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Die Dekodierung Islands*


'Michael Specter Michael Specter

* Erstveröffentlichung des Originaltextes in: The New Yorker, 18.1.1999, S. 40–51

Wäre da nicht eine einzige genetische Eigentümlichkeit, die unbemerkt von Generation zu Generation weitergegeben wurde, so wüssten wir heute wahrscheinlich gar nichts über den isländischen Geistlichen Einar aus dem 16. Jahrhundert. Das wäre auch nicht weiter verwunderlich, denn auf den ersten Blick scheint Einar keineswegs ungewöhnlich gewesen zu sein. Aus genealogischer Sicht war er einer von etwa vierhundert Männern dieses Namens, die im damaligen Island – am Rande der bewohnbaren Welt – zwischen Hochmooren und Zwergbirken ums Überleben kämpften. Im 15. Jahrhundert hatten Einars Vorfahren die Pest überlebt, die mit 40.000 Todesopfern zwei Drittel der Bevölkerung dahingerafft hatte. Und einige seiner Nachkommen überlebten auch die Pockenepidemie von 1707, die gerade ausbrach, als sich der Viehbestand und die Siedler auf den Bauernhöfen von der Pestepidemie zu erholen begannen. Diesmal gab es mehr als 15.000 Tote – ein Drittel der Bevölkerung.

Jede dieser Katastrophen forderte nicht nur zahlreiche Menschenleben, sondern hatte auch einen ebenso dramatischen darwinistischen Effekt: Die genetische Vielfalt Islands wurde drastisch reduziert – so, als hätte man einen riesigen Baum immer wieder beschnitten, bis nur noch der Stamm und die kräftigsten Äste übrig waren. Die gesamte isländische Bevölkerung stammte somit von einer kleinen Gruppe nordischer Siedler aus dem 9. und 10. Jahrhundert und einigen wenigen irischen Sklaven aus der Frühzeit der Besiedlung ab. Von diesem Zeitpunkt bis zum ZweitenWeltkrieg gab es in Island keine nennenswerte Einwanderung, d. h. die Isländer vermehrten sich über 1000 Jahre lang ohne äußere Einflüsse. Mitte des 18. Jahrhunderts betrug die Bevölkerungszahl keine 50.000, nicht mehr als 500 Jahre davor.

Doch die größte Katastrophe stand noch bevor. 1783 brach der südisländische Vulkan Lakagigar aus. Als die Lava acht Monate später endlich zum Stillstand kam, hatte sich der größte Lavastrom seit Menschengedenken gebildet – mehr als 300 Quadratkilometer aus Feuer und Asche. In seinem bemerkenswerten Tagebuch, das schließlich unter dem Titel Fires of the Earth veröffentlicht wurde, schildert der Pastor Jon Steingrimsson den Vulkanausbruch folgendermaßen:

Die Flut des Feuers ergoss sich mit der Geschwindigkeit eines großen, durch das Schmelzwasser angeschwollenen Flusses an einem Frühlingstag. In der Mitte der Feuerflut wurden große Felsen und Steinblöcke mitgeschwemmt, die sich wie riesige Wale beim Schwimmen tummelten, glutrot und leuchtend.
Durch die Eruption selbst wurden nur wenige Menschen getötet, doch das freigesetzte Schwefeldioxid gehörte zu den tödlichsten Ereignissen in der Geschichte Islands. Es überzog die Erde mit einer Decke aus Giftstaub, und 25 Prozent der Bevölkerung sowie fast alle Pferde und Schafe fielen der darauf folgenden Hungersnot zum Opfer. Eine Giftwolke erstickte das Land. Geschichten von Ernteschäden, Dürre, Asthma, Kopfschmerzen und eine weit verbreitete Furcht vor der Verdammnis waren damals in ganz Europa gang und gäbe. “Die Schrecken, die über uns her- und auf uns herabfielen, sind schier unbeschreiblich,” hielt Steingrimsson fest. “Es wird für alle Ewigkeit ein Quell größter Verwunderung bleiben, dass überhaupt ein lebend Wesen dies überstehen konnte.”

Natürlich überlebten viele – darunter auch die Nachfahren Einars. Das wissen wir, weil sich herausgestellt hat, dass es mit diesem Geistlichen aus dem 16. Jahrhundert doch eine besondere Bewandtnis hatte: Einem seiner Gene fehlten fünf DNA-Einheiten – ein Defekt in derselben Größenordnung wie ein einzelner Tippfehler in einem Band mit Shakespeares gesammelten Werken. Mutationen wie diese – permanente Veränderungen in der Anordnung der genetischen Information – sind keine Seltenheit. Jeder Mensch wird mit solchen Mutationen geboren. In den meisten Fällen sind sie harmlos.

Bei Einar hingegen nicht. Seine Mutation, bei der zufällig einige DNA-Grundeinheiten aus einem BRCA2 bezeichneten Gen gelöscht wurden, ist praktisch für jeden Fall von erblichem Brustkrebs im heutigen Island verantwortlich. Sowohl für Frauen als auch für Männer mit dieser Mutation besteht ein extrem hohes Krebsrisiko, da dieses Gen normalerweise für die Produktion eines bestimmten Proteins verantwortlich ist, welches die DNA bei Bedarf reparieren kann. Von BRCA2 und BRCA1 (dem ersten Gen, von dem man nachweisen konnte, dass es Brustkrebs auslöst, und zwar weitaus häufiger als BRCA2) nimmt man an, dass sie bei normaler Funktionsfähigkeit Tumore unterdrücken. Mutationen wie diejenige, die man über seine Nachfahren bis zu Einar zurückverfolgen konnte, schlummern normalerweise in den Zellen – es sei denn, die verbleibende gute Kopie des Gens geht verloren oder wird beschädigt. Dies löst eine geheimnisvolle Kette von Ereignissen aus, die auf noch nicht ganz geklärte Art und Weise letztendlich zu einer Krebserkrankung führt. Den Forschern der Icelandic Cancer Society gelang der Nachweis von Einars Mutation, weil sie auf einer abgelegenen Insel arbeiteten, wo sie nahezu alle genetischen Möglichkeiten mit einer Genauigkeit überprüfen konnten, die anderswo unmöglich wäre. Es gibt viele Mutationen dieser Gene, und bisher wurden weit mehr als 100 mit BRCA1 in Verbindung gebracht. Doch bei der Untersuchung von 575 isländischen Brustkrebspatienten – darunter 34 Männer, bei denen diese Krankheit seit dem Zweiten Weltkrieg diagnostiziert wurde – stellte sich heraus, dass es in ganz Island nur eine BRCA2-Mutation gab: die des Einar. Die Wissenschaftler brauchen also nicht mehr zu raten, was bei diesen Menschen Krebs ausgelöst hat – sie wissen es. Und ist einmal die Wurzel einer Krankheit bekannt, so ist das schon der erste Schritt auf dem steinigen Weg zur Heilung.

Es ist zwar ein Klischee, aber das Erste, was dem Besucher in Island auffällt – nach der Vulkanlandschaft, die sich beim Anflug auf den Keflavik International Airport unter einem ausbreitet –, ist die starke Ähnlichkeit der Isländer untereinander. Von Geysir, das zum generischen Namen für gut die Hälfte der heißen Quellen dieser Erde geworden ist, bis zu den an Levittown erinnernden Vororten, die das rustikale Hafenviertel Reykjaviks zu verdrängen drohen, scheint Island manchmal von einer einzigen, riesigen Familie bewohnt, deren Mitglieder allesamt in der Gegend wohnen bleiben, in der sie geboren wurden.

Nur auf Grund des einmaligen Charakters dieser Großfamilie konnte Einars genetischer Defekt so einfach gefunden werden: Die erblichen Instruktionen für blaue Augen und blondes Haar, welche in Island so vorherrschend sind, wurden unverwässert über 50 Generationen hinweg innerhalb eines kleinen Genpools weitergegeben. Was nach einer tausendjährigen Geschichte von Seuchen, Epidemien, Erdbeben und Vulkanausbrüchen in der Mitte der turbulenten Fischgründe des Nordatlantiks übrig bleibt, ist eine Nation von 270.000 Menschen, die weltweit die größten genetischen Ähnlichkeiten aufweisen – ein Land, in dem die Telefonnummern nach den Vornamen geordnet sind. Ein Hobby-Stammbaumforscher mit einem 500-Dollar-Computer braucht etwa drei Minuten, um das Verwandtschaftsverhältnis zweier x-beliebiger Isländer zu demonstrieren.

Und kein anderes Hobby wäre für die Molekularbiologen von größerem Nutzen. Die Suche nach genetischen Defekten ist zum großen Goldrausch unseres Zeitalters geworden. Auf der Suche nach den Ursachen der häufigsten Krankheiten durchsieben Forscher von Neufundland bis Papua-Neuguinea das weltweite genetische Erbgut und vergleichen die DNA kranker Menschen mit der ihrer gesunden Verwandten. In rassisch und ethnisch gemischten Gebieten wie Amerika ist das nicht so einfach; wenn Herkunft, Angewohnheiten, genetische Zusammensetzung und direktes Umfeld der Menschen völlig unterschiedlich sind, so haben höchstwahrscheinlich auch ihre Krankheiten verschiedene Ursachen. Viele Wissenschaftler sind jedoch davon überzeugt, dass Island auf Grund seiner jahrhundertelangen Isolation und der zahlreichen Katastrophen, die hohe Bevölkerungszahlen verhinderten, das reichste natürliche Genetiklabor der Welt ist.

Die neueste Krebsforschung zeigt uns, warum. Brustkrebs ist in den meisten Fällen nicht erblich; ist er es doch, dann ist die genetische Komponente meist sehr komplex. Wenn in New York City (oder in Bombay, Moskau oder Tokio) fünf Frauen an erblichem Brustkrebs erkranken, so wäre die Ursache, die eigentliche genetische Mutation, jeweils eine andere. Einige hätten die eine Mutation, andere eine zweite; bei wieder anderen könnte die Krebserkrankung aus einer subtilen Interaktion zwischen verschiedenen, scheinbar unzusammenhängenden Genen resultieren. Doch wenn es sich bei diesen Frauen um Isländerinnen handelte, gäbe es derartige Unterschiede nicht. Jede würde mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit denselben genetischen Defekt aufweisen, den sie von demselben Vorfahren geerbt hat – von Einar.

“Genau darum geht es in der Humangenetik”, erklärte mir Mary-Claire King, Professorin an der Fakultät für Medizin und Genetik an der University of Washington in einem Telefongespräch. King zählt zu den weltweit führenden Genetikern und hat knapp 20 Jahre mit der Suche nach dem ersten Brustkrebs-Gen verbracht. “Die Möglichkeit, die Genealogie einer gesamten Nation über tausend Jahre hinweg studieren und außerdem gesunden Lebenden Blut- und Gewebeproben entnehmen und ihre DNA mit der der Verstorbenen vergleichen zu können, sodass man die Unterschiede tatsächlich sehen kann…”, meinte King mit aufgeregter Stimme, “könnte zur wertvollsten Informationsquelle der modernen Medizin werden. Ich habe 17 Jahre gebraucht”, fuhr sie fort, “um das erste Brustkrebs-Gen zu kartieren. Die vergleichbaren Arbeiten für das zweite Gen waren in knapp zwei Jahren beendet. Das ist großteils den immensen technischen Fortschritten zu verdanken. Doch es stimmt auch, dass diese einzelne, uralte BRCA2-Mutation ein goldener Schlüssel war. In Island lässt sich wunderbar Genetik betreiben. Die dortige Bevölkerung ist ein Geschenk des Himmels.”

Es war unglaublich trist um 8 Uhr an jenem Novembermorgen, als Kari Stefansson eintraf, um mir zu erklären, wie er Island in das Athen der Genforschung verwandeln wolle. Die Berge rund um die Stadt sahen aus, als wären sie mit Asche bedeckt. Es herrschte Schneeregen und der Tag war düster, und so blieb es noch mindestens zwei Stunden lang, bis die Sonne sich kurz über dem Horizont zeigte. Zu Mittag verteilten die Kellner bereits Kerzen auf den Tischen der Gaststätten. Kurz danach herrschte auch schon wieder völlige Finsternis. “Man gewöhnt sich daran”, meinte Stefansson. Der 49-jährige ist unbestritten die kontroversiellste Persönlichkeit in einem Land, in dem sich normalerweise alles um Fischereirechte oder um die Qualität von Schaffellen dreht. Der Neurologe Stefansson ist Gründer des ersten Biotechnologie-Unternehmens Islands, der Firma Decode Genetics. Sein Plan besteht darin, das gesamte Forschungspotenzial des Landes in einer riesigen elektronischen Datenbank zu bündeln, mit deren Hilfe seine Firma die Ursachen dutzender weit verbreiteter Krankheiten erforschen will. Die meisten Genforscher sind sich einig, dass eine derartige Datenbank ein wissenschaftliches Instrument von einmaliger Bedeutung wäre. Der Vorschlag hat jedoch auch eine der erbittersten Kontroversen in der langen Geschichte Islands ausgelöst.

Als Gegenleistung für die Planung, Einrichtung und Finanzierung dieser Datenbank, was laut Stefanssons Angaben sein Unternehmen mindestens 150 Millionen Dollar kosten wird, soll Decode von der Regierung zwölf Jahre lang die exklusiven Vermarktungsrechte der Datenbank im Ausland erhalten. Dieser Plan hat bei Forschern in der ganzen Welt für enormen Aufruhr gesorgt. Kein anderes Land – und ganz bestimmt kein anderes Privatunternehmen – hat je den Versuch unternommen, das genetische Erbe einer ganzen Nation zu sammeln, zu speichern, abzupacken und zu verkaufen.

Der Vorschlag macht auch vielen Menschen Angst, zum Teil deshalb, weil eine Beziehung zwischen Genetik und Geschäftsleben oft etwas Bedrohliches hat. Doch es steckt noch mehr dahinter: Im Rahmen eines Gesetzesentwurfs, der dem isländischen Parlament, dem Althing, vorgelegt wurde, ist Decode als alleiniger Verwalter dieser enormen Datensammlung vorgesehen. Als erste Nation der Welt, die ihren Genpool komplett katalogisieren lässt, läuft Island zahlreichen Kritikern zufolge Gefahr, die Kontrolle über das elementare Geheimnis seiner Existenz zu verlieren, sobald es diese kostbaren Informationen einem Privatunternehmen zur Verfügung stellt.

Mit 1,95 Meter ist Stefansson sogar für einen Wikinger eine stattliche Erscheinung. Sein leichter Akzent erinnert an einen Sean Connery der Wissenschaft. Am Tag unseres Treffens holte er mich in seinem Auto, einem blauen Saab, ab. Über das Lenkrad gebeugt führte er mit grimmiger Miene Selbstgespräche. Erst nach ein, zwei Minuten sah ich das Kabel an seinem Ohr baumeln: Er sprach – relativ aufgeregt – über ein Mobiltelefon. Das tat er mindestens einmal während aller unserer Gespräche.

“Es tut mir Leid”, sagte er mit einem Anflug von Verlegenheit, als er auflegte. “Wenn ich heute mit den Gedanken woanders bin, so liegt das daran, dass meine Gegner den Zeitungen wieder die üblichen Lügen und Halbwahrheiten erzählt haben. Sie behaupten, wenn wir die Genforschung hier vorantreiben und ich die Datenbank einrichten darf, mit deren Hilfe wir in der Lage sein werden, so viele Rätsel der Medizin zu lösen und die Menschen hier zu wahren Helden zu machen, dann würde Island stigmatisiert sein und die Isländer würden zu Ausgestoßenen. Was für ein ausgemachter Blödsinn.”

In einem so kargen Land wie Island ist Stefansson eine extravagante Erscheinung; dennoch ist er charmant und belesen genug, um die meisten Gespräche mit den passenden Zitaten von Auden, Yeats oder dem großen isländischen Nobelpreisträger Halldor Laxness zu würzen. Wie vielen in der Medizin tätigen Unternehmern wird ihm oft vorgeworfen, er interessiere sich mehr für Geschäfte als für die Forschung, doch in unseren Diskussionen schien er manchmal weder an dem einen noch an dem anderen interessiert. Als ich ihn fragte, für welchen Typ Wissenschaftler er sich halte, antwortete er, er sehe sich selbst eigentlich überhaupt nicht als Wissenschaftler.

“Ich betrachte mich als einen gescheiterten Schriftsteller”, sagte er, ohne eine Spur jenes grimmigen Selbstmitleids, die derartige Aussagen normalerweise begleitet. “Für mich ist ein großer Schriftsteller ein erfolgreicher Mann. Aber wirklich gute Schriftsteller und Journalisten beschränken sich auf das Zusehen. Man steht abseits der Ereignisse. Man kann nie wirklich mitmachen, und ich fürchte, meine Persönlichkeit gestattet es mir nicht, ein Außenstehender zu sein.” Sefanssons Eloquenz trug mit dazu bei, dass er in Island zu einer derart kontroversiellen Figur wurde: Er ist ein außergewöhnlich effizienter Advokat seiner eigenen Ideen.

Stefansson ist zwar einerseits scharfsinnig und entschlossen, doch gleichzeitig völlig unbescheiden und behandelt seine intellektuellen Gegner mit Verachtung. “Wenn die Zeitungen schreiben, dass ich der populärste oder intelligenteste Mann in ganz Island bin, dann möchte ich dazu gar nichts sagen”, meinte er eines Tages, obwohl ich so etwas nicht im Entferntesten angesprochen hatte. “Aber wenn sie behaupten, ich könnte mich in jedes Amt wählen lassen, das ich anstrebe – dann kann ich Ihnen versichern, dass das stimmt.” Derzeit strebt er allerdings kein wählbares Amt an; er hat weitaus höhere Ambitionen. “Ich möchte die wichtigsten Krankheiten heilen”, erklärte er mir sachlich. “Ich möchte dieses Werkzeug nutzen, um unvorstellbare Mengen lebenswichtigen Wissens hervorzubringen.”

Bei “diesem Werkzeug” handelt es sich um Stefanssons ehrgeizigen Plan, eine zentrale Gesundheitsdatenbank einzurichten, die so gut wie alle relevanten medizinischen und genetischen Fakten über jeden isländischen Bürger enthalten wird. Doch Island hat der Wissenschaft weitaus mehr als nur Rohdaten zu bieten: Das Land hat ein staatliches Krankenversicherungssystem, das seit 1915 makellose Aufzeichnungen über nahezu alle wichtigen Krankheiten führt; es verfügt über eine immense, bestens dokumentierte Gewebebank, die als moderne Geschichte der isländischen DNA verwendet werden kann. Die isländischen Patienten vertrauen ihren Ärzten und sind eher als die Patienten in vielen anderen Ländern zur Mitarbeit bei medizinischen Forschungen bereit. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, die Isländer führen mit derart ausgeprägter Leidenschaft Aufzeichnungen über ihre eigene Abstammung, dass Decode bereits eine Datenbank mit den Familiengeschichten von knapp 57 Prozent aller 800.000 Isländer, die je gelebt haben, erstellen konnte.

Die Genealogie ist eine nationale Obsession. Bei jedem Todesfall erscheint in den Lokalzeitungen eine Sterbeanzeige mit einem höchst detaillierten Familienstammbaum, der Namen und Geburtsdaten enthält, die oft hundert Jahre oder weiter zurückreichen. Bei einer Dinnerparty in Reykjavik bat ich einen Biologen, mir eine Sterbeanzeige zu übersetzen, die ich willkürlich aus der aktuellen Tageszeitung ausgewählt hatte. Pflichtbewusst begann er damit, und als er sich durch die Eltern, Kinder, Brüder, Cousins und Cousinen des Verstorbenen durchgearbeitet hatte und bei einer Urgroßmutter mütterlicherseits angelangt war, blickte er lächelnd auf und meinte: “Hey, ich glaube, das war auch die Urgroßmutter meiner Frau.” Die Universität von Island hat einen Lehrstuhl für Genealogie; in einer der Zeitungen erscheint täglich eine Kolumne zu dem Thema; es ist gesetzlich verboten, seinen Nachnamen, immer ein Patronymikon, zu ändern; die meisten genealogischen Daten wurden von der Regierung aus den Grundrechten zum Schutz der Privatsphäre ausgenommen; und Zeitungsreportagen enthalten oft eine detaillierte Darstellung des Familienstammbaums der betreffenden Person.

“Wozu diese ganze Genealogie?” fragte Stefansson einmal während des Abendessens. “Sehen Sie sich in diesem kargen Land doch einmal um! Es gibt keine historischen Denkmäler. Keine Skulpturen. Keine jahrhundertealten Kathedralen. Island war immer zu arm für solche Dinge. Seit elfhundert Jahren gibt es hier eine Kultur, aber versuchen Sie einmal, sie zu finden! Einige Bücher sind erhalten geblieben, und das ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns vergewissern können, dass wir in den Kontext der menschlichen Geschichte passen. Indem wir alles aufschreiben.” Damit bezog er sich auf das einzige bleibende Erbe des alten Island, die Sagas – das vollständigste Porträt aller mittelalterlichen Gesellschaften des Abendlandes. Die Sagas stellen eine umfassende literarische und historische Dokumentation der Fehden, Kriege, Versuchungen und Triumphe der frühen isländischen Gesellschaft dar. Am Anfang einer Saga steht meist eine lange Liste genealogischer Informationen. Für Island sind die Sagas noch heute lebendig, weil das Isländische im Gegensatz zum Altenglischen, Altschwedischen oder Altnorwegischen im Wesentlichen bis heute unverändert geblieben ist. Wer heute im Stande ist, einen Artikel in einem isländischen Magazin zu lesen, der kann auch die Saga vom Krieger Egill Skallargrimsson aus dem 13. Jahrhundert lesen.

“Das war unsere Überlebensstrategie”, sagte Stefansson. “Die Menschen kauerten hoch oben auf den Bergen, vom Heulen des Windes umgeben. Seit elfhundert Jahren dreht sich in Island alles um Namenslisten. Das ist es, was wir alle gemeinsam haben. Diese Verbindungen sind eigentlich unser einziges Erbe.”

Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Darwins Cousin Francis Galton den Begriff “Eugenik” prägte – einer der am stärksten negativ befrachteten Begriffe in der Geschichte der Wissenschaft –, stützen sich die Genetiker bei der Erforschung der Ursprünge menschlicher Krankheiten auf Familienanamnesen. Galton war davon überzeugt, dass Eigenschaften wie Intelligenz erblich wären und eine Gesellschaft diese Eigenschaften ebenso gezielt züchten könnte wie einen Irishsetter oder eine Vidalia-Zwiebel. Jahrelang sind sich isländische Forscher bereits der besonderen Eigenschaften der isolierten DNA ihres Landes bewusst, doch hat Kari Stefansson scheinbar als Erster begriffen, welchen Beitrag Island zur fieberhaften Suche nach den genetischen Ursachen menschlicher Krankheiten leisten könnte. Die Idee der Computerdatenbank, in der alle wesentlichen Informationen zu Gesundheit und Genetik der Isländer enthalten wären, wird u. a. von Ministerpräsident David Oddsson kräftig unterstützt und laut Meinungsumfragen auch von weiten Kreisen der Bevölkerung befürwortet. Ein offensichtlicher Grund dafür liegt im erwarteten Gewinnpotenzial: Man geht davon aus, dass Pharmaunternehmen mehrere Milliarden Dollar ausgeben werden, wenn Decode die Gene identifizieren kann, die die wichtigsten Krankheiten mitverursachen. Mehrere isländische Politiker haben die Hoffnung geäußert, dass die Decode-Datenbank für Island denselben Effekt haben könnte wie das Nordseeöl für Norwegen.

Dennoch sind zahlreiche Wissenschaftler in Island und im Ausland über die Vorstellung erzürnt, dass eine derartige Kostbarkeit Decode einfach überlassen wird. Sie argumentieren, oft voller Erbitterung, dass durch die Übergabe einer derartige Ressource an ein Privatunternehmen die Rechte der Patienten auf Datenschutz gefährdet würden, dass lang etablierte Standards der medizinischen Ethik verletzt und andere Forscher daran gehindert würden, die Vorteile dieses unschätzbar wertvollen Instruments ebenfalls zu nutzen. Außerdem herrscht in weiten Kreisen die Meinung vor, dass ein Großteil der aus isländischer DNA erzielten Gewinne der isländischen Bevölkerung und nicht Decode zukommen sollte.

“Genau das haben koloniale Schatzjäger schon seit Jahrhunderten getan”, betonte die Genetikerin Mary-Claire King. Wie viele ihrer Kollegen sieht sie zwar die Verheißungen der Forschung, doch ist sie sich auch des Gefahrenpotenzials bewusst, das sich aus einem derartig riesigen Arsenal biologischer Daten ergibt. “Nicht, dass es nicht wichtig gewesen wäre, in Afrika oder Mexiko Gold, Diamanten und Minerale zu finden”, meinte sie. “Falsch daran war allerdings, die Schätze abzutransportieren und die lokalen Gesellschaften in den Ruin zu treiben. Das ist nun die Version des 21. Jahrhunderts davon. Es ist in eleganter Ansatz, der uns unbestritten viele Informationen einbringen könnte. Doch das Ganze hat auch seinen Preis. Und wenn der Preis die Zerstörung des Forschungsbereichs Genetik in Island ist – oder der Verlust des Vertrauens der Patienten in ihre Ärzte –, dann ist vielleicht Eleganz nicht das Einzige, das zählt.”

Stefansson räumt ein, dass er auf derartigen Widerstand nicht vorbereitet war, und gibt zu, dass frühere Versionen des Datenbankkonzeptes auf Grund ihrer Naivität stark fehlerhaft waren. Aktuelle Kritik tut er jedoch hauptsächlich als Vorurteile konkurrierender Wissenschaftler und zum Teil als negative Reaktion auf alles Weitreichende und Neue ab. “Jetzt ist es in Island wieder so wie in der Sturla-Periode”, erklärte er mir einmal. Damit bezog er sich auf eine berühmte Saga aus dem 13. Jahrhundert, als die Krieger ihren Bund auflösten und sich gegenseitig an Steinwänden die Köpfe einschlugen. “Ich werde von kleinen Leuten belagert. Das ist eine faszinierende Kontroverse, und ich habe volles Verständnis dafür. Aber diese paar Leute, meine Gegner” – er spuckte das Wort aus, als wäre es ein rostiger Nagel – “haben Angst vor Veränderungen und wollen ihr Ansehen in der wissenschaftlichen Gemeinde nicht verlieren. Aber während Sie sich ihre Propaganda reinziehen, sollten Sie sich eines merken: Es ist nur eine kleine Gruppe, die sich unseren Bemühungen entgegenstellt. Sie sind nicht wichtig. Und sie werden verlieren.”

Stefansson trägt sein weißes Haar und seinen weißen Bart kurz geschoren, dabei modisch verstrubbelt, und in seiner üblichen Garderobe in gedämpften Erdfarben, kombiniert mit Schwarz und Grau, erweckt er eher den Eindruck eines sorgsam zerzausten Experimentaltheater-Regisseurs als den eines Arztes, Unternehmers und Professors. Er ist ausgesprochen ehrgeizig und spielt regelmäßig Basketball – laut Aussagen eines Kollegen mit einem “extremen und manchmal unschönen Siegeswillen”. In letzter Zeit hat er so stark abgenommen (vom Basketball und von den vielen Sorgen), dass seine Sekretärin ihm täglich einen knallrosa Protein-Milkshake serviert und persönlich dafür sorgt, dass er ihn auch ganz austrinkt.

Stefanssons Vater war die bekannteste Persönlichkeit der isländischen Radiogeschichte und ein vielpublizierter Autor; seine Frau kümmerte sich um die Erziehung der fünf Kinder. Stefansson selbst war offensichtlich schon von Kindheit an wagemutig. Als er zwölf Jahre alt war, machte ihm sein Vater ein Angebot: Wenn er tippen lernen würde, könnte er die Buchmanuskripte seines Vaters abschreiben. Einige Jahre hindurch hatte Kari einen großartigen Sommerjob; dann blätterte sein Vater einmal zufällig eines seiner veröffentlichten Bücher durch. “Er fand heraus, dass ich einige Sätze geändert hatte”, erzählte mir Stefansson. “Es waren keine großartigen Änderungen, aber sie waren absolut notwendig. Er sah das natürlich nicht so, und das war das Ende meiner Karriere als Schreibkraft.”

Stefansson verbrachte fünfzehn Jahre an der University of Chicago, wo er als Professor für Neurologie eine Dauerstelle innehatte. Als Leiter des Instituts für Pathologie, der damals angesehensten wissenschaftlichen Forschungsstätte des Landes, kehrte er für kurze Zeit nach Island zurück und lehrte anschließend fünf Jahre als Professor für Neurologie und Pathologie an der Harvard Medical School.

Als er Anfang der 90er-Jahre nach Island reiste, um in seinem speziellen Interessensgebiet, der Multiple-Sklerose-Forschung, zu arbeiten, erkannte Stefansson, dass die Insel ideale Voraussetzung für die Erforschung der Ursachen fast aller häufigen Krankheiten bietet, bei denen genetische Komponenten eine Schlüsselrolle spielen. Obwohl Erbkrankheiten wie zystische Fibrose oder Sichelzellenanämie durch die Mutation einzelner Gene verursacht werden, die sich am besten anhand von Familienanamnesen nachweisen lassen, kann man die häufigsten Erkrankungen, wie z. B. Krebs, Herzkrankheiten und zahlreiche psychische Störungen, nur durch das Studium einer viel größeren Population umfassend erforschen. Bei diesen Krankheiten kommt mit ziemlicher Sicherheit in den meisten Fällen neben der genetischen Komponente auch eine Umweltkomponente mit ins Spiel, und auf Grund dieser Komplexität sind ihre Ursachen unglaublich schwierig zu verstehen. Im Körper jedes Menschen lassen sich drei Milliarden Paare chemischer Basen – DNA-Bausteine – nachweisen, und im menschlichen Erbgut finden sich insgesamt 100.000 Gene. Die Erschließung der Ursachen der häufigsten Krankheiten zählt zu den entmutigendsten Unternehmungen, mit denen die Medizin je konfrontiert war.

Genetiker wissen schon seit geraumer Zeit, dass die Bewohner Islands trotz ihrer relativen Abgeschiedenheit die schweren Erkrankungen unserer Zeit wie etwa Krebs und Herzkrankheiten. Ungefähr im selben Ausmaß entwickeln wie Menschen in anderen Industrieländern. Island ist kein bizarrer Nebenzweig der Menschheit – wie z. B. die kleine Insel Tristan da Cunha im Atlantik, wo ein knappes Drittel der dreihundert Einwohner an Asthma leidet. “Island spiegelt den Genpool Nordeuropas aus dem Jahre 800 n. Chr. wider”, erklärte mir Jeff Gulcher, ein ehemaliger Doktoratsstudent Stefanssons aus Amerika, der nun bei Decode als Forschungs- und Entwicklungsleiter beschäftigt ist. “Es handelt sich hier nicht um einen seltenen, speziellen Evolutionszweig. Es ist vielmehr ein wichtiger Ast. Wenn man in Island Krankheiten untersucht, sollte man daraus jede Menge Erkenntnisse über menschliche Krankheiten im Allgemeinen gewinnen können.”

Genau darauf setzt Decode. Als Stefansson 1996 begann, Kapital für sein Projekt aufzutreiben, herrschte angesichts der zahlreichen, nicht eingehaltenen Versprechungen diverser Firmen, welche verkündet hatten, die Genforschung würde alle Übel der Menschheit beheben, große Skepsis unter den Investoren. Stefansson entpuppte sich allerdings als überzeugender Verkäufer und konnte so in drei Monaten zwölf Millionen Dollar auftreiben. An diesem Punkt gab er seinen Job in Harvard auf, kehrte nachhause zurück und begann mit Ärzten und deren Patienten an der Identifikation krankheitsspezifischer Gene zu arbeiten.

In einem Land, das knapp drei Viertel seiner Erträge aus der Fischerei bezieht und sich redlich um die Schaffung einer breiteren wirtschaftlichen Basis bemüht, gelang es Decode innerhalb kürzester Zeit, 250 gut bezahlte Arbeitsplätze in der Forschung zu schaffen. (Islands gesamtes staatliches Forschungsbudget – 65 Millionen Dollar im Jahr 1997 – liegt unter der Summe, die Decode bisher für die Forschung zur Verfügung gestellt hat.) “Kari wurde bei seiner Rückkehr wie ein Gott behandelt”, erzählte mir Jorunn Erla Eyfjord, der Leiter der Abteilung für Molekulargenetik der Icelandic Cancer Society. Eyfjord, der entscheidend an der Lokalisierung des zweiten Brustkrebs-Gens mitgearbeitet hat, ist ein vehementer Kritiker von Stefanssons Plan einer umfassenden Datenbank. “Die Leute taten so, als hätte er die Medizin erfunden und nach Island gebracht.”

Die allgemeine Aufregung wurde noch größer, als Decode im Februar 1998 einen Vertrag mit Hoffman-La Roche unterzeichnete, denn dieser Vertrag zählt zu den umfassendsten Verträgen, die bislang zwischen einer Genomikfirma und einem großen Pharmaunternehmen abgeschlossen wurden. Das in der Schweiz ansässige Unternehmen Roche erklärte sich bereit, Decode während der nächsten fünf Jahre mehr als 200 Millionen Dollar zu bezahlen, wenn es Decode gelingt, jene Gene zu identifizieren, die bei einigen der weltweit häufigsten Krankheiten, wie Schizophrenie, Alzheimer, Schlaganfall, Herzerkrankungen und Emphysemen, eine Rolle spielen. Roche erhält das Recht, auf Basis der Gene, die Decode zu entdecken hofft, diagnostische Tests und, nach Möglichkeit, auch Medikamente zu entwickeln. Im Gegenzug wird Hofmann-La Roche die neu entwickelten Tests oder Medikamente allen Isländern bei Bedarf kostenlos zur Verfügung stellen. Für beide Seiten ein potenziell äußerst lukratives Geschäft.

Sobald die in der umfassenden Datenbank enthaltenen Informationen einmal zugänglich sind (laut Stefansson frühestens zwei Jahre nach Erhalt der Lizenz), werden viele andere Unternehmen – und vielleicht sogar ganze Nationen – zweifelsohne Höchstpreise für die möglichen Leistungen der Datenbank bieten. In der Vergangenheit wurden Medikamente oft mehr oder weniger zufällig entdeckt. Die Forscher identifizierten die Proteine, die mit einer Krankheit in Verbindung zu stehen schienen – oft war das ein reines Ratespiel, Intuition oder einfach nur Glück. Danach wurden tausende tierische bzw. pflanzliche Verbindungen ausprobiert, bis man etwas fand, das die Proteine blockierte, ohne dem übrigen Körper ernste Schäden zuzufügen. Krebsmedikamente können ganz besonders gefährlich sein, da die zum Abtöten der Krebszellen eingesetzten Chemikalien oft gleichzeitig zahlreiche gesunde Zellen zerstören. Es wird erwartet, dass die Genomik – das Studium des genetischen Erbguts einer Spezies – eine raffinierte Alternative zur bisherigen Vorgangsweise bieten wird. Sobald einmal der Nachweis erbracht ist, dass ein bestimmtes Gen eine Krankheit auslösen oder eine Rolle bei einer Erkrankung spielen kann, sollte die Wissenschaft zumindest theoretisch in der Lage sein, die molekulare Basis dieser Krankheit – den chemischen Bauplan – zu erfassen und Medikamente zu entwickeln, mit denen der Schaden repariert oder sogar verhindert werden kann. Aus diesem Grund sind Pharmaunternehmen bereit, viele Millionen Dollar zu investieren; der potenzielle Gewinn pro Gen wird immens sein. Dennoch müssen noch zahlreiche Hürden überwunden werden, denn Gene gibt es in allen Größen und Formen, und während einige ganz natürliche Angelpunkte für Medikamente bieten, ist dies bei anderen nicht der Fall. Dennoch wird jedes Mal, wenn man herausfindet, dass ein Gen bei einer Erkrankung eine signifikante Rolle spielt, mit enormen finanziellen und gesundheitlichen Auswirkungen zu rechnen sein.

Bald nach der Vertragsunterzeichnung mit Roche begannen sich die gerätestrotzenden Labors von Decode mit teuren Gensequenzierungsgeräten und zwei Dutzend der neuesten robotischen PCRs (Polymerase-Kettenreaktionsgeräten) zu füllen. Das PCR ist das Arbeitspferd der genetischen Revolution, da mit dieser Technik winzige DNA-Mengen vermehrt werden können, wodurch Katalogisierung und anschließende Vergleiche möglich sind. Junge isländische Forscher kehrten vom MIT, aus Berkeley und Harvard nach Island zurück, da sich die Rückkehr für die meisten nun endlich lohnte. Die freundlichen, offenen Labors bei Decode, die eher an Großkantinen als an medizinische Forschungseinrichtungen erinnern, sind zu Islands erster Adresse für höhere Molekularforschung geworden.

Man ging nach folgender Strategie vor: Decode studiert in Zusammenarbeit mit Ärzten in ganz Island eine Reihe von Krankheiten, von Diabetes über Dickdarmkrebs bis zur Schuppenflechte. Die Ärzte entnehmen Patienten, die sich zur Mitarbeit bereit erklärt haben, Blutproben und senden diese an Decode. Anstatt mit dem Namen des Patienten sind die Blutproben mit einer kodierten Nummer versehen. Die Forscher bei Decode wiederum bearbeiten die DNA und ermitteln die für den einzelnen Patienten entscheidenden genetischen Marker. Diese genetischen Rohdaten (die Genotypen) werden dann mit der körperlichen Verfassung jedes einzelnen Patienten (dem Phänotyp) verglichen. Gleichzeitig sucht Decode in seiner Stammbaum-Datenbank nach familiären Mustern der Krankheit. Auf diese Weise können Spezialisten höchst differenzierte statistische Interpretationen der genetischen Beziehungen zwischen den Betroffenen durchführen und herausfinden, an welchen Stellen des unvorstellbar großen Universums der menschlichen DNA man am besten nach den Genen suchen soll, die die Krankheit unter Umständen ausgelöst haben.

Decode konnte bereits einige Anfangserfolge verzeichnen. So wurde etwa die Position eines der zentralen Gene identifiziert, die für ein als hereditärer essenzieller Tremor bekanntes Syndrom verantwortlich sind – eine degenerative neurologische Kondition, die ein unkontrolliertes Zittern der Arme und des Kopfes auslöst und an der Millionen Menschen leiden. Diese Arbeit wurde noch vor der Einrichtung der genealogische Datenbank von Decode fertiggestellt. In jüngerer Zeit ist es Decode gelungen, die Suche nach den molekularen Ursprüngen von Multipler Sklerose auf ein Stück DNA mit drei oder möglicherweise vier Genen einzugrenzen – das ist in etwa so, als würde man die Erde nach einem Sandkorn absuchen und könnte die wahrscheinliche Position auf einen einzigen Strand eingrenzen.

Im Sommer 1998 begann das Unternehmen, gemeinsam mit einem der führenden Ärzte Reykjaviks die Ursachen von Endometriose zu erforschen – eine Erkrankung, welche in den USA die Hauptursache für Unfruchtbarkeit darstellt. Sie tritt auf, wenn Zellen der Uterusauskleidung an anderen Stellen auftreten. Endometriose gilt, in Stefanssons Worten, “als eine schreckliche, rätselhafte und völlig sporadische Krankheit”, weil “niemand sagen konnte, weshalb einige Frauen sie bekommen und andere nicht.” Nun befindet sich Decode mitten in einer computerunterstützten Detektivarbeit zu diesem Thema. Nachdem die Namen der an der Studie teilnehmenden Frauen durch geheime Identifikationsnummern ersetzt wurden, ließ Decode die Nummern durch die Genealogie-Datenbank laufen. Mit einem Blick auf die Familienstammbäume der Patientinnen konnte sogar der Laie erkennen, dass viele von ihnen miteinander verwandt waren. Die Ergebnisse hätten wohl auch die betroffenen Frauen selbst überrascht. (Trotz des ausgeprägten Sinns der Isländer für Familiengeschichte kennen nur wenige ihre Cousins und Kusinen vierten oder fünften Grades. Die Datenbank kann weitschichtige Verwandtschaften jedoch innerhalb weniger Minuten feststellen.) “Wir entnehmen der Patientin Blut und scannen es”, erklärte mir Gulcher, der resolute Abteilungsleiter des Decode-Labors. “Dann sehen wir uns die DNA ihrer gesunden Verwandten an und ermitteln die Unterschiede. Als nächster Schritt folgt eine statistische Analyse, bei der wir untersuchen, welche Merkmale die Patientin z. B. mit ihren Kusinen gemeinsam hat. Haben sie etwa eine Sequenz öfter gemeinsam, als man das bei Kusinen erwarten würde?” Die Mendelschen Vererbungsgesetze besagen, dass bei Cousins und Kusinen ein Achtel der DNA übereinstimmt. Ist der gemeinsame Anteil höher, empfiehlt sich eine nähere Untersuchung. “So wird das Material immer wieder gesichtet, bis wir die Stellen ausfindig gemacht haben, die für die Erkrankung verantwortlich sein könnten”, erläuterte Gulcher.

Eines Tages begann Stefansson, fast wie aus einem Jux heraus, ähnliche Forschungen im Bereich der Langlebigkeit anzustellen. Es wird allgemein angenommen, dass es zumindest einige genetische Ursachen für die Langlebigkeit mancher Menschen gibt. Aber heißt das, diese Menschen haben einfach nur das Glück, dass genetische Mutationen oder sonstige Probleme, die bei anderen Menschen einen frühen Tod herbeiführen, bei ihnen nicht aufgetreten sind, oder gibt es tatsächlich DNA-Abschnitte, die den Genen die Anweisung erteilen, diese Menschen auf Langlebigkeit zu programmieren?

“Kurz bevor ich 1993 die University of Chicago verließ, habe ich die älteste lebende Amerikanerin ins Krankenhaus eingewiesen”, erzählte Stefansson. “Sie war 116 Jahre alt. Ich wunderte mich, wie sie so alt werden konnte, und fragte sie. Sie antwortete, sie habe mit 90 das Trinken aufgegeben. Das war zwar wirklich süß, konnte aber offensichtlich nicht der Grund sein. Trotzdem fragt man sich immer, wo der entscheidende Unterschied liegt.”

Also befragte Stefansson den Computer. Er und Gulcher wählten aus den hunderttausenden in ihrer genealogischen Datenbank gespeicherten Isländern jene fünf Prozent aus, die am längsten gelebt hatten – die meisten von ihnen waren über 90 Jahre alt geworden. Mithilfe der Datenbank konnten die beiden Wissenschaftler die Antwort auf eine einfache Frage finden: Sind alle diese hochbetagten Menschen näher miteinander verwandt als die isländische Durchschnittsbevölkerung? Die Antwort war bald klar ersichtlich. Die über 90-jährigen waren viel näher miteinander verwandt als die Bevölkerung im Allgemeinen, und ihre Kinder werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch länger leben als die Kinder anderer Isländer. Das ist ein solider Beweis dafür, dass dieses Merkmal erblich ist.

Der nächste Schritt besteht natürlich darin festzustellen, wie diese Vererbung vor sich geht – und hier könnten die Informationen aus der umstrittenen Datenbank klarerweise wertvolle Dienste leisten. Könnte man die DNA der ältesten derzeit lebenden Isländer mit der DNA ihrer verstorbenen Verwandten vergleichen (und dann in den Stammbäumen nach weiteren Vergleichsmöglichkeiten suchen), so stünden die Chancen, ein spezielles, für Langlebigkeit verantwortliches gemeinsames Gen bzw. eine ganze Genreihe zu finden, weitaus höher. Eine solche vereinheitlichte Theorie der Genforschung war immer schon Stefanssons höchstes Ziel.

Als im vergangenen Frühjahr der Gesetzesvorschlag zur Einrichtung der Icelandic Health Care Database vorgestellt wurde, waren die Menschen erstaunt über die Hast, mit der Stefansson und seine Verbündeten in der Regierung ans Werk gingen. Da war kein Platz für Diskussionen oder Gegenstimmen. “Das war der Zeitpunkt, an dem wir alle abgesprungen sind”, schilderte mir Sigmundur Gudbjarnason, Professor für Biochemie an der University of Iceland. Gudbjarnason, der in Reykjavik als Gründervater der isländischen Biochemie gilt, half mit, eine Bewegung gegen Stefansson zu organisieren. “Mein ganzes Leben lang habe ich mich dafür eingesetzt, die Wissenschaft in Island auf jede nur erdenkliche Weise zu fördern”, erzählte Gudbjarnason mir eines späten Nachmittags bei einer Tasse Kaffee. “Als Decode vor drei Jahren gegründet wurde, war ich begeistert. Die Probleme haben erst mit dieser Datenbank begonnen. Eine solche Datenbank setzt sich über das Recht auf Privatsphäre und über die Rechte der Patienten hinweg. Decode würde zu einem wissenschaftlichen Monopol werden. Die Gesellschaft ist heutzutage völlig profitorientiert. Es geht nicht mehr um die Wissenschaft, sondern einzig und allein ums Geld.”

Von Anfang an haben sich die isländischen Wissenschaftler gefragt, wie sie mit einem Unternehmen, das Zugang zu allen wichtigen genetischen Informationen des Landes hat, um Forschungsgelder konkurrieren könnten. Ihre Sorge ist, dass Decode, um mit den Worten des hoch angesehenen Populationsgenetikers Einar Arnason zu sprechen, “die massivste Unterstützung in der Geschichte dieses angeblich wettbewerbsorientierten Geschäfts der wissenschaftlichen Forschung” erhalten wird. “Wenn Sie die dadurch angeregten schlechten Wissenschaftspraktiken einmal außer Acht lassen”, erklärte mir Arnason, “dann denken Sie einmal über Folgendes nach: Island bekommt ein paar hundert Arbeitsplätze, die meisten davon im technischen Bereich; Decodewird mehrere Milliarden Dollar verdienen, vielleicht sogar mehr. Erscheint Ihnen das fair?”

Von allen Fragen, die aufgetaucht sind, seit die Regierung erstmals vorschlug, diese Datenbank einzurichten, wird allerdings keine so oft und so lebhaft diskutiert wie die des Datenschutzes. Viele Menschen fürchten, dass eine solche Datenbank – die schließlich eine enorme Sammlung an höchst persönlichen Informationen über jeden einzelnen isländischen Staatsbürger enthalten wird – ganz einfach geknackt und missbraucht werden kann. Die Kritiker befürchten auch, dass derartige persönliche Informationen im Laufe der Zeit, während die Kartierung des menschlichen Erbgutes immer deutlichere Ergebnisse hervorbringt, sogar noch wertvoller – und damit noch stärker missbrauchsgefährdet – werden können, als sie das heute schon sind.

Stefansson weist diese Vorbehalte als das klein karierte Denken der medizinischen Gemeinschaft zurück. “Unser Recht auf die Weiterentwicklung der Medizin hat seinen Preis”, sagte er mir. “Wir haben die moralische Verpflichtung, unser Möglichstes zu tun, um vorwärts zu kommen. Natürlich gibt es gegensätzliche Bedürfnisse: einerseits den Schutz der Privatsphäre, andererseits die Weiterentwicklung der Wissenschaft. Wir leben in einer Zeit, in der diese Bedürfnisse aufeinander prallen. Die heutige Medizin würde nicht existieren, wenn die Privatsphäre das einzige Bedürfnis, das einzige Recht wäre, das jemals wichtig war.”

Stefansson hat schon immer die Meinung vertreten, dass zur Beschaffung der nötigen Geldmittel für diese Aufgabe ein Exklusivvertrag notwendig sei. Er sichert weiters isländischen Forschern eine gebührenfreie Nutzung der Daten zu, solange sie nicht mit einer Konkurrenzfirma zusammenarbeiten. “Ich werde kein Geld in die Einrichtung dieser Datenbank stecken, wenn andere einfach nur zu warten brauchen, bis wir fertig sind, und dann die Rechte übernehmen”, meinte er. Der Plan würde einfach nicht funktionieren, wenn alle 270.000 Isländer erst ihre Einwilligung zu jedem Experiment geben müssten, das Decode durchzuführen hofft. Das kehrt die üblicherweise angewandte Regel der ausdrücklichen Einwilligung um. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Menschen Forschungsobjekte sind, solange sie nicht ausdrücklich erklären, dass sie davon ausgenommen werden wollen. Für die Endometriose-Studien wie auch für viele andere muss Decode derzeit von allen Beteiligten eine schriftliche Einverständniserklärung einholen.

Bei meiner Ankunft in Reykjavik einen Monat vor der entscheidenden Parlamentsabstimmung über die Einrichtung der Gesundheitsdatenbank wurden die unaufhörlichen Querelen zwischen Stefansson und seinen Gegnern, in die bereits der Großteil der isländischen Forschungsgemeinde involviert war, recht hässlich und in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Was im Frühjahr davor als ein politisches Geschäft begonnen hatte, das ohne jegliche Debatte vorbeigehen hätte können, war plötzlich zum heißest umstrittenen Thema Islands geworden. Nach einigen anfänglichen Telefonaten mit verschiedenen Wissenschaftlern wurde ich mit unzähligen E-mails von Leuten bombardiert, die mich über das Gift in Stefanssons Plan – und in seiner Seele – aufklären wollten. Es gab eine Web-Site, die sich dem Kampf gegen diesen Plan widmete. Kein Tag ging vorüber, ohne dass die Zeitungen nicht eine Bombe hochgehen ließen. Während meines Aufenthalts in Reykjavik sowie nach meiner Abreise erhielt ich zahlreiche Anrufe von Vertretern beider Seiten, die mich über die Lügen- und Verschwörungsgeschichten sowie die wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten der jeweils anderen Seite unterrichteten.

“Kari Stefansson hat uns diesen Gesetzesentwurf zwangsverordnet”, erklärte Eirikur Steingrimsson, ein Molekularbiologe an der University of Iceland, den Stefansson mir als den brillantesten jungen Wissenschaftler des Landes beschrieben hatte. “Und genau dagegen wehren wir uns am meisten. Wenn er eine korrekte Vorgangsweise gewählt hätte, wäre die Sache längst erledigt, und es hätte keinerlei Widerstand gegeben.” Steingrimsson erklärte, er fühle sich insbesondere durch die implizierte Vorstellung brüskiert, dass Decode de facto zum Finanzierungszentrum der isländischen Genetik würde. “Keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, bei Kari Stefansson um Fördermittel anzusuchen”, meinte er.

Stefansson hatte bereits einen monatelangen Feldzug für sein Datenbank-Vorhaben geführt und war nahezu pausenlos in Rundfunk und Fernsehen aufgetreten. Im Dezember, in der Woche vor der Endabstimmung im Althing, beschloss er, “so qualvoll es auch für einen impulsiven Menschen ist, den Mund zu halten”, sich nicht länger zu verteidigen, nicht einmal gegen die zahlreichen persönlichen Anklagen, die gegen ihn erhoben wurden. Nachdem ich Reykjavik verlassen hatte, erzählte er mir am Telefon: “Die Leute unterstützen mich noch immer und die Ärzte halten mich für den Teufel in Menschengestalt. Höchste Zeit, der Zukunft ihren Lauf zu lassen.”

Als die Abstimmung näher rückte, erhitzte die emotionale Debatte via Internet weltweit die Gemüter der eng verschworenen Genforschungsgemeinde. Richard Lewontin, Professor für Zoologie und Biologie in Harvard, schlug in aller Öffentlichkeit vor, dass “ein Boykott der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Island für den Fall, dass dieses Gesetz angenommen wird, eine angemessene Maßnahme darstellen würde.” Die Unterstützung für seinen Vorschlag blieb allerdings aus. Viele Forscher, von denen einige durchaus an die Vorzüge dieses Plans glauben, waren beunruhigt. Ihrer Ansicht nach kann man die Erlaubnis zur Errichtung dieser Datenbank mit einem Pfeil vergleichen, der ins Blaue abgeschossen wird: Niemand kann sagen, wohin das alles führen wird.

“Es geht hier nicht nur darum, einen Markt für die isländische DNA zu schaffen”, erläuterte mir Henry T. Greely, Professor für Recht und Co-Direktor des Programms für Genomik, Ethik und Gesellschaft in Stanford. “Hier geht es nicht um Fisch oder Schafwolle. Bei diesem speziellen Produkt handelt es sich um den Geist der gesamten Menschheit. Bevor Island seine DNA in eine Ware umwandelt – noch dazu ohne angemessene Gewinnbeteiligung –, hoffe ich inständig, dass sie sich gut überlegen, was sie da tun.”

Unterstützt wurde die Gesundheitsdatenbank von Ministerpräsident Oddsson. Doch nachdem dieser anfangs seinen festen Glauben an die Verheißungen der Datenbank bekundet hatte, hüllte er sich in Schweigen. Viele Menschen gewannen den Eindruck, er wolle sich elegant aus einem Plan zurückziehen, der zu einem politisch hoch sensiblen Thema geworden war. Bei unserem Treffen in Reykjavik ließ er jedoch rasch durchblicken, dass dies keinesfalls der Wahrheit entspricht.

Oddsson ist ein nachdenklicher Mann, der Gedichte schreibt, sich selbst konservativ einschätzt und sich großer Popularität erfreut. “Offensichtlich haben wir es hier mit einer Vertrauensfrage zu tun”, erklärte er mir an einem stürmischen Sonntagnachmittag, an dem er alleine in seinem Büro bei der Arbeit saß. “Den Isländern geht Vertrauen über alles. Ich habe einmal eine Dokumentation über einen berühmten Verteidiger gesehen. Auf die Frage, wie er die Geschworenen auswählt, antwortete er: ,Zuerst werden alle Fliegenträger aussortiert, denn sie eignen sich am wenigsten zur Teamarbeit. Dann werden all diejenigen aussortiert, die nordeuropäischer Abstammung sind. Diese Menschen sind zu vertrauensvoll und autoritätsgläubig. Nordeuropäer und Skandinavier würden die Zeugenaussage eines Polizisten kaum anzweifeln.‘ Zuerst war ich außer mir und hielt das für ein absolutes Klischee. Doch dann dachte ich kurz darüber nach und kam zu der Erkenntnis, dass er völlig Recht hatte. Ich bin stolz auf diese Eigenschaft und ich glaube, sie ist mit ein Grund, weshalb wir bereit sind, uns ins Zeug zu legen und diese Datenbank zu verwirklichen. Man darf hier nicht nur an die Gefahren denken, sondern auch an die Möglichkeiten, Gutes zu tun – für Island und vielleicht sogar für die gesamte Menschheit. Ich weiß, dass die Ärzteschaft erbost ist. Und ich wünschte, das wäre anders. Aber viele ihrer Einwände besitzen einfach keine Gültigkeit. Wir hätten dieses Gesetz vor sechs Monaten nach einer eintägigen Debatte verabschieden können, doch wir waren an Verbesserungsmöglichkeiten interessiert und haben zugehört. Wenn man sie einmal beruhigen könnte, würden selbst die erbittertsten Gegner bestätigen, dass das vorliegende Gesetz jetzt besser ist als die Version vom April. Aber sie sind unzufrieden, und ich habe den Verdacht, dass einige von ihnen nie zufrieden sein werden. Also ist die Frage für mich sehr einfach: sollten die Zweifel und Ängste der Minderheit mehr wiegen als die Zustimmung von 70 Prozent der Parlamentsmitglieder und 60 Prozent der Öffentlichkeit? Das ganze Jahr über wurde der Plan in der Presse diskutiert. Ich bezweifle, dass irgendeinem Thema in der Geschichte dieser Republik jemals so viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Antwort ist eindeutig. Gehen Sie hinaus und sprechen Sie mit den Leuten auf der Straße. Hören Sie sich an, was sie denken.”

Ich beherzigte diesen Rat und unternahm einen höchst unwissenschaftlichen Abstecher zur Kringlan Shopping Mall, die, abgesehen von ihrer Eigendefinition als “Einkaufs zentrum auf dem Dach der Welt”, ebenso in Paramus liegen könnte; sie verfügt über den wohl bekannten Mix aus diversen Geschäftsketten, Hamburger-Lokalen und Kinos mit einer Schwäche für amerikanische Filme. Meine Umfrage könnte zwar nie in einem rezensierten Wissenschaftsmagazin erscheinen, aber für jeden, der in Amerika jemals eine derartige Umfrage gemacht hat, sind die Ergebnisse höchst aufschlussreich: Niemand war zu sehr in Eile, um meine Fragen zu beantworten. Alle Befragten wussten, worum es geht, und die meisten kannten sogar beeindruckend viele Einzelheiten. Ich fragte alle dasselbe: Ob sie die Datenbank unterstützten, und ob sie bereit wären, sich darin erfassen zu lassen?

Von 40 Befragten gaben zwei keine Antwort, zwei waren dagegen, weil sie kein Vertrauen zu Computern hatten, und zwei sagten, sie müssten erst darüber nachdenken. Alle anderen meinten, sie würden sich am liebsten gleich morgen anmelden. “Es ist so dumm, hier von der Wahrung der Privatsphäre zu sprechen”, meinte der Ingenieur Thor Palmisson. Dann nahm er seine Brieftasche heraus und zeigte mir seine Visa-Karte, eine Air-Traveller-Card (für die Saga Business Class der Icelandair) und die Karte für einen Videoverleih. “Auf jeder dieser Karten steht meine staatliche Identitätsnummer”, erklärte er. “Ohne diese Nummer kann man sich kein Video ausleihen, nicht verreisen, keinen Job finden. Diese Nummern herauszufinden ist ganz einfach. Für mich ist das Ganze nichts weiter als eine gewaltige Attacke gegen Kari. Was werfen sie ihm eigentlich vor? Dass er reich werden will? Soll mir recht sein. Dass er berühmt werden will? Macht mir auch nichts. Ich habe ihn mehr als einmal in Diskussionen zu dem Thema gesehen. Ich glaube nicht, dass sein Motiv Geldgier ist. Wenn er mir ein paar Tropfen Blut abnimmt und dann reich wird, weil er Krebs heilen kann, habe ich absolut nichts dagegen.”

Am 17. Dezember wurde das Gesetz mit 37 zu 20 Stimmen (bei sechs Stimmenthaltungen) im Althing verabschiedet. Doch anstatt den Kampf um die Verwaltung des isländischen Genpools damit zu beenden, wurde die Kampagne gegen Decodedadurch noch verschärft. Der Erlass dieses Gesetzes sei “ein totalitärer Akt, der in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinde einen dunklen Schatten über Island wirft”, meinte der linksorientierte Parlamentsabgeordnete Hjorleifur Guttormsson an diesem Tag. Überwältigt von ihrer Niederlage verglichen Kritiker das Datenbankprojekt mit den Nazi-Experimenten zur Rassenhygiene und der Ausbeutung armer Schwarzer in der Tuskegee-Studie.

“Wer Nazi-Experimente und diese Datenbank in einem Atemzug nennen kann, verdient es nicht, in Island zu leben”, erklärte mir Stefansson am Telefon, als die Rhetorik seiner Gegnerschaft außer Kontrolle geriet. Zuvor hatte ich ihn gefragt, ob er seine Rückkehr nach Island je bereut hätte. “Keinen Augenblick”, war die Antwort. “Das hier ist wichtiger als wir alle zusammen.” Er senkte seine Stimme fast bis zu einem Flüstern und fuhr fort: “Wissen Sie, mein Bruder ist schizophren. Ich will nicht behaupten, dass das meine Motivation ist. Überhaupt nicht. Aber natürlich ist es immer da und lauert im Hintergrund. Es ist mir ständig bewusst. Ich kann nicht wissen, wen es einmal treffen wird. Vielleicht meinen Sohn, meinen Cousin, ein Enkelkind. Man kann es nicht wissen. Das ist die grausame Wahrheit.”

Er fuhr fort: “Ich muss alle davon überzeugen, dass das kein Geschenk für mich ist. Das weiß ich. Aber betrachten Sie die Sache einmal logisch. Sollte die Regierung diese Datenbank leiten oder ein Privatunternehmen? Nehmen wir einmal an, die Regierung hat keine Ahnung, wie man aus einem derartigen Unternehmen Wert schöpft. Davon gehe ich aus – immerhin habe ich nicht fünfzehn Jahre für nichts und wieder nichts an Milton Friedmans Universität verbracht … Hat also die Regierung das Recht, alles, was ich aufgebaut habe, jemand anderem zu übergeben? Technisch gesehen ja – aber es handelt sich um mein geistiges Eigentum.”

Stefansson wird mindestens das nächste halbe Jahr damit verbringen, mit der Regierung die Lizenzbedingungen auszuhandeln. Während dieser Zeit wird er sein Verhältnis zu all jenen verbessern müssen, die er im vergangenen Jahr vor den Kopf gestoßen hat. Mit der Begründung, das Gesetz räume Decode eine unfaire Monopolstellung ein und Decode würde durch den Umgang mit seinen Forschungsobjekten die Menschenrechte verletzen, drohen isländische Wissenschaftler bereits mit gerichtlichen Schritten gegen Stefansson. Dieser ist sich bewusst, dass er auf die hundertprozentige Zusammenarbeit mit den isländischen Ärzten angewiesen ist. Für die Datenbank benötigt er genaue Informationen über die Patienten, ihre Krankheiten, Symptome, die verordneten Medikamente und ihre Behandlung. Ansonsten wäre die Datenbank völlig nutzlos. “Aber denken Sie an die verschiedenen Möglichkeiten”, meinte Stefansson an dem Tag, als das Gesetz verabschiedet wurde. “Vielleicht funktioniert das Ganze nicht, und wir gehen Bankrott. Wir verlieren Geld. Unsere Investoren ebenfalls. Vielleicht kommen wir gerade über die Runden. Und vielleicht machen wir ein Vermögen. Wir haben es hier mit echten Risiken zu tun. Meine Kritiker haben absolut keine Ahnung, wovon sie sprechen. Nicht die geringste.”

In Wirklichkeit haben viele von ihnen sehr wohl eine Ahnung. Die Genomik wird mit Sicherheit rasch anwachsen, und es braucht nicht gerade viel Fantasie, um sich den Missbrauch genetischer Informationen auszumalen. Wir wollen hier nur eine offensichtliche Frage herausgreifen: Sollten Versicherungsgesellschaften oder Arbeitgeber das uneingeschränkte Recht haben, Daten zu erwerben, aus denen sich ableiten lässt, bei wem das höchste Risiko für vorzeitiges Ableben durch eine Herzkranzarterien- oder Krebserkrankung besteht? In Island, wo jedermann garantierten Zugang zur Gesundheitsversorgung hat, mag das kein Problem sein; in den meisten anderen Ländern allerdings sehr wohl. Und wie steht es um das genetische Merkmal, das die viralen Fähigkeiten des HIV-Virus verstärkt? Oder die Wahrscheinlichkeit einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit erhöht? Stefanssons Forschungen im Bereich der Langlebigkeit sind neuartig und aufregend, doch wenn Decode herausfindet, welche Gene für Langlebigkeit verantwortlich sind, würden die meisten Versicherungsgesellschaften wissen wollen, wer diese hat. Und was, wenn sich herausstellt, dass Sie sie nicht haben?

“Es gibt auf keine dieser Fragen eine Antwort”, meinte der kürzlich zum Gesundheitsminister ernannte Sigurdur Gudmundsson. “Seit einem Jahr hänge ich in der Luft. Das ist schmerzlich. Natürlich gibt es ernste Gefahren. Ob es mir Angst macht? Ja, sehr. Aber wir müssen einen Weg finden, wie wir das realisieren können. Die Vorteile überwiegen ganz einfach die Nachteile. Das heißt nicht, dass es keine Zweifel gibt. Wir betreten hier eine neue Welt. Doch meiner Meinung nach ist es nicht vermessen zu behaupten, dass wir hier ein beispielloses Instrument zur Verfügung haben könnten. Ich glaube nicht, dass dieses Land es sich leisten kann, einfach dazusitzen und zu sagen: ,Nein danke. Tut uns Leid, aber wir wollen uns an Regeln halten, die in einer anderen Zeit für eine andere Welt gegolten haben.‘” Das wäre in den Augen Gudmundssons und vieler anderer, die ebenso wohl überlegt und ebenso besorgt sind wie er, letztendlich das dümmste Risiko von allen.