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Gene und Gerechtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart


'Daniel J. Kevles Daniel J. Kevles

Im April 1991 wurde in Paris über dem großen Bogen von La Défense eine Ausstellung eröffnet, die den Titel: La Vie en Kit – Leben im Reagenzglas – Éthique et Biologie trug und u. a. Exponate zur Molekulargenetik und zum Human-Genomprojekt zeigte. Die ethischen Bedenken wurden in einem Beitrag des Schriftstellers Monette Vaquin zum Ausstellungskatalog offenbar, der auch gut sichtbar neben dem Genom-Schaukasten plakatiert war:

Was für ein Paradoxon – heute gibt ausgerechnet die Generation nach dem Nationalsozialismus der Welt eugenische Instrumente in die Hand, die Hitlers kühnste Träume übertroffen hätten. Als würde das Undenkbare der Vätergeneration die Erkenntnisse der Söhne heimsuchen. Die Wissenschaftler von morgen werden über eine Fähigkeit verfügen, die jede uns bisher bekannte in den Schatten stellt: über die Möglichkeit zur Manipulation des Genoms. Welche Sicherheit gibt es, dass sie einzig und allein der Vermeidung von Erbkrankheiten dienen wird?
Vaquins Befürchtungen, immer wieder von Wissenschaftlern und Gesellschaftsanalytikern wiederholt, zeigen, dass der Schatten der Eugenik über allen Diskussionen lastet, die sich mit den sozialen Implikationen der Humangenetik auseinandersetzen – vor allem aber über den potenziellen Konsequenzen des Human-Genomprojekts. Die Frage lautet: Stellen die eugenischen Entwicklungen der Vergangenheit einen Prolog für die genetische Zukunft des Menschen dar?

Eugenische Ideen lassen sich zumindest bis Plato nachweisen; aber in ihrer modernen Form beginnt die Eugenik mit Francis Galton. Galton, ein jüngerer Cousin von Charles Darwin und selbst hervorragender Wissenschaftler, schlug Ende des 19. Jahrhunderts vor, die menschliche Spezies nach Art der Tier- und Pflanzenzucht zu verbessern – durch Eliminierung von “unerwünschten Elementen” und Vermehrung von “erwünschten”. Von Galton stammt auch die Bezeichnung dieses Programms, das die Verbesserung des Menschen zum Ziel hat: Eugenik (das Wort geht auf eine griechische Wurzel mit der Bedeutung “von edler Abstammung” oder “von hoher Geburt” zurück). Nach Galton sollte die Eugenik die menschliche Spezies verbessern, und zwar “durch eine Erhöhung der Chancen für die tüchtigeren Rassen und Geschlechter, sich rasch gegen die weniger tüchtigen durchzusetzen”.

Populär wurden Galtons eugenische Ideen nach der Jahrhundertwende, als sie in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, Deutschland und vielen anderen Ländern zahlreiche Anhänger fanden. Es entstanden eugenische Organisationen, wie die American Eugenics Society im Jahr 1923, die u. a. jährlich im Rahmen der State Fairs (1)eugenische Exponate ausstellte. Mitglieder der weißen Mittelschicht und des gehobenen weißen Mittelstands, vor allem Laien und Wissenschaftler, insbesondere Genetiker und viele Ärzte, bildeten den Kern der Bewegung. Die Eugeniker hatten sich den Kampf gegen die soziale Degeneration auf ihre Fahnen geschrieben, die sie in den Städten der Industriegesellschaft sowohl auf sozialer als auch auf Verhaltensebene überall zu entdecken glaubten. Kriminalität, Slums und die große Zahl an grassierenden Krankheiten beispielsweise galten ihnen als Symptome sozialer Pathologien, deren Ursachen sie in erster Linie auf biologische Faktoren zurückführten – auf das Blut, um es mit dem um die Jahrhundertwende so beliebten Begriff erblicher Essenz auszudrücken.

Eugenisch denkende Biologen sahen in den Ursachen der sozialen Degeneration ein Übel, das es mit der Wurzel auszureißen galt. Einige von ihnen begannen daher die menschliche Vererbung aus der Sicht der Eugenik zu untersuchen. Die Erforschung von Diabetes, Epilepsie und anderen Erkrankungen war nicht aus bloßem Interesse Teil des humangenetischen Forschungsprogramms, sondern auch wegen ihrer sozialen Kosten. Noch größere Bedeutung wurde jedoch der Analyse von Charaktermerkmalen beigemessen, die für soziale Missstände verantwortlich gemacht wurden – Charakter- und Verhaltenseigenschaften, in denen man z. B. die Ursachen für Alkoholismus, Prostitution, Kriminalität oder Armut vermutete. Besonders beliebter Untersuchungsgegenstand waren die zur damaligen Zeit gemeinhin als “Schwachsinn” bezeichneten geistigen Behinderungen. Diese wurden häufig mithilfe von Intelligenztests nachgewiesen und galten im Allgemeinen als Ursache für die unterschiedlichsten Formen asozialen Verhaltens.

In der Hoffnung, die sozialen Missstände biologisch erklären zu können, griffen die Eugenikforscher auf die im Jahr 1900 wieder entdeckten Mendelschen Vererbungsgesetze zurück. Sie gingen von einer Determination des biologischen Charakters durch singuläre – später als Gene identifizierte – Faktoren aus. Dem lag die Vorstellung zu Grunde, nicht nur physische Merkmale wie die Farbe der Augen oder bestimmte Krankheiten könnten mit Mendels Theorie erklärt werden, sondern auch Intelligenz und verhaltensmäßige Eigenheiten. Charles B. Davenport, der große amerikanische Biologe, Eugeniker und Leiter des Biologielabors in Cold Spring Harbor, Long Island, New York, aus dem im Jahre 1918 die Carnegie Institution of Washington’s Department of Genetics hervorging, versuchte, die Mendelschen Vererbungsmuster in zahlreichen Verhaltenskategorien nachzuweisen, einschließlich der von ihm so benannten Merkmale “Nomadismus”, “Trägheit” oder “Thalassophilie” – die Liebe zum Meer, die er bei Marineoffizieren entdeckt und auf einen geschlechtsspezifischen, rezessiven Faktor zurückführte, da diese Eigenschaft – ebenso wie Farbenblindheit – fast ausschließlich bei Männern anzutreffen war. Auf einem Schaubild der Kansas Free Fair, das die Wirkung der Mendelschen Vererbungs“gesetze” beim Menschen darstellen sollte, stand im Jahr 1929 zu lesen: “Schlechte menschliche Eigenschaften wie Schwachsinn, Epilepsie, Kriminalität, Geisteskrankheit, Alkoholismus, Armut und viele andere liegen in der Familie. Ihre Vererbung folgt exakt denselben Prinzipien wie die Vererbung der Farbe bei Meerschweinchen.”

Manche eugenische Untersuchungen brachten durchaus brauchbare Ergebnisse, dass z. B. Chorea Huntington von einem dominanten, Albinismus von einem rezessiven Gen verursacht wird. Letztendlich wurde jedoch die Sinnlosigkeit vieler dieser Studien erkannt. Durch die Verquickung der Mendelschen Theorie mit riskanten Spekulationen überschätzten viele Eugeniker monogene Erklärungen und übersahen die Bedeutung polygener Komplexität. Zudem wurde bei der Bewertung mentaler Fähigkeiten (schlechte Ergebnisse bei Intelligenztests etc.) und des Sozialverhaltens (Prostitution usw.) kulturellen, ökonomischen und Umwelteinflüssen viel zu wenig Beachtung geschenkt. Wie Davenports Verhaltenskategorien waren viele andere Merkmale, die in der Eugenik zählten, vage oder überhaupt lächerlich.

Klassen- und Rassenvorurteile waren in der Eugenik allerorts anzutreffen. In Nordeuropa und den Vereinigten Staaten stellte die Eugenik Normen für Lebenstüchtigkeit und sozialen Wert auf, die in erster Linie weiß, Mittelschicht und protestantisch lauteten – und mit “arisch” gleichgesetzt wurden.

Die Armut der unteren Einkommensklassen, so argumentierten die Eugeniker, sei nicht auf unzureichende Chancen in Bildung und Wirtschaft zurückzuführen. Den Betroffenen fehle vielmehr auf Grund ihrer biologischen Ausstattung die Voraussetzung für Bildung und Moral. Die Verherrlichung der Arier durch die Eugeniker spiegelte ihre eigenen rassistischen Vorurteile wider. Einer unhaltbaren Anthropologie verhaftet, bezeichnete Davenport die Polen als “unabhängig und selbstbewusst, wenn auch sippenbezogen”, bei in den Italienern sah er einen Hang zu “Gewalt in privaten Beziehungen” und die Hebräer ordnete er “zwischen den schlampigen Serben und Griechen und den ordnungsliebenden Schweden, Deutschen und Böhmen ”ein und schrieb ihnen eine Neigung zum “Diebstahl”, weniger jedoch zu “privater Gewalt” zu. Seiner Meinung nach würde sich der “große Zustrom von Menschen südosteuropäischer Abstammung” in kürzester Zeit in einer “dunkleren Haut- und Haarfarbe, einem kleineren Wuchs sowie einem unbeständigeren Wesen” der amerikanischen Bevölkerung bemerkbar machen. Diese würde zudem “stärker als bisher zu Verbrechen wie Diebstahl, Kidnapping, Körperverletzung, Mord und Vergewaltigung sowie zu sexueller Zügellosigkeit tendieren”.

Eugeniker wie Davenport plädierten für Eingriffe in die menschliche Fortpflanzung, um die Häufigkeit sozial positiver Gene in der Bevölkerung zu erhöhen und die der schlechten zu verringern. Dies sollte auf zweierlei Art geschehen: Zum einen mittels “positiver” Eugenik, d. h., durch Einflussnahme auf die menschliche Vererbung und/oder Züchtung genetisch höherwertiger Menschen. Zum anderen mittels “negativer” Eugenik, einer qualitativen Verbesserung der menschlichen Spezies durch Eliminierung biologisch minderwertiger Individuen. Zu diesem Zwecke sollten biologisch minderwertige Menschen an der Fortpflanzung bzw. an der Vermischung mit der eigenen Bevölkerung gehindert werden.

Die praktischen Auswirkungen der positiven Eugenik hielten sich allerdings in Grenzen, sieht man von der Rolle ab, die sie bei der Einführung der Kindergeldpolitik in Großbritannien und Deutschland in den Dreißigerjahren spielte. Und zweifellos spiegelten auch die “Fitter-Family”-Wettbewerbe, die in den Zwanzigerjahren fix zum eugenischen Programm der State Fairs gehörten und in der Abteilung “Humangut” stattfanden, eugenische Vorstellungen wider. Auf der Kansas Free Fair im Jahre 1924 überreichte Gouverneur Jonathan Davis den siegreichen Familien der drei Kategorien “klein”, “mittel” und “groß” die Governor’s Fitter Family Trophy. “Grade A Individuals” (“Klasse I Individuen”) erhielten eine Medaille, auf der zwei durchsichtig gewandete Eltern, die Arme nach ihrem (vermutlich) mit allen eugenischen Vorzügen ausgestatteten Kind ausgestreckt, abgebildet waren. Warum diese Familien und Einzelpersonen als besonders tüchtig galten, können wir heute nur schwer feststellen. Eine Ahnung davon gibt uns die Tatsache, dass sämtliche Teilnehmer einen Intelligenztest absolvieren mussten – und den Wasserman-Syphilistest.

Die negative Eugenik wurde weitaus stärker forciert, vor allem was die Gesetzgebung zur eugenischen Sterilisation betrifft. Ende der Zwanzigerjahre waren in ca. zwei Dutzend amerikanischen Bundesstaaten derartige Gesetze in Kraft. Im Urteil Buck v. Bell bestätigte das amerikanische Höchstgericht 1927 die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze. Darin vertrat Richter Oliver Wendell Holmes die Auffassung, drei Generationen an Schwachsinnigen seien genug. Kalifornien tat sich auf diesem Gebiet besonders hervor – ab 1933 wurden in diesem Staat mehr Menschen der eugenischen Sterilisation unterzogen als in allen anderen Bundesstaaten der USA zusammen.

Die folgenreichste Verbindung gingen Eugenikforschung und Politik im nationalsozialistischen Deutschland ein. Die eugenische Forschung vor und sogar während des Dritten Reiches unterschied sich nicht wesentlich von der in Großbritannien und den USA. Die eugenischen Forschungseinrichtungen Hitler-Deutschlands erhielten von den Nazi-Bürokraten jedoch kräftige Unterstützung. Zur Vervollkommnung der nationalsozialistischen Politik wurden ihre Forschungsprogramme ausgeweitet und Untersuchungen über die Erblichkeit von Krankheiten, Intelligenz und Verhalten dazu benutzt, die Regierung in Fragen der Sterilisationspolitik zu beraten. Am Fischer-Institut, dem übrigens der berühmte Genetiker Otmar von Verschuer angehörte, wurden SS-Ärzte in den Feinheiten der Rassenhygiene ausgebildet und Daten bzw. Proben aus Konzentrationslagern analysiert. Teile des untersuchten Materials – wie die Organe toter Kinder oder die Skelette von zwei ermordeten Juden – stammten von Josef Mengele, der nach Abschluss seiner Ausbildung bei Verschuer studiert hatte und als sein Assistent arbeitete. 1942 folgte Verschuer Fischer als Institutsvorstand nach. (Er hatte übrigens im Nachkriegsdeutschland die Position eines Professors für Humangenetik an der Universität Münster inne.) Die Eugenikbewegung war in Deutschland, wo man sich zum Teil an den kalifornischen Gesetzen orientierte, für die Sterilisation mehrerer hunderttausend Menschen verantwortlich, und bereitete nicht zuletzt den Weg für die Konzentrationslager.

Bereits seit der Entdeckung der DNA stellt sich die Frage, ob das neue genetische Wissen in den Dienst der positiven Eugenik gestellt, für die Schaffung einer überlegenen menschlichen Rasse genutzt oder zumindest zur Konstruktion neuer Einsteins, Mozarts oder Athleten wie Kareem Abdul-Jabbar herangezogen werden wird. (Eigenartigerweise werden hoch begabte Frauen, wie beispielsweise Marie Curie und Nadia Boulanger oder Athletinnen wie Martina Navratilova selten bis nie dem Pantheon der Übermenschen zugezählt.) Auf Genomprojekt-Konferenzen wird fast immer die Befürchtung geäußert, der Staat könnte versuchen, bestimmte, für wertvoll erachtete Merkmale und Eigenschaften des Menschen zu fördern oder zu verbessern. Ganz aus der Luft gegriffen sind derartige Ängste nicht. Im Jahr 1984 beklagte der Ministerpräsident von Singapur, Lee Kuan Yew, die relativ niedrige Geburtenrate unter den gebildeten Frauen seines Landes. Als überdurchschnittlich intelligente Frauen ließen sie Singapurs Genpool verkümmern. Im Sinne einer primitiven positiven Eugenik entwickelte die Regierung seither eine Reihe von Anreizen (beispielsweise die bevorzugte Behandlung von Kindern bei der Schuleinschreibung), um die Zahl der Schwangerschaften unter diesen Frauen zu erhöhen. Ähnliche Anreize sollten ihre nicht so gebildeten Schwestern veranlassen, einer Sterilisation nach dem ersten oder zweiten Kind zuzustimmen.

Dennoch wird das zunehmende Wissen um genetische Zusammenhänge vermutlich nicht in den neuerlichen Versuch münden, eine überlegene menschliche Rasse zu schaffen. Das Human-Genomprojekt wird sicherlich die Identifizierung von Genen für physische und medizinisch relevante Merkmale des Menschen beschleunigen. Es wird aber so bald wahrscheinlich keinen Aufschluss geben, wie Gene die von uns so bewunderten Eigenschaften Begabung, Verhalten oder Persönlichkeit beeinflussen. Nicht weniger wichtig ist die Tatsache, dass die derzeitigen Reproduktionstechnologien ein menschliches Designer-Genom nicht erlauben – und daran wird sich voraussichtlich auch in der nahen Zukunft nicht viel ändern.

Zahlreiche warnende Stimmen – wie Behindertenrechtsaktivisten oder der verstorbene Nobelpreisträger und Biologe Salvador Luria – haben auf die Gefahr hingewiesen, dass die negative Eugenik durch das Human-Genomprojekt eine Renaissance erleben könnte. Prinzipiell werden die Träger von Genen, die für nachteilige physische (oder vermeintlich asoziale) Merkmale verantwortlich sind, leicht festzustellen sein. Um die Verbreitung dieser Gene in der Bevölkerung zu verhindern, könnte der Staat also in das Reproduktionsverhalten seiner Untertanen eingreifen. Tatsächlich wurde 1988 in der chinesischen Provinz Gansu ein Gesetz erlassen, das – so hieß es vonseiten der Behörden – die “Qualität der Bevölkerung” verbessern sollte. Dieses Gesetz verbot die Heirat geistig zurückgebliebener Menschen, die sich nicht zuvor einer Sterilisation unterzogen hatten. Derartige Vorschriften sind mittlerweile auch in anderen Provinzen in Kraft und fanden die Unterstützung von Ministerpräsident Li Peng. Das offizielle Nachrichtenorgan Peasants Daily brachte es folgendermaßen auf den Punkt: “Idioten bringen Idioten auf die Welt.”

Auch ein Vorschlag der Europäischen Kommission vom Juli 1988, der den Aufbau eines Human-Genomprojekts in der Europäischen Gemeinschaft vorsah, scheint in der negativen Eugenik zu wurzeln. Dieser Vorschlag, als gesundheitsfördernde Maßnahme bezeichnet, trug den Titel “Prädiktive Medizin: Menschliche Genomanalyse”. Begründet wurde dieser Schritt mit einem einfachen Syllogismus: Zahlreiche Krankheiten entstünden in einem Zusammenspiel von Erbfaktoren und Umwelt, die Ausschaltung aller pathogenen Umweltfaktoren sei jedoch nicht möglich. Der Schutz der Bevölkerung vor Krankheiten könnte daher am besten durch das Aufspüren individueller genetischer Prädispositionen erreicht werden. Der Vorschlag formulierte es folgendermaßen: “Die prädiktive Medizin bemüht sich um den Schutz des einzelnen vor Krankheiten, für die er genetisch anfällig ist, und versucht darüber hinaus – wo dies angebracht erscheint – die Weitergabe dieser genetischen Anfälligkeiten an die nächste Generation zu verhindern.”

Nach Ansicht der Kommission stand der Vorschlag im Einklang mit den wesentlichen Forschungs- und Entwicklungszielen der Gemeinschaft. Durch die verringerte Prävalenz vieler Krankheiten, die den Familien großes Leid und der europäischen Gesellschaft hohe Kosten verursachten, würde das Projekt zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Langfristig gesehen sollte es Europa konkurrenzfähiger machen –indirekt durch ein langsameres Ansteigen der medizinischen Ausgaben und direkt durch eine Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen. Um den Wohlstand in Europa durch die Schaffung eines “gesunden Europa” zu erhöhen, schlug die Kommission ein Genomprojekt in bescheidenem Rahmen vor und stellte dafür ab 1. Jänner 1989 15 Millionen ECU (ca. 17 Millionen Dollar) für einen Zeitraum von drei Jahren zur Verfügung.

Wirtschaftliche Aspekte könnten der negativen Eugenik sehr wohl zu neuer Popularität verhelfen. Zweifellos war die Eugenikbewegung von der Sorge um wachsende Kosten beeinflusst. Die sozialen Missstände zu Beginn unseres Jahrhunderts nahmen in kostspieligem Ausmaß zu. Auf der “Sesquicentennial Exposition” in Philadelphia stellte die American Eugenics Society 1926 u. a. eine in der Art moderner Volkszählungen gehaltene Tafel aus, der zufolge der Steuerzahler alle 15 Sekunden 100 Dollar für die Versorgung einer Person mit schlechtem Erbmaterial zahlen musste. Auf der Tafel war ferner zu lesen, dass in den Vereinigten Staaten alle 48 Sekunden ein geistig behindertes Kind geboren wurde, und nur alle siebeneinhalb Minuten “ein hochwertiger Mensch mit Führungsqualitäten und der Fähigkeit zu kreativem Arbeiten” zur Welt kam. Die Säuberung des Genpools von schlechten Genen, so wurde argumentiert, könnte diese (heute als staatliche und kommunale Wohlfahrtsaufwendungen bezeichnete) Kosten reduzieren, indem sie die staatlichen Ausgaben für die Unterbringung “Schwachsinniger” in öffentlichen Einrichtungen, d. h. in staatlich finanzierten Krankenhäusern und Institutionen für geisteskranke, körperbehinderte und kranke Menschen senken. Bezeichnend für diese Argumentation ist vielleicht, dass in Kalifornien und einigen anderen Bundesstaaten die Zahl eugenischer Sterilisationen in den Dreißigerjahren signifikant zunahm, während gleichzeitig die staatliche Unterstützung für geistig Behinderte stark reduziert wurde.

Je mehr das Gesundheitswesen in den USA zur öffentlichen, von Steuerzahlern finanzierten Aufgabe wird, und je kostenintensiver dieses System wird, desto eher werden sich die Steuerzahler gegen die Unterstützung von Menschen auflehnen, die genetisch bedingt an schweren Krankheiten oder Behinderungen leiden. Eines ist sicher: Je mehr wir über das menschliche Genom wissen, desto deutlicher wird, dass wir alle für den einen oder anderen genetischen Defekt anfällig sind: Jeder von uns trägt eine genetische Bürde mit sich herum und läuft Gefahr, krank zu werden. Da alle Menschen von genetischen Erkrankungen bedroht sind, müssten auch alle an einem gut finanzierten, öffentlichen Gesundheitssystem und seiner Zugänglichkeit interessiert sein (Sozialversicherung). Nun ist aber nicht jeder Mensch im selben Ausmaß genetisch belastet – der eine mehr (und mit teureren Konsequenzen), der andere weniger. Aus Kostengründen werden wahrscheinlich sogar staatliche Gesundheitssysteme versuchen, je nach Höhe der Therapie- und Pflegekosten Unterschiede zwischen ihren Patienten zu machen. Politiker könnten sich genötigt sehen, von der Geburt genetisch beeinträchtigter Kinder abzuraten oder diese überhaupt zu verhindern – nicht um den Genpool zu verbessern, sondern um die Ausgaben für das öffentliche Gesundheitswesen gering zu halten.

Aus mehreren Gründen wird das Szenario einer sozial kontrollierten Reproduktion jedoch wahrscheinlich nicht Wirklichkeit werden – und noch weniger eine negative Eugenik auf breiter Basis. Wer sich mit den Freiheitsrechten beschäftigt, weiß, dass die Freiheit zur Fortpflanzung weitaus häufiger in Diktaturen beschnitten wird als in Demokratien. Die Eugenik profitiert von autoritären Regimen – ja, benötigt sie fast. Demokratische Institutionen waren vielleicht nicht in allen Fällen gegen die Verletzung von Freiheitsrechten gefeit, wie sie für die frühe Eugenikbewegung typisch waren. Vielerorts wurde derartigen Versuchungen jedoch widerstanden. So erließ beispielsweise die britische Regierung keine eugenischen Sterilisationsgesetze. Auch viele amerikanische Bundesstaaten handelten in diesem Sinne, und selbst wenn solche Gesetze in Kraft traten, wurden sie in vielen Fällen nicht umgesetzt. Solange sich am demokratischen System der USA und an der Bill of Rights nichts ändert, ist die Entwicklung eines Eugenikprogrammes nach nationalsozialistischem Vorbild in den Vereinigten Staaten von heute nicht zu befürchten. Sollte in den USA oder in Europa tatsächlich die Schaffung eines Nazi-ähnlichen Eugenikprogrammes drohen, hätte die betroffene Bevölkerung wohl noch ganz andere politische Sorgen als die Angst vor eugenischen Maßnahmen allein.

Moderne demokratische Systeme haben einflussreiche anti-eugenische Wählergruppen, die ein Zusammenspiel zwischen Staat und Eugenik sehr unwahrscheinlich machen. Die meisten Genetiker sowie weite Teile der Bevölkerung sind sich der Barbarei und Grausamkeit einer vom Staat geförderten Eugenik bewusst und lehnen solche Programme ab. Anders als ihre Kollegen in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts schätzen moderne Genetiker alles, was “gut für den Genpool” ist, als äußerst problematisch ein. Hinzu kommt, dass behinderte und kranke Menschen ebenso wie Minderheiten heute über größeren politischen Einfluss verfügen als zu Beginn des Jahrhunderts. Die Macht dieser Gruppen reicht vielleicht nicht aus, um sämtlichen quasi-eugenischen Gefahren einen Riegel vorzuschieben. Aber sie sind politisch anerkannt und haben Verbündete in den Medien, in der Ärzteschaft, in der römisch-katholischen Kirche etc., mit deren Hilfe sie nachteilige eugenische Entwürfe abblocken oder zumindest behindern können. Die Kirche, von Anfang an ein erklärter Gegner der Eugenik, trat 1930 in der päpstlichen Enzyklika Casti Connubii, die u. a. auch die Geburtenkontrolle, die Sterilisation sowie die freie Liebe verurteilte, offiziell gegen die Eugenik auf. Die allseits bekannte ablehnende Haltung der Kirche in der Abtreibungsfrage lässt sie auch jene Form der Eugenik bekämpfen, vor der sich Behindertenvertreter heute fürchten. Diese erfordert nämlich zurzeit noch die Abtreibung der Föten, die mittels Amnioszentese, Ultraschall oder einer Kombination beider Methoden als “defekt” diagnostiziert wurden.

Nachdem der Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Human-Genomprojekt zur Förderung der prädiktiven Medizin dem Europäischen Parlament zur Begutachtung vorgelegt worden war, bildete sich eine typische anti-eugenische Koalition. Die primäre Zuständigkeit für die Beurteilung dieses Vorschlages wurde am 12. September 1988 dem Ausschuss für Forschung, technologische Entwicklung und Energie erteilt. Dieser prüfte den Vorschlag in mehreren Sitzungen und war Ende Jänner 1989 soweit, über einen entsprechenden Bericht abzustimmen. Der Entwurf eines solchen Berichts wird von einem Rapporteur, einem Parlamentsmitglied, geleitet, der speziell für diese Aufgabe gewählt wird und auf die endgültige Stellungnahme des Ausschusses großen Einfluss nehmen kann. Im Fall der Genomprojektinitiative war der Rapporteur Benedikt Härlin, ein Mitglied der Grünen Partei Westdeutschlands. Dort stieß die Gentechnik in weiten Kreisen, ganz besonders jedoch bei den Grünen, auf Ablehnung. Das grüne Eintreten für den Umweltschutz ist begleitet von einem Misstrauen gegen die Technik und gegen Manipulationen am menschlichen Genom. Die harten Restriktionen, denen die Biotechnologie in Westdeutschland unterworfen ist, wurden mit Unterstützung der Grünen durchgesetzt. Diese hatten auch ihren Widerstand gegen Forschungen am menschlichen Erbgut damit begründet, sie könnten der biologischen Politik der Nationalsozialisten zu neuer Popularität verhelfen. James Burn, ein schottischer Experte in Sachen Biotechnologie und seit vielen Jahren in Westdeutschland ansässig, sagte einmal einem Journalisten: “Die Deutschen haben eine tiefsitzende, verständliche Angst vor allem, was mit Genforschung zu tun hat. Gerade dieser Wissenschaftszweig erinnert sie an alles, was sie vergessen möchten.” Im Bemühen, das Gedächtnis der Europäischen Gemeinschaft wachzuhalten, sprach sich der Härlin-Bericht gegen ein Genomprojekt im Namen der Präventivmedizin aus. Er erinnerte die Gemeinschaft an die “schrecklichen Folgen” eugenischer Ideen in der Vergangenheit und erklärte, der Versuch, die Menschen vor genetisch bedingten Krankheiten und deren Vererbung zu schützen, “spiegle eindeutig eugenische Tendenzen und Ziele wider”. Die Verwendung genetischer Informationen zu diesem Zweck würde fast immer eine – zutiefst eugenische – Entscheidung darüber verlangen, “welche genetische Ausstattung des einzelnen vor und nach seiner Geburt als normal oder abnormal, erwünscht oder unerwünscht, lebensfähig oder nicht lebensfähig anzusehen” ist. Der Härlin-Bericht warnte außerdem davor, die neuen Bio- und Reproduktionstechnologien könnten den Boden für eine “moderne Reagenzglas-Eugenik” bereiten. Diese Form der Eugenik sei besonders heimtückisch, da sie sich besser als ihre primitiven Vorläufer zur Tarnung “einer noch radikaleren und totalitäreren Form der 'Biopolitik' eigne.” Die primäre Aufgabe der europäischen Gesundheits- und Forschungspolitik bestünde darin, “alle eugenischen Tendenzen in der Erforschung des menschlichen Genoms zu verhindern”. Der Bericht kam zu dem Schluss, in der vorliegenden Form sei der Vorschlag “inakzeptabel”.

Tatsächlich ging es Härlin darum, den Vorschlag in eine annehmbare Form zu bringen, nicht, ihn zu verwerfen. (“Man kann Deutschland nicht von der Zukunft ausschließen”, kommentierte er zu einem späteren Zeitpunkt das Engagement seines Landes in der Genforschung.) Am 25. Jänner 1989 nahm der Energieausschuss den Härlin-Bericht mit zwanzig zu einer Stimme an. Das kam einer Aufforderung an das Parlament gleich, den Vorschlag der Europäischen Kommission unter Berücksichtigung der im Bericht aufgezählten 38 Änderungen zu billigen. Einer dieser Änderungsanträge bezog sich auf die völlige Streichung des Begriffes “prädiktive Medizin” aus dem Entwurfstext. In den angestrebten Modifikationen ging es im Wesentlichen um die Verhinderung einer eugenisch orientierten Gesundheitspolitik, um das Verbot von Forschungen zur Veränderung der menschlichen Keimbahn, um die Geheimhaltung und Anonymität persönlicher genetischer Daten sowie um die Sicherstellung einer permanenten Debatte über die sozialen, ethischen und juristischen Dimensionen der Genforschung. Die erste Lesung des Härlin-Berichts Mitte Februar 1989 verlief rasch und problemlos, der Bericht fand nicht nur die Zustimmung der Grünen, sondern auch der Konservativen von beiden Seiten des Ärmelkanals (inklusive der deutschen Katholiken). Diese Vorgangsweise des Europäischen Parlaments veranlasste Anfang April 1989 Filip Maria Pandolfi, den neuen Europakommissar für Forschung und Entwicklung, die finanzielle Unterstützung der EG für Forschungen am menschlichen Genom auf unbestimmte Zeit einzufrieren. Es war das erste Mal, dass ein Kommissar ein von Brüssel selbst initiiertes Projekt blockierte. Pandolfi erklärte, man benötige Zeit zum Nachdenken, denn “wenn britische Konservative mit deutschen Grünen einer Meinung sind, ist klar, dass die Sache wichtig ist”. Die Nachdenkpause führte Mitte November zu einem Modifizierten Entwurf durch die Europäische Kommission, der nicht nur den Tenor der Änderungsanträge, sondern in manchen Fällen sogar ihre Sprache übernahm. Der neue Entwurf forderte ein 3-Jahres-Programm, das sich auf die Analyse des menschlichen Genoms beschränkte, ohne prädiktivmedizinische Aspekte zu berücksichtigen. Er verpflichtete die Gemeinschaft außerdem in mehrfacher Hinsicht – in erster Linie durch ein Verbot von Forschungen an der menschlichen Keimbahn und von genetischen Manipulationen an Embryos – zum Verzicht auf eugenische Praktiken, zur Vermeidung ethischer Fehlentwicklungen und zum Schutz der Persönlichkeitsrechte und des Privatbereichs. Er enthielt außerdem das Versprechen, das Parlament und die Öffentlichkeit in jährlichen Berichten über die moralischen und juristischen Grundlagen der menschlichen Erbgutforschung auf dem Laufenden zu halten. Am 15. Dezember 1989 übernahm der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft den Modifizierten Entwurf als seinen gemeinsamen Standpunkt zum Genomprojekt. Am 29. Juni 1990 – das Parlament hatte keine Einwände vorgebracht – präsentierte der Rat diese gemeinsame Position als das Human-Genomprojekt der Europäischen Gemeinschaft. Es war für drei Jahre anberaumt und mit einem Budget von insgesamt 15 Millionen ECU ausgestattet, 7 % dieser Summe sollten in ethische Studien fließen.

Die eugenischen Entwicklungen der Vergangenheit stellen nur in einem streng zeitlichen Sinn den Prolog für die genetische Zukunft des Menschen dar. Die der Gentechnik zugeschriebenen Anwendungsmöglichkeiten und Perspektiven verlieren natürlich nichts von ihrem Reiz, auch wenn sie noch ins Reich der Sciencefiction gehören. Sie werden auch in Zukunft ängstliche Ablehnung und enthusiastische Spekulationen gleichermaßen hervorrufen. Die ethischen Herausforderungen jedoch, mit denen uns das Human-Genomprojekt in naher Zukunft konfrontieren wird, liegen nicht im individuellen Streben nach besseren Erbanlagen oder in staatlich initiierten Eugenikprogrammen, sondern ergeben sich aus der Fülle an genetischer Information, die das Projekt produzieren wird. Sie betreffen vor allem die Kontrolle, Verbreitung und Verwendung dieser Daten im Rahmen der Marktwirtschaft und sind äußerst beunruhigend. Die Fortschritte der Humangenetik und der Biotechnologie haben eine “hausgemachte Eugenik” ermöglicht, um einen scharfsinnigen Ausdruck des Analytikers Robert Wright zu verwenden: “Einzelne Familien können bestimmen, welche Art Kind sie bekommen wollen.” Zurzeit beschränken sich ihre Entscheidungsmöglichkeiten darauf, ob sie ein Kind mit einer Krankheit wie Down-Syndrom oder Tay-Sachs-Syndrom zur Welt bringen wollen oder nicht. Die meisten Eltern würden sich wahrscheinlich schon mit einem gesunden Kind zufrieden geben – wenn sie überhaupt bereit wären, eine derartige Auswahl zu treffen. Die Zukunft könnte manchen Menschen jedoch die Möglichkeit geben (z. B. durch die genetische Analyse des Fötus), Babys mit besseren Erbanlagen zu bekommen: Kinder, die wahrscheinlich intelligenter, sportlicher oder attraktiver sind (was immer solche vergleichenden Ausdrücke auch bedeuten mögen).

Werden die Menschen von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen? Wahrscheinlich ja, bedenkt man, wie wichtig es einigen Eltern ist, das Geschlecht ihres Kindes zu bestimmen. Oder welche Bedeutung manche der Verabreichung von Wachstumshormonen an ihren angeblich zu klein geratenen Nachwuchs beimessen. Wie Benedikt Härlins Genomprojekt-Bericht an das Europäische Parlament feststellte, führt der vereinfachte Zugang zu genetischen Tests zu der immer öfter geäußerten Forderung nach einer “individuellen eugenischen Wahlmöglichkeit, um dem eigenen Kind in einer Gesellschaft, in der vererbte Merkmale zum Maßstab sozialer Hierarchie werden, den bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen.” In einem Leitartikel in Trends in Biotechnology aus dem Jahr 1989 wurde der Hauptgrund dafür genannt: “,Die Verbesserung des Menschen‘ ist ein Faktum – nicht auf Grund der staatlichen Eugenikkommission, sondern weil eine Nachfrage danach besteht. Wie können wir von einer solchen Kultur erwarten, mit Informationen über das menschliche Erbgut verantwortungsvoll umzugehen?”

Die zunehmende Verfügbarkeit genetischer Informationen stellt den Einzelnen vor schwer wiegende Entscheidungen. Manche Menschen möchten vielleicht aus rein persönlichen Gründen ihr genetisches Profil nicht kennen – besonders wenn die Gefahr einer Erbkrankheit besteht, die zurzeit noch unheilbar ist. Ein genetischer Test, egal ob vor oder nach der Geburt, kann aber auch Erleichterung bringen. Wenn sich nämlich herausstellt, dass man selbst oder sein neu gezeugtes Kind von einer bestimmten erblichen Belastung verschont wurde. Eine junge Frau, die mittels Gentest die Gewissheit erlangt hatte, nicht Trägerin des Huntington-Gens zu sein, formulierte es folgendermaßen: “Nach 28 Jahren der Ungewissheit ist es wie die Befreiung aus einem Gefängnis. Hoffnung für die Zukunft zu haben … die eigenen Enkelkinder sehen zu können."

Von den Problemen und Chancen individueller Wahlmöglichkeiten abgesehen, wird die Flut an genetischen Informationen zweifellos auch die unterschiedlichen Systeme und Werte der sozialen Verantwortung vor große Herausforderungen stellen. Viele diesbezügliche Diskussionen weisen mit Recht auf die Gefahr hin, Arbeitgeber könnten Bewerber mit einer (vielleicht nur vermuteten) Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten ablehnen. Dabei könnte es sich um manisch-depressive Psychosen handeln oder um Erkrankungen, die durch bestimmte Arbeitsbedingungen verursacht werden. Lebens- und Krankenversicherungen sind vielleicht daran interessiert, die genetische Ausstattung ihrer Kunden, d. h., ihr Risikoprofil bezüglich Krankheit und Tod, zu kennen. Sogar die staatlichen Sozialversicherungen werden es vielleicht vorziehen, das Ausmaß an Unterstützung nach dem genetischen Krankheitsrisiko zu bemessen, besonders was Familien betrifft, deren Kinder krank auf die Welt kommen könnten. In zahlreichen Analysen wird der unbedingte Schutz der persönlichen genetischen Daten gefordert. Das Recht des Einzelnen auf Geheimhaltung und das Recht der Versicherungsunternehmen auf Einsicht in solche Informationen bedarf weiter reichender Überlegungen. Versicherung und Versicherungsprämien hängen von der Einschätzung des Risikos ab. Ist das Ausmaß des Risikos nicht bekannt, tragen nicht die Versicherungsunternehmen selbst die Kosten, sondern die anderen Versicherungsnehmer. Kurz gesagt, Menschen mit geringem Risiko könnten gezwungen sein, andere mit großem Risiko mitzufinanzieren. Das Recht des Einzelnen auf Geheimhaltung seiner genetischen Informationen könnte zu Ungerechtigkeiten führen – zumindest in dem zurzeit in den USA vorherrschenden Versicherungssystem. Der Großteil Europas jedoch wird mit diesem Problem aller Wahrscheinlichkeit nach nicht konfrontiert werden, da hier das allgemeine Krankenversicherungssystem auf einem starken Gefühl der sozialen Solidarität beruht.

Wir könnten aus der Vergangenheit der Eugenik viel lernen, um dieselben Fehler nicht noch einmal zu machen – von den Sünden ganz zu schweigen. Aber die Alpträume unserer Vorfahren müssen nicht unbedingt auch uns heimsuchen – ganz sicher nicht auf dieselbe Art und Weise. Wie in vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens zwingt uns der Fluss der Geschichte auch in der Humangenetik, neu zu denken und zu handeln. Wir dürfen uns nicht der übertriebenen Angst hingeben, das Human-Genomprojekt könnte zur Herstellung von Superbabys oder zur kaltblütigen Eliminierung des nicht so leistungsfähigen Teils der Bevölkerung führen. Es ist wichtig, den Blick auf die eigentlichen sozialen, ethischen und politischen Fragen frei zu haben, die das Projekt aufwerfen wird (einige sind bereits jetzt offensichtlich). Und darauf zu reagieren – durch die Schaffung von Rechtskodices und/oder Vorschriften, die die Verwendung von genetischen Informationen durch Genetiker, Medien, Versicherungsunternehmen, Arbeitgeber und die Regierungen selbst regeln.

(1)
Leistungsschauen der einzelnen amerikanischen Bundesstaaten (Anm. d. Übers.) zurück