gesamtheit – gänzlich ohne Zwang –, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

TNC: Wie wird das Konzept Open Source/Free Software die Entwicklug einer netz-inspirierten Digital Culture in nächster Zukunft beeinflussen?

Leonard: Napster, Software-Piraterie, alle Formen des digitalen Entertainment, nahezu alle Fortschritte im Bereich neue Medien stehen mit der Free-Software-Bewegung in Zusammenhang – hauptsächlich aus dem einen unvermeidlichen Grund, dass Software so einfach zu kopieren und zu verbreiten ist und dass mittlerweile alle Medien zu Software geworden sind. Man kann entweder versuchen, auf dieser Welle mitzureiten wie die Leute von Linux oder dagegen anzukämpfen wie RIAA und MPAA. Wir werden sehen, wer zum Schluss am besten dasteht.

New-School Biotech for Kids

Portable Kommunikationsgeräte, von MP3-Playern über Mobiltelefone bis hin zum Gameboy, üben in ihrer Verbindung von Distanz und Intimität eine große Anziehungskraft aus, der sich auch einige electrolobby-Residents nicht entziehen können. Während die Devices beispielsweise im Pixelporno-Project zur Verbreitung einer Net-Pulp-Fiction dienen, sind sie für Lo-ser idealer Support für seine Hacks. Sein neuestes Gameboy- Projekt ist ein Biotech-Primer für Kids …

Lo-ser: Es ist eine Art Edutainment-Serie für den Gameboy, in etwa ein Adventure/ rp-artiges Spielchen mit diversen Arcade-Lockerungsübungen, wo man dann Immunsystem spielt (oder die falschen IP-Adressen aus dem LAN schießt), nachdem das dazu nötige Wissen durch Rumlaufen und Herausfinden erworben wurde, mit ein paar begleitenden Webpages als Referenz ... Es geht darum, Aufgaben spielerisch zu lösen, sich das nötige Wissen anzueignen und wenn man das Spiel durch hat, mehr Tau von Gentechnik zu haben als die Kronen Zeitung lesenden Eltern.
LO-SER.ORG (lo-ser.org)
Der Prime Time Independent Media Manufacturer und Flexecutive Lo-ser aka Chris Kummerer hat es abgesehen auf die Spezies der billigen, portablen Consumer Electronics. Sein SMS-Resistance-Gateway macht das Mobilnetz zum effizienten Tool bei der Koordination der Widerstandsbewegung gegen die Haider-Partei, während seine poppigen Gameboy- Hacks durchaus das Zeug haben, zum New-School-Biotech-Primer für Kids zu werden.
TNC: In den Wirren der Nach-Regierungsbildungs-Zeit in Österreich hast du ein SMS Resistance Gateway konzipiert.

Lo-ser: Die Idee war, eine Möglichkeit zu finden, der in den ersten Wochen der Proteste gegen FPÖ/ÖVP aufkommenden Demosucherei ein Ende zu bereiten, indem man mittels mobiler Vorrichtungen sowohl den Ort und die Richtung updaten als auch abfragen kann. Technisch gibt‘s die Möglichkeit, über WWW, WAP und SMS den derzeitigen Ort der Demo abzufragen, und für eine Art redaktionelle Gruppe jene via WWW oder SMS die Info auf den neuesten Stand zu bringen.

TNC: Was interessiert dich an SMS?

Lo-ser: Nichts. Die Wahl fiel auf SMS, da praktisch jeder Mensch entweder ein Handtelefon besitzt (oder jemand neben ihm) und die Klingeltöne im Lärm der Demos schwer zu hören sind. Dementsprechend schwierig ist es, von Demonstrierenden den aktuellen Standort zu erfragen. Derzeit spukt noch irgendwo im Kopf die Idee herum, herkömmliche URLs in 160 Zeichenportionen via SMS zu requesten ... mal sehen.

TNC: Als was siehst du dich? Als Coder, Musiker, Künstler, Hacker, Netzwerker?

Lo-ser: Trifft alles mehr oder weniger zu, außer Coder vielleicht, meine Programmierkenntnisse sind eigentlich eher bescheiden. Hacker ist so eine Definitionsfrage. Ich kann mit Musiker, Künstler, Hacker, Raucher, lo(-)ser etc. ganz gut leben. Gameboy Pocketnoise z. B. besteht aus mehreren Versionen und Komponenten. Es gibt so eine Art Galerievariante, die bei sehr unklarem Userinterface durchaus eine spannende Zeit bescheren kann. Für die etwas experimentelleren „Schauderauftritte“ gibt’s ein Programm,das es erlaubt, direkt die zuständigen Register des Gameboy-Soundchips zu manipulieren. Und für die poppigere Abteilung gibt‘s dann noch so eine Art Sequencer. Es funktioniert also in einem Kunstzusammenhang, kann wahrscheinlich als Hack durchgehen und hat durchaus einen gewissen (pop)musikalischen Aspekt. Als was seht ihr mich denn?

TNC: „Prime Time Independent Media Manufacturer“ gefällt uns gut, auch „Crossmedia Flexecutive“ oder „SMS Bomberman“ ;) Anders ausgedrückt: jemand, der sich in einem pseudo-wissenschaftlichen Ansatz mit technischen Systemen befasst, Consumer Electronics hackt, Software entwickelt, Online-Gadgets herstellt und kreativer Knoten in einem Netzwerk ist.

Lo-ser: Kann ich gut mit leben, ja ;)
Initial Public Opening
Medienkonferenz, vernetztes Dayclubbing, Private Party … ein stimulierender Angebotsmix aus People, Info, Sound, Food, Hacks und Chats liefert am Eröffnungstag des Festivals den konvivialen Rahmen für das erste informelle Treffen zwischen electrolobby-Residents und dem Publikum. electrolobby Initial Public Opening ist Startschuss für eine Reihe von projektbezogenen Game-Competitions, Remix-Contests, Online-Sitcoms und Web-Jams sowie Sneak-Preview auf die täglichen Programmmodule im electrolobby-Studio.

Das Initial Public Opening-Setup basiert auf unseren vielseitigen Erfahrungen im Event- Design (s. Katalog Ars Electronica 1997, S. 396 – 409 zu TNC Networks Projekten im Spannungsbereich von Produktion und Vermittlung netzinspirierter Digital Culture) und reflektiert nicht zuletzt die gegenseitige Beeinflussung von Clubculture und Netculture. Eine Beeinflussung, die auch für BoomBox charakteristisch ist – ein Projekt, in dem der Computer ständig zwischen seiner Funktion als Netzterminal, Live-Encoder und Soundsystem oszilliert.

BOOMBOX: Nichts langweilt uns mehr, als Menschen, die vor Maschinen sitzen. Unser Motto ist: „Inside out. Get down and boogie“. In der electrolobby schicken wir die Leute auf eine Reise durch die Fiber-Welt, damit man sieht und hört, was draußen passiert. Wir kicken Soundbytes aus der Box: Micromusic, Stocktown und Dublab zählen zu unseren Gästen und weitere werden noch dazu kommen ... Wir sind an keine besondere Technik gebunden, aber süchtig nach Dope Beats. Morgen ist BoomBox am Telefon, auf der Uhr, im Kopf.

TNC: BoomBox ist stark von Hip Hop beeinflusst. Welchen Einfluss hat das Netz?

BOOMBOX: BoomBox verbindet Audio, Video und Menschen: Turntablisten in Hawaii, Dub-Freaks in Japan oder B-Boys & -Girls in Stockholm. BoomBox funktioniert wie ein großer Audio/Video-Knoten für urbane Kultur. Wie bei den ursprünglichen Boomboxes trägt man den Sound einfach mit sich rum, lässt ihn dröhnen, wann und wo man will. Hip Hop hat auf der ganzen Welt Pionierarbeit für den Netz-Spirit geleistet. Eine globale Kultur – Musik und Kunst kombiniert mit starken lokalen Wurzeln – transformiert die globale Gesellschaft. Das ist BoomBox: eine experimentelle Plattform frei von Kommerzdruck. Unser gesammeltes technisches, rechtliches und professionelles Know-how fließt in die von unserer Firma, Nomad Online Agents, lancierten Projekte, und mit dem Gewinn finanzieren wir BoomBox. So schließt sich der Kreis. Die Skills, die man sich auf der Straße aneignet, dienen dazu, ein Geschäft aufzuziehen, dessen Gewinne wieder dorthin zurückfließen, wo alles begonnen hat, um neue, innovative Projekte ins Leben zu rufen. Das ist der Netz-Spirit: Know-how, Inhalt, Fähigkeiten und Geld zu teilen.
BOOMBOX (www.boombox.net)
Unter dem Label BoomBox präsentiert sich ein Kollektiv von Netzwerkern, Designern, Veranstaltern, DJs, VJs und Food Jockeys, die exemplarisch für die gegenseitige Beeinflussung von Club-Culture und Netzkultur stehen. Der Streaming-Media-Pionier, gegründet von Laurence Desarzens und Raoul Cannemeijer, ist vernetzt mit namhaften Labels im avancierten elektronischen Musik- und Visualbereich. In Zusammenarbeit mit Mouthwatering, Micromusic, Büro Destruct, Stocktown, Dublab u. a.
TNC: BoomBox @ electrolobby bringt Designer, Illustratoren, Coder, DJs, VJs und sogar Food Jockeys zusammen.

BOOMBOX: Stimmt. Die allmonatliche Clubnight von Mouthwatering wurde mal so im Scherz als „audiovisuelles Bar-B-Q“ bezeichnet und irgendwie blieb es dabei. Bei Mouthwatering gibt es Musik, Visuals und Food, eine Kombination verschiedener Flavors, immer frisch und intensiv. Büro Destruct trägt auf der visuellen Ebene zu diesem Kollektiv bei. Das sind Font-Strizzis, funkige Typo-Cracks, böse Illustratoren, Design-Gauner mit Stil. Wir von BoomBox injizieren dem Ganzen eine Dosis Netz- Spirit und spielen mit Streaming Media und Interfaces. Es geht um den Austausch zwischen dem realen und dem virtuellen Raum, um Clubbing in einer anderen Dimension, um analogen und digitalen Transfer.
Vernetzter Showroom – Inselgruppe im Datenfluss
In den Tagen nach dem Initial Public Opening inszeniert sich electrolobby als Inselgruppe des netzinspirierten Lifestyles. Sie wird zum emotional aufgeladenen Sinnbild des Netzwerks, zum Umschlagplatz von Meinungen, Projekten, kulturellen Markenartikeln und ihren Bootlegs – zu einem vernetzten Showroom. Zu einem Ort, wo man Interesse und Vergnügen auf vielfältige Weise miteinander vermischen kann, einem Ort mit Kommunikationsqualität, wo man sich wohlfühlt und wo man hängen bleibt. Genforscher treffen auf Experimental-Entertainer, Food-Jockeys auf MP3-Mixer, Gamedesigner auf Concept Engineers … Während in den Talks im electrolobby-Studio die täglichen Programmmodule produziert werden, entstehen im Lobby-Halbschatten die informellen Netzwerke – und die Projekte von morgen.

Das electrolobby-Setting öffnet Handlungsspielräume für jene Projekte, die sich über die ganze Festivaldauer entwickeln: vom Free Software Project über Memepool und Icontown bis hin zu Pixelporno und Sissy Fight 2000. Aber auch für das Projekt eines Kollektivs von Interface-Designern, die 36 Stunden Zeit erhalten, um Versatzstücke aus der Mediasphäre durch den Designer-Fleischwolf zu jagen und das ultimative Next-Sex-Portal zu programmieren.

CHMAN: Der WebJam ist bei cHmAn gleichzeitig eine künstlerische Herausforderung, ein Augenblick des zwischenmenschlichen Austauschs rund um ein Multimedia- Event; aber er ist manchmal auch eine praktische Demonstration für ein nicht initiiertes Publikum, die das Internet von seiner spektakulären Seite zeigt. Die Prinzipien: Der Content wird spontan kreiert, je nach der Atmosphäre des Augenblicks; das Event wird direkt übers Internet übertragen; das Ganze kombiniert Elemente aus dem Kontext und dem Environment, ist strikt nicht kommerziell ausgerichtet; und die Musik nimmt einen wichtigen Platz dabei ein.

TNC: Wie BoomBox bezieht auch ihr euch auf einen spezifischen „Netz-Spirit“.

CHMAN: Der ursprüngliche Geist des Internet kommt im kommunitären Aspekt des Teams von cHmAn zum Ausdruck: Freiwilligkeit, gegenseitige Hilfe, Meinungsfreiheit – ein ganzes Bündel von Werten, das eine echte alternative Ideologie bildet, die sich der Kontrolle durch eine nationale oder ökonomische Macht entzieht. Eine moderne Utopie ;)

TNC: Das Thema eines eurer früheren WebJams (WebDAYsigner, am „Festival International du Film de l’Internet“ in Lille, Frankreich), war E-Commerce.

CHMAN: Auch wenn es nicht darum ging, die Richtung, in die diese New Economy geht, von vornherein zu verteufeln oder zu verurteilen, so war die Wahl des Themas „ECommerce“ trotz allem ein bisschen auf Provokation ausgelegt ... Die Start-ups, die jetzt aus dem Boden schießen, sind in einem Teufelskreis von gegenseitigem Übertrumpfen, Investitionsrunden und Werbekampagnen gefangen. Um dem allgemeinen Geschmack zu entsprechen, unterwerfen sie sich einem Modell, das sich angeblich bewährt hat und vernachlässigen dabei die Originalität der Inhalte und des Designs. Ohne jetzt auf das Risiko einer Uniformisierung, die das Besondere des Internet an sich bedroht, näher einzugehen, bemerkt man ein immer stärkeres Auseinanderklaffen zwischen den raffinierten Kommunikationswerkzeugen, die diesen Werbeleuten zur Verfügung stehen, und der reduktionistischen Verwendung, die sich im Grunde auf ein Ausspionieren des Users durch Cookies beschränkt … Dabei wäre eine subtilere, personalisiertere Form der Werbung durchaus machbar, und genauso könnten die großen Ketten sich innovativere Formen der Präsentation als nur über traditionelle Kataloge einfallen lassen. Wie man auf der Website von WebDAYsigner sehen kann, gehen die Interpretationen und Vorschläge zu diesem Thema wesentlich weiter …

YENZ: Für mich ist die zunehmende Kommerzialisierung des Net schlicht eine Unabdingbarkeit – es geschieht einfach. Mich interessiert daran, dass man Vertriebswege findet, die nicht unbedingt einer groß angelegten Marketingkampagne bedürfen. Ich denke schon, dass der E-Commerce Wege für neue ungewöhnliche Produkte wird öffnen können.
NEXT SEX WEB JAM (www.chman.com)
Ein internationales Designer-Team (cHmAn, u.a.) hat 36 Stunden Zeit und eine Mission: Die Programmierung des ultimativen Next-Sex-Webportals. In einem Setting, das in seiner Spontaneität zugleich an Hacker-Contests und Hip Hop-Jams erinnert, entsteht eine Plattform für einen Ausflug in die Abgründe der biotechnologischen Reproduktionsfantasien im Internet. Mit Tony Derbomez, Stefan Logier, Gauthier Malou, Sebastien Kochmann, Olivier Janin u. a. In Partnerschaft mit dem japanischen Online-Magazin Shift (www.shift.jp.org).
TNC: Ihr habt mit zahlreichen Designern mit unterschiedlichstem kulturellem Hintergrund gearbeitet. Lassen sich in einer Zeit, wo kulturelle Referenzen immer universeller werden, überhaupt noch Unterschiede feststellen (abgesehen von der unterschiedlichen Anordnung der Buchstaben z und y auf der Tastatur)?

YENZ: Für mich sind auf jeden Fall sehr starke Unterschiede zwischen den Kulturen da. Sehr unterschiedlich ist auch die Herangehensweise ans Internet in den verschiedenen Ländern. Ich merke das auch immer hier in Italien. Im italienischen Webdesign hat die visuelle Aufbereitung einen relativ geringen Stellenwert. Mir scheint es als ginge es hier stets nur darum, dass alles schnell fertig wird und wenig kostet. Die Kunden, mit denen ich zusammenarbeite, legen Wert auf eine höhere Qualität und sind auch bereit, diese zu bezahlen. Die sind in Italien selten zu finden. Die Franzosen sind mir da sehr lieb, da sie das Internet nutzen, um Geschichten zu erzählen und auch kulturelle Werte zu transportieren. Vor allem ist dort auch oft ein kreativer Umgang mit neuen Technologien zu beobachten. In Deutschland geht aber auch einiges im Bereich Internet ab, und deshalb siedle ich jetzt nach Berlin um und sage „ciao Italia“. German touch, French touch, Italian touch … Wichtig ist für mich, dass im Webdesign neue Wege gegangen werden und ein starker direkter Austausch stattfindet. Das Internet ist für mich eine grosse Showbühne, die sich nicht mehr am Territorium festmacht. Wenn man was Cooles macht, muss es halt „Weltklasse“ sein, das ist eine nahezu unmögliche aber umso spannendere Herausforderung.

CHMAN: Es war erstaunlich, wie schnell die Designer sich jeweils zusammengetan haben, um ein kollektives Werk zu schaffen. Wir arbeiten alle mit denselben Werkzeugen und Medien und beziehen uns alle auf Erfahrungen, die mit dem Internet zu tun haben. Auf technischer Ebene hat es keine besonderen Probleme gegeben – abgesehen von den Schwierigkeiten mit den Tastaturen. Und was die Konzepte betrifft: auch da gab’s keine Verständigungsschwierigkeiten. Aber bei der Organisation der Arbeit haben einige amerikanische Designer es sich nicht verkneifen können, gewisse Unterschiede herauszustreichen – sie haben sich über die Franzosen lustig gemacht, die ständig nur diskutieren und deswegen weniger schnell weiterkommen …

TNC: :)
Dirty Ideas with Charm
Next Sex im Internet: electrolobby privilegiert Projekte von Protagonisten der Digital Culture, die über einen hohen Grad an Media Literacy verfügen und sich jenseits wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit auf lustvolle Weise dem diesjährigen Festivalthema widmen. Dazu gehört neben dem Next Sex Web Jam auch ein Ensemble von Projekten mit dem Titel Pixelporno.

PIXELPORNO: Das Konzept von Pixelporno ist: „dirty ideas with charm“. Das „mot d’ordre“ an die Künstler lautet, ihrer Fantasie innerhalb dieser Parameter freien Lauf zu lassen. Pixelporno ist eine Plattform, wo man diese Gefühle auf online-spezifische Weise zum Ausdruck bringen kann. Leidenschaft, Voyeurismus, Lust, Desire und Perversität sind nur einige der Themen, die hier zu finden sein werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt bei aktuellen Problematiken wie Kommunikation, Immaterialität, Confusion, Lügen, Geschlechtsumwandlungen, Manipulation etc. liegen wird ...

TNC: Eines eurer Projekte ist eine netz-basierte Pulp Fiction mit den Popstars des 21. Jahrhunderts – Genes, Memes & Bytes – in voller Aktion …

PIXELPORNO: Genau. Aber vergessen wir nicht die Popstars der vergangenen Jahrhunderte: Dialog, Figuren und Handlung. Versteht uns nicht falsch – es ist großartig, im Netz eine Story zu machen, mit Flash-Animationen, gescannten Primärdokumenten, einem Soundtrack und sonst noch so allerhand. Aber was heute „cyber“ ist, ist längst nicht mehr automatisch cool (Gott sei Dank!). Man muss die Möglichkeiten des Netzes dazu verwenden, eine gute Geschichte noch stärker zum Vibrieren zu bringen, und darf sich nicht auf die Technik verlassen, um den Mangel an Fantasie zu vertuschen.
PIXELPORNO (www.pixelporno.com)
Pixelporno ist ein Ensemble von Projekten rund um voyeuristische Netzwerktechnologie, Sex-Confusion und das Kreuz mit Designer-Babies. Im Zentrum steht eine Netz-Pulp-Fiction mit den Popstars des 21. Jahrhunderts in voller Aktion: Genes, Memes & Bytes. Frei nach dem Konzept „Dirty Ideas With Charm“ wird via Email, das Web sowie SMS eine etwas besondere Festivaldokumentation generiert. Mit Stylo, Steeph1, Wale, Lopetz, u. a.
TNC: Man könnte die Pulp Fiction auch als eine etwas besondere Art von Festivaldokumentation verstehen.

PIXELPORNO: Unsere Pulp Fiction für electrolobby wird im August mit ein paar Episoden beginnen, die ins Web gestellt und per E-Mail verschickt werden und in denen Characters und Storyline eingeführt werden. Während des Festivals selbst wird die Story voll ins Laufen kommen und sich mit den Events und Themen des Ars Electronica Festival vermischen. Es ist schwierig vorauszusagen, was wir alles mit hinein nehmen werden. Aber ich kann mir z. B. vorstellen, dass Aktienspekulation mit menschlicher DNA oder Designer-Babies da gut reinpassen. Es handelt sich auf jeden Fall nicht um eine systematische Dokumentation, sondern eher um eine Story vor dem physischen und intellektuellen Hintergrund des Festivals. So ähnlich wie ein historischer Roman, aber mit glaubwürdigeren Charakteren, stärkeren Dialogen und, wie wir hoffen, pikanteren Einblicken.

TNC: Welche Plattformen verwendet ihr für die Pulp Fiction?

PIXELPORNO: Natürlich wird das Web die primäre Plattform sein, weil dort die komplexesten Kombinationen von Text und Bild möglich sind. Aber es werden auch einfacherer Distributionskanäle zur Anwendung kommen, wie SMS und E-Mail, damit das Leben des Publikums noch stärker von der Story durchdrungen wird. Klarerweise wird man sich anmelden und eine Kontaktadresse angeben müssen, um die ganze Story geliefert zu bekommen. Bitte macht das, Leute! Es wird bestimmt alles andere als langweilig! Und hey, wenn es euch nicht gefällt, könnt ihr ja jederzeit unsubscriben …
„Augmented Sex“ im Mainstream-Familienfilm
Neben den Residents empfängt die electrolobby auch eine Reihe von Guests. Zu ihnen gehört Birgit Richard. Sie hat sich schon im Vorfeld für electrolobby ins Kino gesetzt, um sich den Mainstream-Familienfilm Bicentennial Man von Chris Columbus (www. bicentennialman.com) anzuschauen. Ein männlicher Haushaltroboter kommt in eine Familie, wird über eine Zeitspanne von drei Generationen langsam zum Menschen und verliebt sich schließlich in die Enkelin seiner mittlerweile verstorbenen Besitzer.

RICHARD: Es findet eine Umkehrung des bisher in der Filmgeschichte oft verhandelten Phantasmas der Junggesellenmaschine statt, die Inversion des Motivs des weiblichen Automaten. Die Liebesgeschichte zwischen einem männlichen Roboter und der weiblichen Vertreterin der menschlichen Spezies fügt das Drehbuch hinzu; sie entstammt nicht der zugrunde liegenden Romanvorlage Positronic Man von Isaac Asimov. Die starke Orientierung des Filmes an traditionellen Hollywood-Patterns verlangt den Rahmen der klassischen Liebesgeschichte, um die Thematik einer gegenseitigen Liebe zwischen Mensch und Maschine in Bilder umzusetzen. Die traditionellen Rollen- und Geschlechterrepräsentationen bleiben stabilisierende Faktoren im Hintergrund. Um die brisante Geschichte der ausgeübten Formen von Sexualität zwischen Mensch und Maschine darzustellen und perversen Fantasien der Vereinigung von Frau und Maschine entgegenzuwirken, erhält der Roboter NDR 114 im Laufe des Films ein menschliches Design.

TNC: „Manche Roboter sind nur zum Vergnügen auf der Welt“, heißt es auf der Columbia Tristar Website.

RICHARD: In diesem Film symbolisiert der Roboter den Wunsch, bis ins hohe Alter eine potente Sexualität ausführen zu können. Der hightechverstärkte, tod- und alterslose Roboter hat mehrere Generationen miterlebt, bevor er sich in die Enkelin Portia verliebt. Hier wird ein Modell von „augmented sex“ vorgeführt, der vor allem für den männlichen Roboter als erfüllend dargestellt wird.

TNC: Zu einem gewissen Zeitpunkt stellt sich im Film die Frage der Fortpflanzung.

RICHARD: Der Android verlangt nicht, wie z. B. bei Frankenstein, die Herstellung eines künstlichen Wesens der gleichen Gattung, was ihm gerade aus Gründen einer möglichen Reproduktion und der Gefahr der Entstehung einer neuen Spezies neben dem Menschen versagt wird, sondern wendet sich direkt dem menschlichen Geschlecht zu, passt sich diesem an und findet dort die Gefährtin. Daneben hat er eine gemischte Maschinen- und Mensch-Biografie, bezieht ein eigenes Haus, reist und erhält die Berechtigung zur Heirat von Portia. Es gibt aber keinen Nachwuchs, der die Fortdauer des Experiments sichert. Andrew bekommt den Vorgang der menschlichen Reproduktion zwar erklärt, sie bleibt ihm jedoch versagt. Der Versuch der Darstellung der Reproduktion wäre ein Tabubruch. Die einzig mögliche Reproduktion auf bio- oder gentechnologischem Weg würde eine Generationsfolge von Hybridwesen und damit deren Kontinuität und Ewigkeit implizieren. Damit macht der Film auch eine Aussage gegen Gentechnologie und die menschlichen Ewigkeitsfantasien.
Experimental Entertainment – Hype out the Hype!
Die von etoy virtuos orchestrierte Toywar-Kampagne ist eingeschrieben in eine Informationsökonomie, in der sich die Orientierung an Instant-Informationen, Überraschungen, Storys und Trends zunehmend durchsetzt. Es gewinnt, wer sich mit den Trends arrangiert und die Story dreht. electrolobby-Rating: Meilenstein.

agent.NASDAQ: Das lauthals verkündete Kampagnenziel, den Börsenkurs von eToys auf Null zu fahren, gehört wie die Toywar-Plattform und das virtuelle Sit-in zur Übertreibungskunst der Kampagne. Der Gegner, der ja nur auf eine Webadresse aus war, wurde mit existenzbedrohenden Maßlosigkeiten umstellt, auf die seine bescheidene Logik keine Antwort fand. Umgekehrt gab der fallende Börsenkurs der Kampagne einen gewaltigen Auftrieb, weil die Aktivisten den Kurssturz als Eigenleistung interpretierten. Hinter der Börsenstrategie stand ein nüchternes Kalkül. Die Börsen feierten historische Höchststände, viel Spielraum nach oben konnte es kaum geben. Die Kampagne selbst konnte Investoren veranlassen, Optionen auf fallende Kurse aufzunehmen, was den Abwärtstrend verschärfen würde. Genauso kam es.

etoy.GRAMAZIO: Innerhalb von zwei Monaten fielen die eToys Inc.-Aktien (NASDAQ: ETYS) von 67$ (an dem Tag, an dem die Auseinandersetzung begann) auf 15$ (an dem Tag, an dem eToys Inc. schließlich nachgab). Mit einem Schaden von mehr als sechs Mrd. $ war TOYWAR die teuerste Performance der Kunstgeschichte! Ein glorreicher Sieg für die etoy.CORPORATION, welche die Aktivisten mit etoy.SHARES entschädigte: im März 2000 wurden so Hunderte tapferer TOY.soldiers zu etoy. CO-OWNERS mit Stimmrecht.

TNC: Mit den etoy.SHARES habt ihr schon vor Toywar ein neues Beteiligungsmodell lanciert. Details zum etoy.BUSINESSPLAN?

etoy.ZAI: Die etoy.CORPORATION wird nie Produkte verkaufen. etoy verkauft sich selbst: Alle auf dem Markt verfügbaren etoy.SHARE-UNITS entsprechen 100 Prozent des etoy.BRAND-VALUE und stellen das etoy.GESAMTKUNSTWERK dar (Summe der Aktien im Umlauf: 640.000 etoy.SHARE-UNITS). etoy.SHARE-CERTIFICATES und etoy.SHARE-CARDS garantieren die strenge Limitation der etoy.SHARES und dienen als Eigentumsnachweis. So wird der Kunstsammler zum Investor und Mitbesitzer eines Kunstunternehmens, das kulturellen Wert erzeugt und vermehrt.

etoy.GRAMAZIO: Alle etoy.PRODUCTIONS seit 1998, wie etwa die etoy.CARGO-TANKCONSTRUCTION, wurden von den etoy.SHAREHOLDERS finanziert, die Teile der etoy.CORPORATION erwarben. Es war spannend zu beobachten, wie stark das Marktvertrauen im Zuge dieses harten Toywar-Fights anwuchs. Während viele altmodische net.artists vorschlugen, „das Geld von eToys zu nehmen und 50 Prozent für eine bessere Welt zu spenden“ („Kämpft nicht! Eine Niederlage ist ein schlechtes Beispiel für die kommende Generation!"), erkannten Venture-Kapitalisten, Aktivisten und Avantgarde-Kunstsammler den Wert dieses High-Risk-Venture. Sie wussten, dass (im Falle eines etoy-Sieges) die Auswirkungen und die ganze Story selbst mehr als 500.000 Dollar wert sein würden. Daher investierten sie im Laufe von drei Monaten mehr als $ 50.000 cash in die Bezahlung von Anwälten, PR und Infrastruktur sowie Tausende Dollar in reine Arbeitsstunden. Die Investoren wurden Teil einer Transaktion, in der die Grenzen zwischen ART, BRANDING, FINANCIAL INVESTMENT und PUNK verwischt wurden. Das etoy.CONCEPT, demzufolge man sich vom physischen Kunstobjekt weg – und zum Bereich der Partizipation hinbewegt, hat super funktioniert. etoy konnte die Standards wieder neu definieren. Und die etoy.SHARES wurden Bestandteil der KUNSTGESCHICHTE … niemand investiert mit der Absicht, Geld zu verlieren!

TNC: etoy wurde ja von eToys nicht nur wegen „terrorist activity“ und „pornographic content", sondern auch wegen „illegal stock market operation“ verklagt.

etoy.ZAI: etoy, spezialisiert auf surreale Inkubationen, kulturelle Viren und Impact Management und dafür auch schon ausgezeichnet, beschloss zurückzuschlagen und machte den Fall zu einem TOY HARBOR des E-Commerce: Zwischen November 1999 und Februar 2000 wurden 1798 Aktivisten, Künstler, Juristen, Prominente und Journalisten ausgewählt und für eine Spielzeugarmee rekrutiert. TOYWAR funktionierte wie ein Bienenschwarm. Hunderte gut informierte Menschen und Medienexperten boten dem Aggressor auf jeder Ebene Paroli (brachten bei Gericht Gegenklagen ein, infiltrierten Kundendienst, PR-Abteilungen, die Presse, Investor-Newsgroups und waren auch auf der Ebene der Federal Trade Commission aktiv etc.). Mehr als 300 Artikel (New York Times, Wall Street Journal, Le Monde, CNN) berichteten über die Story und 250 Resistance-Sites und Net-Shelters wurden eingerichtet
ETOY (www.toywar.com, www.etoy.com)
Das von etoy orchestrierte Toy Harbor des E-Commerce im Spielzeugkrieg gegen eToys hat die erfolgreiche Vernetzung der wichtigsten Szenen, die das Internet im Lauf der 90er-Jahre hervorgebracht hat, vorgeführt. etoy schlägt aber auch Brücken zwischen Business- und Consumer-Culture, zwischen Gut und Böse, Macht und Subversion und zeigt, dass experimentelles Entertainment nicht nur unglaublich frech und witzig sein kann, sondern auch ein sicherer Wert für Investoren. Mit etoy.ZAI (CEO), etoy.GRAMAZIO (President) und agent.NASDAQ aka Reinhold Grether
TNC: Auf der Suche nach Begriffen zur Umschreibung der etoy-Aktivität taucht zum Beispiel jener des „Experimental Entertainment“ auf. In diesem Kontext interessant war die Frage eines verwirrten Users, wie denn Toywar zu spielen sei. Inwiefern war gerade die scheinbare Unspielbarkeit Absicht?

agent.NASDAQ: Wo spielt ein Konflikt? Im Kopf des Gegners. Alles, was dazu beiträgt, das Vorstellungsvermögen der Gegenseite zu infiltrieren, zu besetzen und zu strapazieren, es womöglich aus Positionen der Selbstgewissheit, Rationalität und Ruhe in Zonen des Ungewissen, Unheimlichen und Unbewältigbaren zu versetzen, demonstriert einen Zugewinn an Handlungsmacht und verschiebt die Gewichte in Richtung eigener Überlegenheit. Das Management von eToys wurde mit einer solchen Fülle inkompatibler Logiken konfrontiert, dass sein Vorstellungsvermögen bis ins Absurde getrieben wurde und es immer mehr Zeit an den Konflikt verlor. Die Toywar-Plattform war in dieser Hinsicht optimal. Da bildete sich über Tage eine riesige Linie aus Avatarkämpfern, denen man zwar ansehen konnte, dass sie zu etwas im Stande wären, aber nicht zu was. Dann verteilten sie sich auf zwölf weltweite Schlachtfelder, wo sie Waffen vorfanden, benutzten und selbst entwickelten. Auf jeden eToys-Beschäftigten kamen drei Toywar-Krieger. Wo sollte das alles hinführen? Toywars funktionale Aufgabe war der Stellungskrieg. Da hat es sich hervorragend bewährt. Was es in der Offensive geleistet hätte, wissen wir nicht. Insofern ist die Unspielbarkeit von Toywar ein Mythos. Wer von Unspielbarkeit spricht, bezeichnet im Grunde etoy’s Weigerung, die Große Oper eines traditionellen Politszenarios aufzuführen. Toywar war die virtuelle Darstellung des Konflikts in all seiner Absurdität und Surrealität. Müssen das nicht ausgemachte Kindsköpfe sein, die sich wochenlang um eine winzige Bitsequenz streiten?

TNC: Was stand beim Konflikt letztlich wirklich auf dem Spiel?

agent.NASDAQ: Zunächst eine Verschiebung der Internet-Codes in Richtung einer flachen Virtualität. Die Adressen des E-Commerce wären zum Beherrscher des Adressraums des Internet geworden. Sie hätten x-beliebige semantische Felder um ihre Unternehmen herum gelegt und alle darin liegenden Netzadressen unter ihre Fittiche gebracht. Das Netz wäre auf die Linie des E-Commerce gebracht worden und die ihm widersprechenden komplexen Logiken personaler, alternativer, künstlerischer, politischer und sozialer Vernetzung, Kulturbildung und Globalisierung wären ohne Aussicht auf Eingriffe in den symbolischen Reproduktionsprozess der Weltgesellschaft und damit ohne Optionen auf Weltkulturkapitalbildung an den Rand gedrängt worden.

TNC: Welche Schlüsse lassen sich aus der Toywar-Erfahrung ziehen? Inwiefern sind die im Toywar angewandten Strategien auch in anderen Kontexten brauchbar – Stichwort Leonardo?

agent.NASDAQ: Der Grundgedanke der Kampagne war, „to hype out the hype“. Eine aufgeblasene Webseite wurde durch eine noch aufgeblasenere Kampagne zum Platzen gebracht. Dass das geht, wissen nun alle. Zu Übermut besteht jedoch kein Anlass. Mobilisierungen in solchem Ausmaß sind selten, und die Gegenseite wird sich in vielen Fällen mit einer intelligenteren Strategie durchsetzen können. Der Fall Leonardo liegt ganz anders. Kaum ein Element der etoy-Kampagne ist hier brauchbar.
(siehe auch: Reinhold Grether: „Wie die etoy-Kampagne geführt wurde“, www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/5768/1.html)
My Name Is Leonardo: Sue Me
LEONARDO: Unser Fall unterscheidet sich vom Fall etoy/eToys und den Auseinandersetzungen rund um Domain-Namen, da es sich in erster Linie um eine Klage wegen Markenpiraterie handelt, die Domain-Namen von Leonardo und Leonardo Finance sind ja verschieden. Unser Fall ist im Grunde ein Krieg, der sich um die Entwicklung des Internet und die net. economy dreht und bei weitem nicht nur uns, sondern die Gesamtheit der künstlerischen und nicht profitorientierten Community betrifft. Hier geht es darum, dass sich eine Firma das Exklusivrecht auf ein Wort, das sich in jedem Wörterbuch findet, sichern will. Stellen wir uns vor, dass es zum Beispiel amazon.com jedem anderen untersagt, den Begriff „Amazone“ im Internet zu verwenden! Genau darum geht es in unserem Fall. Im physischen Raum können Unternehmen und Organisationen den gleichen Namen verwenden, solange sie in unterschiedlichen Geschäftsbereichen tätig sind. Im Internet – das ja ein semantischer Raum ist – soll dieses Recht nicht gelten, wie der Prozess zeigt, den Transasia gegen uns anstrengt.
LEONARDO (http://mitpress.mit.edu/e-journals/Leonardo/)
Das seit mehr als 30 Jahren existierende Kunst- und Wissenschaftsnetzwerk Leonardo (das u. a. eine vom MIT herausgegebene akademische Zeitschrift publiziert) wurde von einem französischen Finanzunternehmen (Transasia) wegen Markennamensverletzung auf über eine Million Dollar Schadenersatz verklagt. Anders als im etoy/eToys-Streit geht es hier nicht um einen Domainnamen, sondern um das generelle Verbot der Verwendung des Namens Leonardo in einer Publikation oder auf einer Website. Auch hier mobilisiert sich die Community – allerdings nicht mit Internet-Aktionismus à la Toywar.
TNC: Ist der Fall Leonardo der Clash von zwei Kulturen?

LEONARDO: Wenn sich heute eine net.economy entwickeln kann, dann deswegen, weil es ein Internet, ein Web gibt! Diejenigen, die es erfunden haben, die die Werkzeuge, den Raum, die Kommunikationsformen usw. dafür entwickelt haben, sind Wissenschaftler und Künstler, die immer in einem nicht kommerziellen, in einem Non-Profit-Bereich gearbeitet haben. Durch Vorgangsweisen wie in unserem Fall wird das, was die „Ureinwohner“ des Netzes geschaffen haben, negiert und lächerlich gemacht. Jetzt kommen die Kolonisten, die Natives haben kein Recht auf freie Meinungsäußerung mehr, ja, sie haben nicht einmal das Recht zu existieren – es sei denn, sie unterwerfen sich den Bedingungen der Eroberer. Ursprünglich basiert das Netz auf einer Kultur des Teilens, des Austauschs, des gegenseitigen Respekts, auf einem Recht, das nicht festgeschrieben, sondern durch Konsens entstanden ist. Die Entwicklung einer kommerziellen Wirtschaft im Internet wird deswegen mit aller Gewalt vorangetrieben, weil die Beute so verlockend erscheint: Jene, die es schaffen, die ersten Plätze zu besetzen, können sich das größte Stück des Kuchens sichern (der Goldrausch ist eine Analogie, die in diesem Kontext tatsächlich sehr stimmig ist). Die Unternehmen verfügen über keine „Netz-Kultur“ – die interessiert sie überhaupt nicht. Sie übertragen die brutalen, aggressiven Methoden der physischen Welt auf den Cyberspace, ohne zu verstehen (oder ohne verstehen zu wollen), dass für diesen Raum andere Regeln erfunden werden müssen. Alles, was der ökonomischen Eroberung im Weg steht, wird weggewischt. Etwas wie Leonardo ist da nur eine Fliege, die man erschlagen kann, ohne sich irgendwelche Fragen stellen zu müssen – und das ist umso leichter, als wir in der physischen Welt ja nur eine kleine „kulturelle, Non-Profit-Vereinigung“ sind, auch wenn wir in Wirklichkeit in ein internationales Netz eingebunden sind, das innerhalb weniger Stunden mobilisiert werden kann.

TNC: Wie organisiert ihr eure Verteidigung? Inwiefern unterstützt euch die Community?

LEONARDO: Vom ersten Pressekommuniqué an haben sowohl die Kreise um Leonardo als auch die Internet-Community spontan ihre Hilfe angeboten. Uns ging es immer darum, mit allen Aktionen im legalen Rahmen zu bleiben. So haben wir u. a. folgende Aktionen gestartet: Auf der Website von Leonardo On Line haben wir Informationen bereitgestellt und eine Petition in der Leonardo-Community lanciert; ein Unterstützungskomitee unter der Leitung der Künstlerin Karen O’Rourke sammelt Unterstützungsschreiben. Außerdem: Unterstützung von RTMark und IRIS („Imaginons un Internet Solidaire“, www.iris.sgdg.org/actions/leonardo), das eine Petition verfasst hat (bei jeder neuen Unterschrift wird das Protestschreiben an die Verantwortlichen von Transasia geschickt); des weiteren ein „Unterstützungsbanner“- Wettbewerb, den Miklos Legrady organisiert (www.c3.hu/~itmiklos/leonardo/ nav.html); ein Webring, ein Wettbewerb zur Referenzierung jener Webseiten in den Suchmaschinen, die das Wort „Leonardo“ enthalten, sowie die Klonierung der Website von Leonardo Finance.

TNC: Unterstützung kam ja auch von ganz unerwarteter Seite …

LEONARDO: Und wie. Ein Schafzüchter in den USA beschloss, ein neugeborenes Lamm „Leonardo“ zu nennen und auf seiner Website über den Fall zu berichten (www.rockhousefarm.com/rockleon.htm). Im Moment (Sommer 2000) nimmt das Gerichtsverfahren seinen Lauf. Das Problem, mit dem wir jetzt konfrontiert sind, ist die Dauer des Konflikts und die Bandbreite der Aktionen, die wir setzen müssen. Einerseits scheint es unmöglich zu sein, die Internet-Community über längere Zeit hinweg auf einem hohen Aktivitätsniveau zu halten. Andererseits kann dies vollkommen kontraproduktiv sein: Wir haben nicht vor, täglich unsere Mails an Transasia zu schicken. Wir müssen also erfinderisch sein und uns ständig neue Aktionen einfallen lassen.
Rules, what Rules?
Ein ungewöhnliches Test-Environment für die eingangs erwähnten Strategien und strategischen Experimente, Allianzen und Arrangements liefert das Online-Multiuser-Game SiSSYFiGHT 2000. Spielen Sissy Fighters miteinander oder gegeneinander? Was steht im Vordergrund: Kooperation oder Wettbewerb – oder beides?

ZIMMERMAN: Das ist eine sehr gute Frage. Man kann Spiele auf verschiedene Arten sehen, z. B. als Konfliktmodelle. Normalerweise sind die Konflikte, die in Spielen modellhaft dargestellt werden, militärischer (Schach, Quake) oder wirtschaftlicher (Poker, Sim City) Natur. SiSSYFiGHT 2000 reflektiert mein Interesse am Nachstellen gesellschaftlicher und kultureller Konflikte. Es stimmt schon, dass es bei Spielen von Natur aus um Konflikte und Wettbewerb geht, aber es geht auch von Natur aus um Kooperation. Die Mitspieler eines Spiels vereinbaren, miteinander zu spielen und die Spielregeln einzuhalten. Erfolgreiche Spiele erzeugen einen produktiven Konflikt. SiSSYFiGHT ist so konzipiert, dass die Spieler gleichzeitig miteinander und gegeneinander arbeiten müssen. Man kann in diesem Spiel nicht wirklich viel im Alleingang machen: man kann seine Gegner nur mit Hilfe der anderen Spieler ausschalten. Andererseits darf man den anderen Spielern nicht wirklich vertrauen, da sie einem jederzeit in den Rücken fallen können. Wenn es gelingt, sich im Laufe des Spiels mit jemandem anzufreunden, so kann man das Spiel zu zweit gewinnen, denn zwei Girls können auch zusammen das Spiel gewinnen. Generell haben wir versucht, ein System zu entwerfen, das perverse und unerwartete soziale Beziehungen entstehen lässt.

TNC: Warum spielt SiSSYFiGHT in einer derart bösen Kinderwelt?

ZIMMERMAN: Inhalt und Gameplay von SiSSYFiGHT folgen meinem Wunsch nach Innovation im Game-Bereich. Außerdem interessiere ich mich für Gewalt und Perversität in Kinderspielen. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Spiel aufzuziehen; die moderne Gesellschaft tendiert dazu, das Spiel als eine Aktivität für Kinder zu sehen, die Kinder durch Unterdrückung ihrer sexuellen und gewalttägigen Tendenzen und durch soziale, kognitive und moralische Erziehung zu besseren Staatsbürgern machen soll. Aber es gibt auch andere Spielmodelle: Ich stelle mir das Spielen gerne als Unfug, Transgression oder Subversion vor. Ich glaube, das merkt man auch bei SiSSYFiGHT.

TNC: Geht es bei SiSSYFiGHT 2000 um Gender Surfing oder ist es ein Unisex-Spiel?

ZIMMERMAN: Mir gefällt es, dass SiSSYFiGHT 2000 allen Spielern weibliche Rollen zuteilt, im Gegensatz zu den meisten digitalen Spielen, wo der Spieler eine männliche Rolle zugewiesen bekommt. Wie dem auch sei, die hässlichen, kleinen Gören von SiSSYFiGHT sind meilenweit von den übersexualisierten Lara Crofts der Game- Industrie entfernt. Dennoch spielt das Geschlecht im Spielablauf eine gewisse Rolle – wenn sich Mädchen z. B. als Jungen „outen", werden sie oft von den anderen SpielerInnen aus dem Spiel gedrängt. Über die Avatar-Creation-Tools, die wir für dieses Spiel entwickelt haben, können die Mitspieler für das Spiel eine Hautfarbe auswählen – und gelegentlich können so in einem Spiel auch rassenpolitische Momente zum Ausbruch kommen. Meiner Ansicht nach ist all das der Zündstoff, der für einen sinnvollen Spielkonflikt zwischen den Spielerinnen und Spielern sorgt.

TNC: Inwiefern hat deine Netz-Praxis Konzept und Design von SiSSYFiGHT beeinflusst?

ZIMMERMAN: Bei Design geht es um Problemlösung und die Technologie ist einer der Parameter, über den sich Probleme beim Spiele-Design definieren lassen. SiSSYFiGHT setzt große Stücke auf die Kommunikationskapazität des Netzes, um so ein Spiel zu liefern, in dem die rein strategischen Elemente sich letztendlich nicht von der gesellschaftlichen Strategie unterscheiden lassen, weil die beiden so eng verflochten sind. Durch die Anwendung eines sozialen Gameplay haben wir den Chat aktiviert. Zusätzlich zur Erfahrung mit jedem einzelnen Spiel haben wir mit Hilfe des Netzes auch eine starke Community rund um das Spiel aufgebaut.

TNC: Mit ziemlichem Erfolg ...

ZIMMERMAN: Ja. Rund um das Spiel ist eine unglaubliche Community entstanden. Es gibt mehrere Fan-Sites, die größte davon ist sissyfightnews.com. Die Site enthält tief greifende strategische Analysen, Klatschspalten, Fan-Kunst und ausführliche Interviews mit den besten Spielern. Die Interviews finden tatsächlich während des Spiels statt und die Reporter von sissyfightnews machen Screenshots von den Konversationen der Avatars, die sie in Comic-Form auf ihrer Site veröffentlichen.
SISSY FIGHT 2000 (www.sissyfight.com)
SiSSYFiGHT 2000 ist ein Online-Multiuser-Game, das in seiner Mischung aus Wettbewerb und Kooperation auf hintergründige und ausgesprochen unterhaltsame Weise die Frage nach den Erfolg versprechendsten Strategien im Zeitalter der Evolutionsbiologie stellt. Eric Zimmerman, Designer des Spiels für Word.com und Organisator von RE:PLAY, einer Konferenz über Game-Culture, verrät im Rahmen eines mehrtägigen SiSSYFiGHT-Contest, mit welchen Taktiken man am schnellsten totale soziale Dominanz erreicht.
TNC: SiSSYFiGHT stellt eine Vielzahl ästhetischer Bezüge her, etwa zum japanischen Anime, zu frühen 16-Bit-Konsolen-Spielen aber auch zur Art und Weise, wie sich der Outsider-Künstler Henry Darger das Motiv der „little girls“ der Jahrhundertwende angeeignet hat.

ZIMMERMAN: Ich möchte den Game-Bereich zu einem anspruchsvollen pop-kulturellen Medium machen – nicht unbedingt im Sinne der „hohen Kunst", sondern auf die Art und Weise, wie z. B. elektronische Musik zu einer anspruchsvollen, mächtigen Form kultureller Produktion geworden ist.

TNC: Du bist der Direktor von RE:PLAY, einem Multi-Part-Event, bei dem Designer und Theoretiker zusammenkommen,um über Game-Design und -Kultur zu diskutieren.

ZIMMERMAN: Im Unterschied zu anderen Design-Bereichen, wie Architektur und Grafikdesign, fehlt im Game-Design der kritische Diskurs als Brücke zwischen Theorie und Praxis. Dabei würde das den Designern helfen, Games als kulturelle Objekte zu begreifen, und Theoretiker würden leichter verstehen, wie Entwickler die Kreation ihrer Spiele konzeptualisieren. Auf akademischer Seite wird den Game-Spielern zu sehr „über die Schulter geschaut“. Und auf der Seite der Industrie ist das gesamte Medium kulturell verarmt. RE:PLAY zielt darauf ab, sich all diesen Herausforderungen zu stellen.
Human Genome goes Napster
Eines der zentralen Anliegen, die wir mit TNC Network seit 1995 verfolgen, ist es, Settings zu generieren, in denen das Netz in seiner Funktion als Katalysator unkonventioneller Beeinflussungen über Disziplinen hinweg genutzt und inszeniert wird – das Konzept (und natürlich der Name) der electrolobby ist dementsprechend gedacht. Ein instruktives Beispiel solcher Beeinflussungen ist das Projekt von Lincoln Stein, der als Bioinformatiker am Human Genome Project mitarbeitet. Auch er interessiert sich für Napster, Gnutella und Freenet …

STEIN: Das Genom-Projekt ist ein umfangreiches, distribuiertes Forschungsprojekt, an dem Zehntausende einzelne Forschungslabors teilnehmen. Jedes Labor generiert biologische Assertionen, „Annotationen“ genannt, die Hinweise auf Struktur und Funktion der ca. 100.000 Gene geben, die die rund 3.000.000.000 Basenpaare der menschlichen DNA bilden. Leider werden die von den Labors generierten Annotationen in eine Handvoll zentralisierter Datenbanken eingespeist, für die sich dadurch Probleme bei der Skalierbarkeit der Daten ergeben. Viele dieser Daten werden nicht elektronisch publiziert, weil kein entsprechendes Outlet vorhanden ist. Sie enden in Papierform in diversen Journalen und gehen somit für die elektronische Suche oder Abfrage verloren. Ich finde die Peer-to-Peer-Architektur von Napster interessant, weil man dadurch vielleicht in der Lage ist, einen Teil der mit diesem Informationstransfer verbundenen Belastung auf ein verteiltes Netzwerk auszulagern.

TNC: Gnutella oder Freenet wären dazu noch besser geeignet.

STEIN: Nun, Napster hat nach wie vor ein zentrales Verzeichnis-Service, was zu Stausituationen führen kann. Gnutella und Freenet bieten beide die Möglichkeit, Verzeichnis- Informationen auf mehrere Maschinen aufzuteilen. Der Nachteil von allen drei Systemen – Napster, Gnutella und Freenet – ist, dass der Indexierung der mit der Information assoziierten Meta-Daten wenig Beachtung geschenkt wird. Genom-Daten sind hochstrukturiert, jedoch gleichzeitig von großer Selbstähnlichkeit. Ad-hoc-Ansätze wie Titelsuche und Dokument-„Schlüsselwörter“ sind für Genom-Daten ungeeignet. Daher fasziniert mich eher die Vorstellung eines verteilten Informationssystems, nicht so sehr dessen spezifische Implementierung.
DISTRIBUTED ANNOTATION SYSTEM
(http://stein.cshl.org/das, http://www.wormbase.org)
Der am Human Genome Project arbeitende Bioinformatiker Lincoln Stein hat ausgehend von der kontroversen Napster-Software (sowie den Folgeprodukten Gnutella und Freenet) ein Programm zur Publikation von Genom-Daten entwickelt, das Distributed Annotation System. Das System erfasst zur Zeit 50.000 menschliche Gene, 19.000 Wurmgene und 40.000 Maismutanten. Ein Beispiel für die Rolle des Internet als Katalysator unkonventioneller Allianzen.
TNC: Auf Basis der Napster/Gnutella-Technologie hast du bereits deine eigene Software entwickelt, das Distributed Annotation System.

STEIN: Ja. Dieses System bietet die Möglichkeit, Genom-Daten von multiplen Servern aus zu veröffentlichen, Daten zu durchsuchen und sie in eine einzige bild- oder textbasierte Ansicht zu integrieren. Obwohl es nicht hundertprozentig dem Peer-to-Peer- Ansatz entspricht, kommt eine unkonventionelle Single Client/Multiple Server-Architektur zur Anwendung. Wir haben so 100.000 nukleotide Varianten des menschlichen Genoms, 50.000 menschliche Gene, 19.000Wurmgene und 40.000 Maismutanten veröffentlicht. Bisher scheint das System stabil zu sein, aber man darf gespannt sein, was passiert, wenn es erst einmal das gesamte menschliche Genom fassen muss.

TNC: Napster/Gnutella/Freenet sind relativ kontrovers, weil sie eine nahezu unkontrollierbare Many-to- Many-Architektur zulassen. Welche Implikationen ergeben sich daraus für ein Unterfangen wie das Human Genome Project?

STEIN: Für den Besitz wissenschaftlicher Daten sind Verantwortlichkeit und Integrität absolute Grundvoraussetzungen. In einem verteilten Genom-Annotationsprojekt müsste jede Assertion mit einem öffentlichen Schlüsselwort oder einem ähnlichen Mechanismus signiert und datiert sein.
The Sherpas of the Internet
Ein Resultat der kommerziellen Portalisierung des Web ist die Uniformisierung und Standardisierung nicht nur der grafischen Oberflächen, sondern auch des Informationsangebots. Memepool, initiiert von Joshua Schachter, hat den Anspruch, die Garantie der Vielfalt zum zentralen Aspekt einer webspezifischen Informationsökologie zu machen.

SCHACHTER: Wir sind die Sherpas des Internet. Wir wissen, wie man spezifische Destinationen findet, von denen andere nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Es gibt ja diese schöne Definition, wonach ein „Idiot“ jemand ist, der ein Lexikon zur Hand nimmt, um einen Begriff nachzuschlagen, und es dann wieder weglegt, sobald er den entsprechenden Eintrag gelesen hat … ,

TNC: Weshalb sollten wir uns beim Zusammentragen und Organisieren von Information auf Menschen verlassen, wo es doch so viele potente Suchmaschinen gibt?

SCHACHTER: Memepool will keine Suchmaschine sein. Statt dessen soll die Leserschaft täglich mit etwas Neuem und Interessantem konfrontiert werden. Eine Suchmaschine hingegen dient dazu, den Kunden anhand einiger Suchbegriffe direkt zu einer Website zu führen. Die Reihung der angezeigten Links erfolgt nach einem Bewertungssystem, das kaum je mit der „Interessantheit“ der jeweiligen Website zu tun hat. Abgesehen davon gibt es ja schon fast keine reinen Suchmaschinen mehr – alle wollen sie einem etwas verkaufen; etwas, das unter Umständen mit der Suche in Zusammenhang steht, aller Wahrscheinlichkeit nach aber nur peripher, wenn überhaupt. Man braucht sich nur Yahoo anzuschauen – kein Mensch weiß, ob die ihre Links überhaupt noch aktualisieren! Die haben tausend andere Geschäfte laufen.

TNC: Ein Projekt wie Memepool bietet die Möglichkeit, das Netz auch abseits der Mainstream-Angebote zu erforschen.

SCHACHTER: Das ist eine Frage der Evolution. Die großen Firmen haben hier eine Umgebung vorgefunden, an die sie sich anpassen können, und je größer das Web wird, um so stärker dominieren Inhalte dieser Art. So werden die „Trampelpfade“ im Handumdrehen zu 16-spurigen Superhighways, gesäumt von Mini-Shoppingzentren, Franchise-Restaurants und Plakatwänden. Nachdem die Community finanziellen Interessen weichen musste, steht die breite Öffentlichkeit nun lediglich am anderen Ende einer Transaktion und ist nicht mehr Gesprächsteilnehmer, so wie früher.

TNC: Dennoch gibt es einige Anzeichen dafür, dass sich diese Situation verändern könnte.

SCHACHTER: Derzeit besteht die große, alles vereinnahmende Veränderung in der Personifizierung und Personalisierung jeder Site – Community zur Steigerung des Zusammenhalts. Meiner Ansicht nach werden wir bald das Gegenteil beobachten können – Communities, die Websites generieren, die einzig und allein ihren Interessen dienen und wo der Kommerz nur zweitrangig ist, im Gegensatz zum derzeitigen Modell, wo irgendeine Firma eine Community ins Leben ruft, um sie als Werbezielscheibe zu benutzen und ihr etwas zu verkaufen. Meiner Ansicht nach werden sich Computer mit dem Fortschritt der Drahtlos-Technik immer mehr zu Informationsquellen in einem vernetzten Web entwickeln und so von Tools zu kompletten Endpunkten und Kommunikationsmittlern werden. In dem Maß, wie Mobiltelefone vermehrt zum technologischen Äquivalent mentaler Telepathie werden – jederzeit überall mit jeder und jedem telefonieren –, wird vom Computer bearbeitete Information als weiterer Konversationsteilnehmer auf den Plan treten.

TNC: Memepool ist ein kollaboratives, verteiltes Filter-Tool und wird von „approved contributors“ aktualisiert. Wer sind diese Leute? Wie werden sie ausgewählt?

SCHACHTER: Derzeit gibt es ca. 100 Mitwirkende, die unterschiedlich aktiv sind und eine bunt zusammengewürfelte Gruppe bilden – Autoren, Juristen, Programmierer, Journalisten, Hausfrauen, Sex-Workers usw. Weil ich generell niemanden zur Mitwirkung auffordere, sondern einfach auf Angebote warte, selektiert sich die Gruppe quasi von selbst.
MEMEPOOL (www.memepool.com)
Als erfrischende Nischenstrategie angesichts der kommerziellen Portalisierung und Uniformisierung des Web erlebt zur Zeit mit dem Weblogging eine Urform des Online-Publishing ein erstaunliches Revival. Memepool, initiiert von Joshua Schachter, ist eines der profiliertesten Beispiele dieser neuen Generation des kollaborativen Datenfilterns, wo die Garantie der Vielfalt zum zentralen Aspekt einer webspezifischen Informationsökologie wird.
TNC: Gibt es auch so etwas wie einen Memepool-Effekt, der die Zugriffe auf Sites, die auf euren Seiten gelinkt werden, in die Höhe treibt?

SCHACHTER: Das klingt mir eher nach dem Slashdot-Effekt. Der Memepool-Effekt funktioniert ziemlich anders. Manchmal, wenn wir zu einer Site linken, besonders zu schlüpfrigen Inhalten oder sonstigen Tabus, bemerken die Administratoren der besagten Site den Anstieg der Zugriffe und nehmen die Site vom Netz. Somit wird die Site zwar auch lahmgelegt, aber von innen (vom Administrator) und nicht von außen (durch die Zugriffe).

TNC: Viele Journalisten, die für Offline-Mainstream-Medien tätig sind, werfen Sites wie Memepool vor, lediglich Links zu sammeln. Gleichzeitig leben manche von ihnen aber sehr gut davon, diese Links ihrerseits zu featuren – meistens ohne entsprechende Quellenangabe.

SCHACHTER: Wie jede weit verbreitete Information bewegen sich gute URLs in eine ganze Reihe von Richtungen gleichzeitig. Memepool ist sowohl Destination als auch Source, und weil die Leute dazu neigen, bis zur ersten Informationsquelle zurückzugehen, haben wir früher Zugang zu Links und können sie früher verbreiten. Wenn ich sehe, wie andere Sites Memepool einfach kopieren, stimmt mich das manchmal traurig, aber ich glaube, bei einem Namen wie Memepool und allem, was er impliziert, sollte ich mich darüber nicht zu sehr beschweren. Dawkins’ Memepool besteht aus allen auch nur irgendwie übertragbaren Ideen – und hier haben wir eine interessante Teilmenge von Memen in Form von URLs.
Donation-Ware
Domainnamen, Markennamen, Logos, aber auch Icons sind die heiligen Kühe im Werben um Aufmerksamkeit und sofortige Erkennbarkeit in der Top Level Domain des Lebens. Seit über vier Jahren arbeiten Pixel-Addicts aus aller Welt an einem Netz-Projekt rund um Icons. Worum geht es?

BE: Um es ganz kurz zu sagen: Es geht darum, eine Stadt zu bauen. Und eigentlich war es das schon ;-) Alles andere ergibt sich aus der Kommunikation um das Haus, um das Grundstück, um die Bauvorschriften, um die Nachbarn etc.

TNC: Mitte der 90er-Jahre schossen Digital Cities wie Pilze aus dem Boden, die meisten sind seither wieder eingegangen. Und da gibt es mit Icontown ein Community- Projekt, das seit vier Jahren kontinuierlich wächst. Was ist das Geheimnis der Langlebigkeit von Icontown?

BE: Was Icontown verspricht, kann es auch halten. Du bist hier der Hauptdarsteller, du baust die Stadt.
ICONTOWN (www.icontown.de)
Während die Mehrzahl der einst florierenden virtuellen Städte längst zu Ghosttowns verkommen sind, erfreut sich ein ungewöhnliches Netz-Community-Projekt rund um den Baustoff Pixel seit Jahren bester Gesundheit. Bürgermeister Be aka Bernd Holzhausen und über 5000 Pixel-Addicts bauen an einer virtuellen Icon-Stadt, in der jede Parzelle nicht größer sein darf als 32 x 32 Pixel … Platz genug für Offshore-Biotech-Startups.
TNC: In Icontown gibt es ja jede Menge pixelarchitektonischer Meisterwerke …

BE: Ein interessantes Gebäude aus der neueren Zeit ist die Synagoge in Icontown. Der Name der Synagoge ist „B‘NAI ARYEH Y‘HUDAH“. Rabbi Mosheh Ben Yaáqov wollte ursprünglich ein Readymade-House aufstellen. Ich war ja erstaunt, einen surfenden Rabbi zu treffen :-) Nach einem kurzen E-Mail-Wechsel kamen wir überein, dass ich ein Icon einer Synagoge anfertige. Das Icon ist dann – in Zusammenarbeit mit mir – von meinem Praktikanten Riff Khan angefertigt worden. Riff ist ursprünglich Moslem.Vermutlich ist die Synagoge in Icontown die einzige, die von einem Moslem „gebaut“ wurde :-)

TNC: Du hast für Icontown mit der Donation-Ware ein originelles Sharing-Prinzip entwickelt.

BE: Damit die Rechte der Citizens (viele verbringen Tage damit, ein Haus zu gestalten) geschützt werden können, ist Icontown eine „Ware“, die im Tausch mit etwas genutzt werden darf. Jeder, der ein Icon verwendet, ist dazu aufgefordert, einem Obdachlosen-Hilfswerk in seiner Umgebung eine Spende in Form von Arbeitskraft oder Geld zu machen.

TNC: Im Moment geht sogar das Gerücht um, eine illegale Cloning-Start-Up habe sich in Icontown eingekauft …

BE: Von dem Gerücht habe ich gehört. Ein neuer Citizen erzählte von seltsamen Vorgängen in seiner direkten Nachbarschaft. Vielleicht will er sich als neuer Citizen auch nur interessant machen. Wer weiß. Ich werde das jedenfalls überprüfen lassen.
Launch the Probe
Dieser Email-Wechsel hat sich den aktuellen Mutationen der netzinspirierten Digital Culture aus sehr unterschiedlichen Perspektiven angenähert. Auf seine unverwechselbare Weise wird das auch Kodwo Eshun mit seiner Giant Connection Machine tun. Seine Micro-DJ-Lectures ziehen sich als temporäre Konstruktionen durch die electrolobby-Programmmodule.

TNC: Kodwo, deine Gedanken sind sehr erfrischend – was treibt dich an?

ESHUN: Unzufriedenheit mit den vorhandenen theoretischen Ansätzen, die ihren jeweiligen Bereich aktiv desintensivieren. Der zänkische, instinktiv moralisierende Stil der Mainstream-Kritiker. Die stolze anti-theoretische Haltung der Dance-Music-Medien. Die bürokratische, polizeiberichtmäßige Ausstrahlung der Kunstkritik. Die pompöse Top-down-Langeweile von Akadämlichern aus der ganzen Welt. Zur Fadisierung der Welt beizutragen ist eine kriminelle Handlung. Ich muss ganz einfach den Migrationspfaden von Mutationen folgen, wo immer sie auch auftreten – in einem Musikvideo oder einem alten Manifest, auf einem CD-Cover oder in einer Bezier-Kurve. Ich kann nicht anders, als im Überschneidungsbereich zwischen elektronischer Musik, Medientheorie und Science-Fiction zu spielen und zu arbeiten. Ich bin unfähig, diese Welten auseinanderzuhalten. Meine Freuden: High-low- Hierarchien zu zerstören, wo auch immer sie sich manifestieren. Unausgesprochene Vermutungen präzise zu benennen. Die Befriedigung des Intellekts. Das unverantwortliche Abenteuer der Konzepte.

TNC: In der electrolobby wirst du ein Set von MP3-Tracks präsentieren und dein Lieblingsspiel spielen – Sonic Fiction/Science Fiction.

ESHUN: Ja, Sonic Fiction, die Schnittstelle zwischen Science Fiction und organisiertem Sound, ist ein Spiel, bei dem man Effekte, Denkmuster, konzeptuelle Technologien oder Conceptechnics aus seiner Lieblingsmusik extrahiert, um so imaginäre Welten zu erschaffen. Das ist immanent und transmedial zugleich. Viele Kritiker bemühen sich redlich, Musik zu kontextualisieren, zu historisieren und zu entmystifizieren – dadurch habe ich die Freiheit, mich auf einer völlig anderen Bahn zu bewegen und mich mit dem Leben der Formen, der Sonologie der Gesellschaft, der Erschaffung elektronischer Mythologien, den digitalen Mythen der nahen Zukunft (Ballard) und mit Partizipationsmystik (McLuhan) zu befassen. Nur wer von wahrem Respekt und echter Bewunderung für alle Arten von Dance Music durchdrungen ist, kann überhaupt solche Klangfiktionen schaffen.

TNC: Welche Aspekte der neuesten Entwicklungen im Kontext der Digital Culture findest du gegenwärtig am spannendsten?

ESHUN: Was mich fasziniert, ist die audio-soziale Besessenheit der Napster-Software. Welche MP3s die Leute herunterladen wollen, wie viele Stunden sie dafür aufwenden – man kann förmlich hören und sehen, wie sich audio-soziale Wünsche von selbst zu Netzwerken der Faszination verknüpfen. Die Überlegungen Bakunins aus dem 19. Jahrhundert, wonach Eigentum Diebstahl sei, werden im 21. Jahrhundert in Form des Dotcommunismus (John Perry Barlow) aktualisiert, was den Blick freigibt auf eine Kartografie der Wünsche, auf eine planetenumspannende Audio- Geografie. 1990/91 spielte ich mit dem Gedanken an einen Science-Fiction-Roman, der auf einem Planeten angesiedelt sein sollte, wo das Sample eine natürliche Ressource darstellte. Mediale Aufzeichnungen wären Erdablagerungen. Je intensiver das Sampling, umso intensiver die Landschaft – so gäbe es Brownschen Urbanismus, kraftwerkeske Berge etc. Napster ist die erste Stufe in einem Szenario, wo man die Terraformation von Wünschen, die planetare Turbulenz von Klangozeanen anklicken und hören/sehen/ändern kann.
GIANT CONNECTION MACHINE
Im Rahmen seiner Sonic Fiction nimmt der Concept Engineer Kodwo Eshun (Autor des Standardwerks „More Brilliant Than The Sun“) eine MP3-Selektion zum Ausgangspunkt für eine Serie von Mikro-DJ-Lectures über Mutationen in der elektronischen Musik, in der Medientheorie und der Science-Fiction. Aber aufgepasst: Seine erfrischenden Gedankengänge entpuppen sich mitunter als listige Falle für so manche ausgediente Betrachtungsweise.
TNC: Du nennst dich „Concept Engineer“ – wahrscheinlich aus ähnlichen Gründen, weshalb wir den Begriff „Data-Jockey“ eingeführt haben, um die tief greifenden Veränderungen in den herkömmlichen Konzepten von Produzent/Autor/Kritiker etc. zu signalisieren. Welches sind diese dramatischen Veränderungen, die wir mit diesen Neologismen zu beschreiben versuchen?

ESHUN: Digitale Realität eröffnet ein Kontinuum zwischen dem Gen und dem Elektron (Matthew Fuller). Die Ebene der Konsistenz erfordert eine Neuformatierung der Sprache. Ich sehe mich selbst nicht als Kulturkritiker, Kulturhistoriker oder Kulturkommentator, weil diese Rollen heutzutage redundant sind. Ich kann mir nichts vorstellen, was desintensivierender oder delibidinisierender wäre. Ich identifiziere mich mit der Tradition von McLuhans Die Magischen Kanäle und den Mille Plateaux von D & G, wo man einen Werkzeugsatz zusammenbaut, eine Thoughtware- Maschine, die man an andere Maschinen anschließt. Wie McLuhan schon 1968 in seinem Hot and Cool-Interview meinte:„Das Problem besteht darin, Tools – Sonden – zu erfinden, und nicht darin, durchgehend zusammenhängende Statements abzugeben. Man nimmt ein Statement und stellt es auf den Kopf, man benutzt es, um die Umwelt zu sondieren, anstatt es deskriptiv als Mittel zur Verpackung von bereits aufgelesener Information zu verwenden.“ Der Concept Engineer nähert sich einer Idee als Sample-Finder, nicht als Kritiker. Ich stelle meine Datenbank zusammen. Ich extrahiere meine Samples für die Thoughtware, die ich aufbauen möchte. Dann starte ich die Sondierung.

electrolobby-Konzept, Programmgestaltung und Project Management: Beusch/Cassani (TNC Network, www.tnc.net).
Raumgestaltung: Scott Ritter.
Special Thanks an TNC’s Kim Danders und Hans Wu (FM4) für ihre wertvolle Hilfe

penX-electrolobby wird unterstützt von Pro Helvetia.