Biotechnologie & Gentechnik: Juridische und politische Fragen*
'Bruno Latour
Bruno Latour
* Abgeänderte Fassung eines Kapitels des demnächst auf Französisch erscheinenden Werkes Politiques de la nature, comment faire entrer les sciences en démocratie, Paris, La Découverte.
Das Trauma der aidsverseuchten Blutkonserven Mir scheint, es hat in jüngster Zeit in Frankreich keine schmerzlichere kollektive Erfahrung gegeben als die der verseuchten Blutpräparate. Man müsste allerdings wissen, um was für eine Art von Erfahrung es sich handelt und was man daraus gelernt hat. Wenn man die aufgebrachten Kommentare in der Presse liest, die als vorbereitendes Geschützfeuer im Vorfeld des Prozesses vor dem “Gerichtshof der Republik” dienen, ist man ratlos angesichts der Schwierigkeiten, die das Lernen macht.
Ein Modell der Wissenssoziologie ist glücklicherweise zusammengebrochen: jenes Modell, das besagt, dass Gewissheiten ausgehend von einem einzigen Quelllabor wie ein elektrisches Fluidum sofort in Umlauf kommen und dann ohne Vermittlung und ohne Abstufungen alle denkenden Geister zwingen, unmittelbar Stellung zu beziehen. Heute muss jeder anerkennen, dass das Wissen um ein Faktum, ganz egal wie offensichtlich es uns im Nachhinein erscheint, nur sehr langsam seine in die Augen springende Klarheit erlangt. Anders gesagt kommt die Gewissheit nicht am Anfang einer Geschichte, sondern an ihrem Ende. Um den Zusammenhang zwischen einem Krankheitserreger und einer Krankheit für alle sichtbar werden zu lassen, braucht es eine lange kontinuierliche Arbeit des “Sichtbarmachens”: eine Arbeit, an der die zahlreichen Institutionen mitwirken, welche von Wissenschaftshistorikern und -soziologen beschrieben werden: vorgefasste Meinungen, Instrumente, Schulen und Cliquen, Symposien und Zeitungen, Medien und Handbücher. Das Aids-Drama hat uns so schmerzhaft etwas in Erinnerung gerufen, was wir auf Grund der Geschichte von Pasteur oder Koch schon wussten – oder hätten wissen müssen. Außerdem ist es müßig, auf der Suche nach Beispielen so weit zu gehen: Jeder von uns weiß genau, dass das Wissen um einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs uns ebenso wenig am Rauchen hindert, wie wir auf Grund der mathematischen Gewissheit einer Relation zwischen Geschwindigkeit und Tod auf der Autobahn den Fuß vom Gaspedal nehmen.
Wir alle spüren genau, dass wir uns in dieser Sache vor der Kardinalsünde des retrospektiven Irrtums hüten müssen – was die Wissenschaftshistoriker die “whiggishe” Geschichte nennen – durch den wir der Vergangenheit ein offensichtliches Wissen zuschreiben, wo doch diese Klarheit nur das späte Ergebnis einer Institutionalisierung des “Commonsense” ist. Die Zeitgenossen von Kopernikus haben sich nicht alle geirrt, als sie – bei der Veröffentlichung seiner Abhandlung – den Heliozentrismus ablehnten. Auf jeden Fall haben sie ihn nicht aus reinem Obskurantismus ignoriert. Erst sehr viel später erkannte man in seiner Arbeit den Beweis für ein Weltsystem, den er selbst vielleicht gar nicht bemerkt hatte. Die Menschheit besteht also nicht nur aus Unfähigen und Schurken, die auf Grund der “soziologischen Schwerfälligkeit” der Institutionen die nackte Wahrheit zurückweisen, die sie vor Augen haben. Sie ist voll von Kurzsichtigen, die sich vorwärts tasten, ohne andere Hilfe als die Unterstützung seitens der fragilen Institutionen, die sie erhalten und ausstatten.
Hinter jeder Theorie des Wissens versteckt sich eine Geschichtsphilosophie. Und genau da wird es kompliziert: Die Gegner des Prozesses vor dem Gerichtshof der Republik bedienen sich dieser neuen Wissenssoziologie, die progressive Stufen der Gewissheit erkennt, um schon von vornherein alle Entscheidungsträger von damals von jeder Schuld freizusprechen. In der alten ungerechten und “whiggishen” Version bestand die Welt aus freiwillig Blinden, die aus reiner Bosheit dem Licht der Wahrheit widerstanden; die neue Version behauptet, dass, weil das Licht der Erkenntnis nur partiell und progressiv war, jeder ausgezeichnete Gründe hatte, unvollständiges Wissen zurückzuweisen und dass folglich alle unschuldig sind. In dieser Optik wäre der Prozess nur eine späte Rache, um die alte Lust der Massen an Sündenböcken zu befriedigen. Das alte Modell befand, dass alle Menschen schändlich waren, die in der Vergangenheit nicht hatten sehen können, was doch so augenscheinlich war; das neue sieht Niedertracht des Herzens nur bei den heutigen Menschen, die nach Blut gieren!
Der Gedanke, man könnte Politiker und Verantwortliche in den Behörden für unschuldig erklären, weil sie nicht so vollständig und umfassend und damit nicht so ganz und gar informiert waren wie wir heute – dieser Gedanke scheint mir trotz seinem scheinbaren gesunden Menschenverstand ganz im Gegenteil erschreckend: beweist er doch, dass man, um zu agieren, kein anderes Licht als das des Wissens erwartet; dass wir die Ausübung der politischen Macht mit der Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen verwechseln und dass wir von den Regierenden verlangen, Wissenschaftler zu sein. Und es beweist etwas vielleicht noch Erschreckenderes: dass wir von unseren Wissenschaftlern verlangen, einleuchtende Klarheiten und indiskutable Fakten zu liefern, bevor sich die Staatsmaschinerie in Bewegung setzt. Die Kampagne für den Freispruch der Minister zeigt, wie sehr ihre Urheber sich keine andere Grundlage für die Politik vorstellen können als die Absicherung durch wissenschaftliche Gewissheiten. Entweder wir wissen und dann können wir zur Tat schreiten oder wir wissen nicht und dann ist es in Ordnung, nichts zu tun. Ganz klar, der alte Augustin Comte ist noch sehr lebendig.
Wie Marie-Angèle Hermitte (1) so deutlich gezeigt hat, zwingt uns die schreckliche Lektion der verseuchten Blutkonserven gerade dazu, sowohl den Gedanken aufzugeben, dass wissenschaftliche Kenntnisse nicht diskutiert werden dürfen, als auch die furchtbare Vorstellung, dass die Poitiker sich darauf stützen müssen. Im Gegenteil, der Staat muss auf der Grundlage dieser doppelten Ungewissheit organisiert werden: die der Wissenschaft, die langsam voranschreitet und umstritten ist, und die, dass Politiker gezwungen sind, sich durch Experimentieren voranzutasten. Wenn man Wissenschaft und Politik vermischt, begibt man sich jeder Möglichkeit, Erkenntnis aus ihrem zweifachen Zögern zu erhalten – das heißt, kollektiv zu experimentieren.
Dazu muss man sich bewusst machen, dass die Krise der Ökologie und des Gesundheitswesens sehr viel tiefer geht, und man muß sich die Lektionen der Wissenschaftssoziologie gründlich zu Nutze machen.
Die Krise der Objektivierung Man wird mir entgegnen, dass die Wissenschaftssoziologie noch kaum verbreitet ist. Es scheint schwierig, mit ihrer Hilfe gemeinsame Formen des öffentlichen Lebens neu zu erfinden. Wie könnte ein so esoterisches Resultat uns dabei helfen, einen “Commonsense” für die Zukunft zu definieren? Weil wir es mit der enormen sozialen Kraft der Ökologiebewegung in Verbindung bringen werden, zu deren Klärung es zu unserer Überraschung beitragen wird. Künftig werden wir jedes Mal, wenn man uns von der Natur erzählt – sei es, um sie zu verteidigen, zu beherrschen, anzugreifen, zu schützen oder zu ignorieren – wissen, dass man damit die zweite Kammer eines öffentlichen Lebens bezeichnet, das man zu lähmen versucht. Wenn es also um ein Problem der politischen Verfassung geht und nicht um die Bezeichnung eines Teiles des Universums, stellen sich zwei Fragen: Warum wollen diejenigen, die sich an uns wenden, zwei klar getrennte Kammern, von denen nur eine die Bezeichnung “Politik” trägt? Über welche Macht verfügen jene, die zwischen beiden hin und her pendeln? Jetzt, da wir uns nicht mehr von der Berufung auf die Natur einschüchtern lassen, können wir klar unterscheiden, was in der Ökologiebewegung traditionell ist und was neu, was die Bedeutungslosigkeit der Epistemologie verlängert und was die politische Epistemologie der Zukunft erfindet.
Das Ergebnis lässt nicht auf sich warten: Die Literatur über die Ökologiebewegung bleibt unter diesem Aspekt gelesen sehr enttäuschend. Tatsächlich tut sie oft nichts anderes als, ohne auch nur eine einzige Zeile zu verändern, die moderne Verfassung einer Politik mit doppeltem Fokus wieder aufzugreifen, von denen der eine sich Politik nennt und der andere, unter der Bezeichnung Natur, den Ersteren zur Ohnmacht verdammt. Diese Reprisen, diese Remakes, werden sogar vergnüglich, wenn man behauptet, vom Anthropozentrismus der Modernen – manchmal auch “kartesianisch” genannt! – zum Naturzentrismus der Grünen überzugehen, als hätte man seit den Anfängen des Abendlandes, seit dem Urmythos des Sündenfalles der Höhlenmenschen nie an etwas anderes gedacht als daran, das öffentliche Leben um zwei Zentren herum zu gestalten, von denen eines die Natur war. Wenn die Ökologiebewegung ein Problem darstellt, dann nicht deswegen, weil sie endlich die Natur in den politischen Diskurs einbringt, der sich bis dahin zu ausschließlich auf die Menschen konzentrierte, sondern weil sie sich weiterhin leider der Natur bedient, um die Politik zum Scheitern zu bringen. Die graue und kalte Natur der alten (politischen) Epistemologen haben die Grünen einfach durch eine grünere und wärmere Natur ersetzt. Im Übrigen gleichen sich diese beiden Naturen in allem: Sie sind amoralisch und diktieren an Stelle der Ethik das moralische Verhalten; sie sind apolitisch und entscheiden an Stelle der Politik über die Politik. (2) Man kommt um dieses sehr unbarmherzige Urteil nicht herum, um den verschiedenen ökologischen Bewegungen eine Philosophie wiederzugeben, die ihren ehrgeizigen Zielen gerecht wird und ihrer wirklichen Neuheit entspricht.
Warum soll man sich also für die Ökologiebewegung interessieren, wenn ihre Literatur uns nur wieder in das Höhlenzeitalter zurückwirft? Weil, wie wir in diesem zweiten Teil aufzeigen werden, es in der Ökologiebewegung nicht – oder vielmehr endlich nicht mehr – um die Natur und noch weniger um ihren Schutz, ihre Erhaltung oder Verteidigung geht. Um diese schwierige Operation mitzuverfolgen, muss der Leser bereit sein, eine Unterscheidung zwischen der Praxis der ökologischen Bewegungen in den letzten dreißig Jahren und der Theorie dieser politischen Praxis zu machen. Die erste werden wir politische Ökologie nennen, und die zweite Philosophie der Ökologie oder Naturpolitik (ein in Anlehnung an “Realpolitik” geprägter Begriff). Wenn wir oft ungerecht gegenüber dieser Letzteren erscheinen, dann gerade deswegen, weil wir uns so leidenschaftlich für die Erstere interessieren.
Wir sind uns dessen bewusst, dass es immer gefährlich ist, zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden: Man gerät dabei leicht in Verdacht zu suggerieren, dass die aktive Basis nicht wirklich weiß, was sie tut und einer Illusion erliegt, die der Philosoph anprangert. Wenn wir dennoch zu dieser gefährlichen Unterscheidung greifen, dann deshalb, weil die “grünen” Bewegungen, indem sie der Natur eine politische Dimension zurückgeben wollten, an das Herz dessen gerührt haben, was wir die Verfassung der Moderne (3) nennen. Durch eine strategische Absonderlichkeit, die Thema dieses Kapitels ist, haben die ökologischen Bewegungen unter dem Vorwand, die Natur zu schützen, auch das Konzept von der Natur bewahrt, das ihren politischen Kampf verunmöglicht. Weil “die Natur” eben dazu da ist, um, wie wir im Folgenden sehen werden, die Politik auszuhöhlen, kann man nicht den Anspruch erheben, sie zu erhalten und gleichzeitig in den politischen Diskurs einzubringen. Wir haben also durchaus das Recht, in dem merkwürdigen Fall der Ökologiebewegung von einer wachsenden Kluft zwischen ihrer reichen Praxis und ihrer Theorie der Praxis zu sprechen.
Sobald wir nun beginnen, unsere Aufmerksamkeit der Praxis der Umweltkrisen zuzuwenden, stellen wir sofort fest, dass sie sich nie in Form einer Krise “der Natur” präsentieren. Sie erscheinen eher als Krisen der Objektivität, als hätten die neuen Objekte, die wir kollektiv produzieren, keinen Platz im Prokrustesbett der Politik mit doppeltem Fokus, als würden den “kahlen Objekten” der Tradition nun “behaarte” oder wilde Objekte gegenübergestellt werden, welche von den politischen Basisbewegungen in ihrem Kielwasser verbreitet werden. Wir brauchen diese unpassende Metapher, um zu unterstreichen, wie sehr die Krise alle Objekte betrifft, nicht nur jene, denen man das Etikett “natürlich” verpasst hat – ein Etikett, das übrigens ebenso umstritten ist wie die kontrollierte Ursprungsbezeichnung beim Wein. (4) Die Ökologiebewegung offenbart sich also nicht auf Grund einer Krise der ökologischen Objekte, sondern einer allgemeinen konstitutionellen Krise, die alle Objekte erfasst. Versuchen wir, das zu verdeutlichen, indem wir eine Liste der Unterschiede erstellen, die das, was die grüne Politik zu tun glaubt, von dem trennen, was sie in der Praxis tut: (5)
1. Die Ökologiebewegung behauptet, von der Natur zu sprechen, aber sie spricht von zahllosen Wirrnissen, an denen immer der Mensch beteiligt ist.
2. Sie erhebt den Anspruch, die Natur zu schützen und vor dem Menschen in Sicherheit zu bringen, aber in allen Fällen bedeutet das, die Menschen mehr einzubeziehen, die dann noch öfter, noch subtiler, noch näher und mit noch bedrohlicheren wissenschaftlichen Instrumenten eingreifen.
3. Sie behauptet, die Natur um ihrer selbst willen zu verteidigen – und nicht auf Grund eines Surrogates von menschlichem Egoismus –, aber jedes Mal wird der Auftrag, den sie sich stellt, von Menschen ausgeführt und rechtfertigt sich durch das Wohlergehen, das Vergnügen oder das gute Gewissen einer kleinen Zahl von Menschen, die sorgfältig ausgewählt wurden – normalerweise amerikanische, reiche, gebildete und weiße Männer.
4. Sie behauptet, in Systemen zu denken, die den Gesetzen der Wissenschaft bekannt sind, aber jedes Mal, wenn sie vorhat, alles in eine umfassende Sache einzuschließen, wird sie in eine wissenschaftliche Kontroverse verstrickt, in der die Experten außer Stande sind, sich zu einigen.
5. Sie behauptet, dass sie ihre wissenschaftlichen Modelle aus Hierarchien bezieht, die von geordneten kybernetischen Rückkoppelungsschleifen geregelt werden, aber sie präsentiert immer überraschende heterarchische Zusammenstellungen, deren Reaktionszeiten und Maßstäbe jene immer auf falschem Fuß erwischt, die glauben, von der Verletzlichkeit oder Robustheit, von der Größe oder Kleinheit der Natur zu sprechen.
6. Sie behauptet, vom Ganzen zu sprechen, aber es gelingt ihr nur, die öffentliche Meinung zu erschüttern und das Kräfteverhältnis zu verändern, indem sie sich auf Orte, Biotope, Situationen und bestimmte Ereignisse bezieht – zwei im Eis eingeschlossene Wale, hundert Elefanten in Amboseli, dreißig Platanen auf dem Place du Tertre.
7. Sie behauptet, immer mehr Einfluss zu gewinnen und das politische Leben der Zukunft zu verkörpern, aber sie ist überall auf das strikte Minimum der Schleudersitze in Wahlkampfzeiten begrenzt. Sogar in den Ländern, wo sie etwas mächtiger ist, spielt sie nur eine untergeordnete Rolle.
Die Praxis der Ökologiebewegung Sehen wir uns nun diese Liste noch einmal an und betrachten wir dieses Mal als Pluspunkte, was in der ersten Liste als Schwächen verbucht wurde:
1. Die Ökologiebewegung spricht nicht von der Natur und hat das auch nie versucht. Sie beschäftigt sich mit Verbindungen von Wesen mit komplizierten Formen: Vorschriften, Apparate, Verbraucher, Institutionen, Sitten, Kälber, Kühe, Schweine, Bruten, die in eine unmenschliche und ahistorische Natur einzubeziehen völlig überflüssig ist. Die Natur steht in der Ökologie nicht zur Debatte, die im Gegenteil ihre Konturen auflöst und ihre Aktanten neu verteilt.
2. Die Ökologiebewegung versucht nicht, die Natur zu schützen und hat das auch nie versucht. Sie will sich im Gegenteil auf eine noch vollständigere, noch komplexere Art einer noch größeren Vielfalt von Entitäten und Schicksalen annehmen. Wenn die Moderne für sich beanspruchte, die Welt zu beherrscen, so mischt sich die Ökologie überall ein.
3. Die Ökologiebewegung hat nie behauptet, der Natur zu ihrem eigenen Besten zu dienen, denn sie ist absolut nicht in der Lage, das Gemeinwohl einer enthumanisierten Natur zu definieren. Sie tut viel mehr, als die Natur zu verteidigen (entweder für sich selbst oder für die zukünftigen Menschen). Sie setzt unsere Gewissheiten betreffend das souveräne Gemeinwohl der Menschen und der Dinge, der Ziele und der Mittel außer Kraft. (6)
4. Die Ökologiebewegung weiß nicht, was ein ökologisch-politisches System ist, und entwickelt sich nicht auf Grund einer komplexen Wissenschaft, deren Modell und Möglichkeiten sich im Übrigen völlig der armen denkenden und forschenden Menschheit entziehen würden. Das ist ihre große Tugend. Sie weiß nicht, was ein System ausmacht und was nicht. Sie weiß nicht, was zusammengehört und was nicht. Die wissenschaftlichen Kontroversen, in die sie sich verstrickt, sind genau das, was sie von allen anderen wissenschaftlich-politischen Systemen der Vergangenheit unterscheidet. Nur sie kann von einer anderen Politik der Wissenschaft profitieren.
5. Weder Kybernetik noch Hierarchie ermöglichen das Verständnis der aus dem Gleichgewicht geratenen, chaotischen, darwinistischen, manchmal lokalen und dann wieder globalen, manchmal schnellen und dann wieder langsamen Aktanten, die sie durch eine Vielzahl von originellen Versuchsanordnungen ans Licht bringt, deren vermischte Gesamtheit glücklicherweise keine exakte Wissenschaft bildet.
6. Die Ökologiebewegung ist außer Stande, die Gesamtheit ihrer punktuellen Einzelaktionen in einem totalen und hierarchisierten Programm einzuschließen und sie hat dies auch nie versucht. Diese Unkenntnis über die Totalität ist genau das, was sie rettet, denn sie kann nie in einer einzigen Hierarchie die kleinen Menschen und die großen Ozonschichten, die kleinen Elefanten und die mittelgroßen Straußenvögel unterbringen. Das Kleinste kann zum Größten werden. “Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden” (Matthäus 21, 42).
7. Die Ökologiebewegung ist glücklicherweise bislang marginal geblieben, denn sie hat bis heute weder ihre politische Bewegung noch ihre Ökologie erfasst. Sie glaubt, von der Natur zu sprechen, vom System, von einer hierarchisierten Totalität, von einer Welt ohne Menschen, von einer gesicherten Wissenschaft, und eben durch diese zu geordneten Aussagen wird sie marginalisiert, während die konfusen Äußerungen ihrer Praxis ihr vielleicht erlauben würden, endlich zu politischer Reife zu gelangen, wenn sie deren Sinn erfassen könnte.
Man kann also die Ökologiebewegung nicht durch eine Krise der Natur charakterisieren, sondern durch eine Krise der Objektivität. Die risikolosen Objekte, die kahlen Objekte, an die wir uns bis jetzt gewöhnt hatten, machen nun riskanten Nebenfolgen, wilden Objekten Platz. (7) Nun, da wir uns das Konzept Natur abgewöhnt haben, können wir versuchen, den Unterschied zwischen alten und neuen Objekten zu charakterisieren.
Risikolose Objekte hatten vier wesentliche Eigenschaften, anhand derer man sie auf Anhieb erkennen konnte. Zunächst hatte das produzierte Objekt klare Ränder, eine klar definierte Essenz, gut erkennbare Eigenschaften. Es gehörte ohne möglichen Zweifel zur Welt der Dinge, einer Welt aus unbeugsamen, starrsinnigen Entitäten, die von den strengen Gesetzen der Kausalität, der Effizienz, der Wirtschaftlichkeit, der Wahrheit definiert waren. Sobald das Objekt fertig war, wurden die Forscher, Ingenieure, Verwalter, Unternehmer und Techniker, welche die Objekte erfanden, produzierten und vermarkteten, unsichtbar. Die wissenschaftliche, industrielle und technische Aktivität blieb außerhalb des Gesichtsfeldes. Und drittens führte dieses “risikolose Objekt” zwar zu erwarteten und unerwarteten Folgen, die aber immer in der Form einer Wirkung auf ein anderes Universum gedacht wurden, das aus weniger einfach abzugrenzenden Entitäten bestand und durch vage Bezeichnungen wie “soziale Faktoren”, “politische Dimensionen” oder “irrationale Aspekte” bezeichnet wurde. Entsprechend dem Höhlenmythos erweckte das risikolose Objekt der alten konstitutionellen Ordnung den Eindruck, wie ein Meteor von außen eine soziale Welt, die ihm als Zielscheibe diente, zu bombardieren. Schließlich konnten einige dieser Objekte manchmal Jahre später unsinnige Risiken oder gar Katastrophen nach sich ziehen. Diese Folgen oder gar Katastrophen reagierten nie auf die primäre Definition des Objektes, auf seine Ränder, seine Essenz, denn sie gehörten immer einer Welt an, die nichts mit der Welt der Objekte gemein hatte: Sie gehörten der Welt der unvorhersehbaren Geschichte, des Chaos, der politischen und sozialen Unruhe, des Tohuwabohu an. Im Gegensatz zu den Wirkungen, die man trotz allem zurückverfolgen konnte, hatten die katastrophalen Folgen keine retroaktive Wirkung auf die Verantwortung der Objekte, auf ihre Definitionen; sie konnten ihren Urhebern nie als Lektion dienen, damit sie deren Eigenschaften verändern.
Der Asbestskandal kann uns als Beispiel dienen, weil es sich dabei um eines der letzten Objekte handelt, die man modernistisch nennen kann. Ein perfekter Werkstoff (man nannte ihn “magic material”), gleichzeitig inert, effizient und wirtschaftlich. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Folgen seiner Verbreitung für die Gesundheit bekannt wurden und das Material in Frage stellten – das Material selbst sowie seine Erfinder, Produzenten, Verteidiger und Inspektoren; dutzende Alarmsignale und Affären, bis Berufskrankheiten, Krebserkrankungen, Schwierigkeiten beim Ausflocken schließlich zu den Ursachen zurückverfolgt wurden und nun zu den Eigenschaften des Asbests gehören, der langsam vom inerten und idealen Werkstoff zu einem verwirrenden Alptraum aus Recht, Hygiene und Risiken wurde. Diese Art von Objekten bevölkert zum Großteil noch unsere Welt des “Commonsense”, in der wir leben. Und doch beginnen nun andere Objekte mit extravaganteren Formen wie Unkraut in einem französischen Garten die Landschaft zu verändern, indem sie ihre eigenen Verzweigungen denen der modernistischen Objekte überstülpen.
In unseren Augen ist das beste Mittel, um Umweltkrisen zu charakterisieren, zu erkennen, dass sich außer den kahlen Objekten auch diese riskanten Nebenfolgen verbreiten. Ihre Eigenschaften sind völlig verschieden von den vorhergehenden; das erklärt, warum man jedes Mal bei ihrem Auftauchen von Krise spricht. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern haben sie keine klaren Ränder, keine klar definierte Essenz, keine klare Trennung zwischen einem harten Kern und ihrer Umgebung. Wegen dieser Eigenschaft sehen sie wild aus, formen Rhizome und Netze. Zweitens sind ihre Produzenten nicht mehr unsichtbar, sie stehen nicht mehr außerhalb des Gesichtsfeldes, sondern präsentieren sich in der Öffentlichkeit, verlegen, umstritten, kompliziert, impliziert, mit all ihren Instrumenten, ihren Laboratorien, ihren Werkstätten, ihren Fabriken. Die wissenschaftliche, technische und industrielle Produktion ist von allem Anfang an Teil ihrer Definition. Drittens haben diese Quasi-Objekte im eigentlichen Sinn nicht wirklich eine Wirkung, als würden sie von außen auf eine Welt fallen, die sich von ihnen unterscheidet. Sie haben zahlreiche Verbindungen, Tentakel, Pseudopoden, die sie auf tausenderlei Arten mit so ungesicherten Wesen verbinden, wie sie selbst es sind und die folglich nicht mehr ein anderes, vom ersten unabhängiges Universum bilden. Für den Umgang mit ihnen gibt es nicht einerseits die soziale oder politische Welt und andererseits die Welt der Objektivität und der Wirtschaftlichkeit. Schließlich, und das ist sicher das Merkwürdigste, kann man sie nicht mehr von den unerwarteten Folgen trennen, die sie vielleicht sehr langfristig, sehr weit von sich entfernt, in einer inkommensurablen Welt auslösen. Ganz im Gegenteil: Paradoxerweise erwarten alle die unerwarteten Folgen, die sie zweifellos auslösen werden, Folgen, die ihnen eigen sind und für die sie die Verantwortung übernehmen, aus denen sie lernen, im Rahmen eines klar sichtbaren Lernprozesses, der auf ihre Definition zurückfällt und sich im gleichen Universum abspielt wie sie.
Die berüchtigten Prionen, die wahrscheinlich den Rinderwahn auslösen, symbolisieren die riskanten Nebenfolgen ebenso wie Asbest die alten risikolosen Objekte. Wir behaupten, dass man das Wachstum der Ökologiebewegung anhand der Vermehrung dieser neuen Wesen verfolgen kann, die schon jetzt ihre Existenz mit der der klassischen Objekte vermengen, die immer noch den Hintergrund der gemeinsamen Landschaft bilden. (8) Uns scheint, dass dieser Unterschied zwischen risikolosen Objekten und riskanten Nebenfolgen, zwischen “kahlen Objekten” und “behaarten Objekten”, sehr viel mehr zählt als die unmögliche Unterscheidung zwischen Krisen, die die Ökologie in Frage stellen, und solchen, die die Wirtschaft oder die Gesellschaft in Frage stellen. Wir beobachten nicht das Eindringen von Fragen über die Natur in den politischen Diskurs, sondern die Vermehrung der behaarten Objekte, die nichts mehr einzig auf die natürliche Welt beschränken kann, die eben nichts mehr naturalisieren kann.
Das Ende der Natur? Wenn wir den Begriff der Umweltkrise so übersetzen, können wir über die merkwürdigste Eigenschaft der Ökologiebewegung berichten, eine Eigenschaft, die völlig im Gegensatz zu dem steht, was sie zu tun vorgibt. Ohne alle Probleme unter dem Blickwinkel der Natur globalisieren zu wollen, erkennt man die Praxis der Ökologiebewegung gerade an der Unkenntnis, in der sie sich endlich befindet, was die jeweilige Bedeutung der Akteure betrifft. Die Ökologiebewegung lässt nicht die Aufmerksamkeit vom menschlichen Pol zum Pol der Natur gleiten; sie gleitet von einer Gewissheit über die Produktion von risikolosen Objekten (mit ihrer klaren Trennung zwischen Menschen und Dingen) zu einer Ungewissheit über die Beziehungen, deren unerwartete Folgen möglicherweise alle Steuerungen, alle Pläne, alle Wirkungen durcheinander bringen könnten. Was sie mit einer so bemerkenswerten Effizienz in Frage stellt, ist genau die Möglichkeit, nach einer ein für alle Mal fixierten Ordnung die Hierarchie der Akteure und der Werte zusammenzutragen. Eine unendlich kleine Ursache zeitigt plötzlich große Wirkungen; ein unbedeutender Akteur spielt eine zentrale Rolle; eine immense Katastrophe verschwindet wie durch Zauberei; ein Wundermittel hat alptraumartige Folgen; ein monströses Wesen lässt sich ohne Mühe domestizieren. Mit der Ökologiebewegung läuft man immer ins Leere, manchmal erstaunt über die Robustheit von Ökosystemen, dann wieder über ihre Fragilität. Ganz entschieden ist es jetzt vielleicht an der Zeit, die apokalyptischen Vorhersagen gewissser Umweltschützer über das “Ende der Natur” ernst zu nehmen.
(1) Hermitte, Marie-Angèle, Le sang et le droit. Essai sur la transfusion sanguine, Paris: Le Seuil, 1996 zurück
(2) Um sich davon zu überzeugen, muss man nur Hans Jonas wiederlesen, einen der einflussreichsten Denker, auf die sich die Umweltbewegung beruft. Man sieht gleich, wie sehr er im Endeffekt eine Verpflichtung übernimmt, die die Naturalisten der Vergangenheit nie einzufordern gewagt hätten, weil die Natur zur Macht der Streitsachen ihren enormen moralischen Anspruch hinzufügt (Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 155). Es gibt also nun zwei Gründe statt einem, der Natur zu gehorchen: “In unserem Gegenvorschlag bedeutet ,Macht‘: Man muss in der Welt die Kausalzusammenhänge sich entwickeln lassen, die dann dem ,man muss‘ unserer Verantwortung gegenübergestellt werden” (S. 247). zurück
(3) Im Augenblick brauchen wir keine präzise Definition der Moderne. Es genügt uns, zu wissen, dass die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in meinen Augen das sicherste Mittel liefert, “Moderne”, “Prämoderne”, “Postmoderne” und “Antimoderne” zu unterscheiden – zu diesen Punkten siehe Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen, Berlin: Akademieverlag, 1995. zurück
(4) Es fehlt nicht an bemerkenswerten Werken über die Unmöglichkeit, das Adjektiv “natürlich” stabil zu halten. Meine zwei bevorzugten sind: Chase, Alston, Playing God in Yellowstone. The Destruction of America's First National Park, 1987, und das erstaunliche Buch über Chicago von Cronon, 1991. Zum Thema Zoos haben wir Baratay, Eric; Hardouin-Fugier, Elizabeth, Zoos. Histoire des jardins zoologiques en Occident (XVI°–XIX°), 1998. Zum Thema Parks ist das Buch meines Freundes Western besonders aufschlussreich: Western, David, In the Dust of Kilimandjaro, 1997. Interessant auch die Einleitung bei Cussins, Charis, Des éléphants dans le magasin de la science, 1997. Für Frankreich, siehe A. Cadoret (Hrsg), Protection de la nature. Histoire et idéologie, 1985, und insbesondere die spannende Dissertation von Tromm, Danny, La production politique du paysage. Eléments pour une interprétation des pratiques ordinaires de patrimonialisation de la nature en Allemagne et en France, 1996. Die Beziehungen zwischen der Patrimonialisierung der Kunst und jener der Natur werden sehr deutlich bei der Lektüre von Poulot, Dominique, Musée, nation, patrimoine. 1789–1815, 1997. Wichtig auch die historische Arbeit über die Natur in der Wissenschaft von Daston, Lorraine, The Nature of Nature in Early Modern Europe, 1998; Daston, Lorraine; Park, Katharine, Wonders and the Order of Nature, 1999. zurück
(5) Ich beziehe mich hier auf Latour, Bruno, Moderniser ou écologiser. A la recherche de la septième Cité, 1995. Bei allen diesen Recherchen habe ich sehr viel von der Arbeit von Laurent Thévenot profitiert: Lafaye, Claudette; Thévenot, Laurent, Une justification écologique ? Conflits dans l'aménagement de la nature, 1993; Thévenot, Laurent, Stratégies, intérêts et justifications à propos d'une comparaison France-États-Unis de conflits d'aménagement, 1996, welche die falsche Diskussion über die Natur durch die Schlüsselbegriffe von Nähe und Zuordnung ersetzt. zurück
(6) Das ist das ganze Problem der “Septième Cité” in Anspielung auf die moral- und politikphilosophische Arbeit, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot begonnen haben: De la justification. Les économies de la grandeur, 1991. Wenn es zu den sechs anderen Städten, die die Autoren präsentieren, eine siebte gibt, dann stellt sich die Frage der Grenzen der gesamten Menschheit (Barbier, Rémi, Une cité de l'écologie, 1992; Godard, Olivier, Environnement, modes de coordination et systèmes de légitimité : analyse de la catégorie de patrimoine naturel, 1990. zurück
(7) So interpretiere ich den Begriff “Risikogesellschaft”, den Ulrich Beck bekannt gemacht hat: Beck, Ulrich, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986: “Die artifizielle Produktion von Gewissheiten” – die kahlen Objekte – produzieren am Ende das, was er “die artifizielle Produktion von Ungewissheiten” nennt. Beck will damit nicht sagen, dass heute die Risiken zahlreicher sind als gestern, sondern dass die Folgen mit den Objekten auf eine Art verbunden sind, die die Moderne nicht zulässt. Ein Risiko-Objekt ist ein “kahles” Objekt, dem sich schließlich die damit verbundenen Risiken, seine Produzenten, seine Konsumenten, seine Skandale und die juristische Infragestellung zugesellen. Beck, Ulrich, Umweltpolitik im Zeitalter des Risikos, 1995. zurück
(8) Mir scheint, dass zumindest für die Franzosen der Skandal um die aidsverseuchten Blutkonserven als Zwischenglied zwischen den letzten modernistischen Objekten und den ersten Risiko-Objekten der Ökologie gedient hat. Man glaubte noch, das Drama um die verseuchten Blutpräparate in den alten Rahmen der Beherrschung von Handlungen integrieren zu können. Beim Rinderwahn ist das nicht mehr der Fall – und noch weniger im “totalen Krieg” der genmanipulierten Organismen. zurück
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