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Märkte, Antimärkte und das Schicksal der Nahrungskreisläufe


'Manuel DeLanda Manuel DeLanda

“Man setze […] nicht vorschnell den Kapitalismus mit dem gesamten Sozialgefüge gleich, so, als umschlösse er unsere Gesellschaften in Gänze […] [ein] angeblich durch und durch kapitalistisches ,Gesellschaftssystem‘ […] In Wirklichkeit herrscht […] eine lebendige Dialektik zwischen dem Kapitalismus und jenem gegensätzlichen, weiter unten angesiedelten Bereich, der nicht als echter Kapitalismus angesehen werden kann.” (1)

(Fernand Braudel, Aufbruch zur Weltwirtschaft)
Diese von einem der bedeutendsten Wirtschaftshistoriker dieses Jahrhunderts aufgestellte Behauptung weist auf eine Neukonzeptualisierung der Geschichte hin, die eines Tages die Grundfesten der Wirtschaftstheorie erschüttern wird, da sie das zentrale Konzept wirtschaftlichen Denkens, den “Markt”, ins Visier nimmt. Anhand einer Fülle empirischer Daten weist Braudel nach, dass sich bis ins 13. Jahrhundert zurück zwei völlig unterschiedliche Wirtschaftsformen unterscheiden lassen: nicht-kapitalistische Märkte und kapitalistische Antimärkte. Während erstere eine Wirtschaftsform bezeichnen, in der viele kleine Wirtschaftstreibende bzw. Produzenten anonym miteinander konkurrieren, verwendet Braudel den zweiten Begriff für ein System, das wir heute “Oligopol” nennen würden, in dem einige wenige große Händler bzw. Produzenten in einem Wettbewerb stehen, bei dem jeder den anderen bestens kennt. Sie sind daher eher in Rivalitäten als in eine kollektive Konkurrenz verstrickt, die zu einer gewissen wirtschaftlichen Selbstregulierung führen würde.

Aus Braudels Unterscheidung von Märkten und Antimärkten lässt sich Verschiedenes ableiten. Wenn Märkte und Antimärkte niemals ein- und dasselbe waren, dann sind diejenigen, die an die überirdische Magie der unsichtbaren Hand glauben, ebenso im Unrecht wie diejenigen, die Markttransaktionen auf Grund der damit verbundenen Verwandlung aller Dinge zur “Ware” verdammen: Erstere, weil es eine spontane Koordination durch eine unsichtbare Hand im Big Business nicht gibt, und Letztere, weil sich Warenfetischismus nicht auf von Kleinbetrieben erzeugte Produkte bezieht, sondern nur auf große, hierarchische Organisationen, welche in der Lage sind, die Nachfrage durch Schaffung künstlicher Bedürfnisse zu manipulieren. Mit anderen Worten: Aus der Sicht der politischen Rechten bzw. Mitte stellt jede Geldtransaktion eine Markttransaktion dar – auch wenn große Oligopole oder gar Monopole daran beteiligt sind. Für die marxistische Linke andererseits bedeutet schon das bloße Vorhandensein von Geld – unabhängig davon, ob es mit wirtschaftlicher Macht verbunden ist oder nicht –, dass eine gesellschaftliche Transaktion zur Ware und damit dem Kapitalismus einverleibt wird. Meiner Meinung nach zwingen uns Braudels empirische Daten zu einer – weder von der Linken noch der Rechten getroffenen – Unterscheidung zwischen Einzel- und Großhandel, zwischen einer Wirtschaft der Größenvorteile und einer Wirtschaft der produktiven Agglomeration; wir müssen den institutionellen Ökologien in den urbanen Zentren – sogar in der engen Welt der Ökonomie – mehr Heterogenität zugestehen als bisher. Kurz gesagt, wenn wir Braudels Herausforderung annehmen, müssen wir die Vorstellung, westliche Gesellschaften seien jemals in einem monolithischen und homogenen “kapitalistischen System” organisiert gewesen, ein für alle Mal über Bord werfen. (2)

In diesem Beitrag möchte ich kurz die Ursprünge großer Nahrungsmittelproduktionssysteme sowie die zentralen Punkte der derzeitigen Globalisierung und Konzentration der Nahrungmittelkonzerne untersuchen. Dabei stütze ich mich auf Konzepte des niederländischen Historikers Jan de Vries, der klar zwischen Märkten und Kapitalismus unterscheidet und für den Umgang mit jedem dieser Phänomene zwei separate Modelle anbietet. Das grundlegende Paradigma des Antimarktes in der Landwirtschaft ist heute das “Norfolk-System”, benannt nach der Region in England, wo diese Form der Landwirtschaft im 18. Jahrhundert ihre ersten Triumphe feierte. Beim Norfolk-System kamen neue landwirtschaftliche Nutzpflanzen, insbesondere Futterpflanzen, sowie neue Maschinen (der Saatbohrer) zur Anwendung. Doch die wichtigste Neuerung ergab sich aus der Einführung von Arbeitsroutinen bei der Nahrungs- und Futtermittelproduktion und, wie bei allen Institutionen des Antimarktes, aus dem Element der Größe. Dennoch umfasste dieses System vor seiner Einführung in England weder ein groß angelegtes Management noch Arbeitsdisziplin. Das ursprüngliche System war das Produkt flämischer Märkte, genauer gesagt der dynamischen flämischen Marktestädte des 15. Jahrhunderts (Brügge, Ieper, Gent), die ihrem jeweiligen Umland die Impulse für grundlegende Neuerungen lieferten.

Zum besseren Verständnis der flämischen bzw. später niederländischen Innovationen wollen wir sie mit den Methoden vergleichen, an deren Stelle sie traten. Vereinfacht gesagt beruhte das bis dahin vorherrschende westliche Landwirtschaftssystem auf einem einfachen Rotationsprinzip: Ackerland wurde in zwei (oder mehr) Teile geteilt, einer davon diente dem Getreideanbau, während der andere brachlag, d. h. er blieb unbepflanzt, wurde jedoch gepflügt, um Unkrautbewuchs zu verhindern. Der flämische Beitrag bestand nun darin, die Phase der Brache durch den Anbau von Futterpflanzen (wie z. B. Klee) zu ersetzen. Gerade in Zeiten des raschen Bevölkerungswachstums war dies besonders wichtig, da die herkömmliche Methode unter den neuen Gegebenheiten in einem Teufelskreis enden konnte: Sobald die Nachfrage nach Nahrungsmitteln anstieg, wurde das Land verstärkt für den Getreideanbau und weniger als Weideland genutzt; dadurch wurden die Herden und somit auch die verfügbaren Dungmengen reduziert, was sich wiederum negativ auf die Bodenfruchtbarkeit auswirkte. Dies bewirkte einen Rückgang der Erträge, sodass noch mehr Land für den Getreideanbau genutzt werden musste, was den gesamten Produktionsrückgang weiter verschärfte. (3)

In Flandern gelang es nun, diesen Teufelskreis ins Positive zu wenden: Das Rotationssystem wurde neu organisiert, sodass Ackerland zur Futtermittelproduktion genutzt werden konnte, d. h. anstatt das Land brachliegen zu lassen, baute man Klee (bzw. später Alfalfa oder Rüben) an. Durch das Verfüttern dieser Pflanzen an Rinder konnte man die Herden und somit auch die Dungvorräte wieder vergrößern. Darüber hinaus wurden durch das kontinuierliche Wiedereinbringen von Dünger in den Boden sowie durch den Anbau von Futterpflanzen, die das Erdreich festigten und eine Wasser- oder Winderosion des Ackerlands verhinderten, die Nahrungskreisläufe verkürzt – ein Vorgang, der in reifen Ökosystemen spontan auftritt (insbesondere im Regenwald, wo die Nährstoffe oft nicht einmal den Boden erreichen) und beträchtlich zu deren Lebensdauer beiträgt.

De Vries liefert Argumente für den nicht-kapitalistischen Charakter der in den nördlichen Niederlanden entwickelten, gemäßigten Version des neuen Systems, das später zum Kernstück der landwirtschaftlichen Revolution in England werden sollte. (Wichtig ist hier einzig und allein die Verengung der Nahrungskreisläufe und nicht eine bestimmte, darauf abzielende Methode.) Anhand zweier einfacher Modelle versucht er, die Dynamik der bäuerlichen Reaktion auf das Steigen der Landbevölkerung zu erfassen. Das erste, als “Bauernmodell” bezeichnete, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Für eine steigende Zahl von Bauern wird das Land in immer kleinere Parzellen aufgeteilt, die alle intensiv bebaut werden (gründliches Pflügen, Jäten und Düngen), aber nach wie vor auf Selbstversorgung (im Gegensatz zur Belieferung externer Märkte) ausgerichtet sind. Der arbeitsintensive Charakter dieser Strategie hatte jedoch zur Folge, dass die landwirtschaftliche Produktivität in der Übergangsperiode real zurückging, wodurch die ländliche Bevölkerung anfällig für Hungersnöte und die zerstörerischen Aktivitäten der Antimärkteund der Aristokratie wurde, welche die Situation ausnutzten, um sich große Landflächen anzueignen und Pachtverträge zu revidieren. Das zweite Szenario, das so genannte “Spezialisierungsmodell”, umfasst die Spezialisierung auf bestimmte Nutzpflanzen für städtische Märkte, wobei die Bauern diesen Prozess jedoch selbst unter Kontrolle behielten. De Vries beschreibt es folgendermaßen:
Für die räuberische Rolle der Kapitalisten und Adeligen im Bauernmodell gibt es im Spezialisierungsmodell keine Entsprechung, da die Bauern selbst die Produktion in Abhängikeit von den Marktchancen neu organisieren und selbst die Vorteile daraus ernten. (4)
Laut Jan de Vries trifft dieses zweite Modell auf die niederländische Situation ab dem 17. Jahrhundert zu, auch wenn dem Modell zur ausreichenden Berücksichtigung regionaler Varianten noch zahlreiche zusätzliche Faktoren (Anordnung der Felder, Rechtssystem, Familienstruktur) hinzugefügt werden müssen. Darüber hinaus boten diese neuen Landwirtschaftsbetriebe den wohlhabenden Klassen Amsterdams Investitionsmöglichkeiten, sodass subtilere Formen der Antimarkt-Infiltration in Aktion traten. Doch trotz ihrer zahlreichen, in der Praxis auftretenden Mischformen müssen Märkte und Antimärkte in dieser geschichtlichen Rekonstruktion als getrennte Elemente bestehen bleiben. In der Tat wurde das landwirtschaftliche System im Sinne Braudels erst von da an wirklich “kapitalistisch”, als es im großen Stil angewandt und ein disziplinäres Management eingeführt wurde, also im England des 18. Jahrhunderts, wo weite Landstriche für intensive Produktionsmethoden genutzt und rundum mit Hecken eingezäunt, die Arbeitsabläufe automatisiert und die mittleren Klassen (Kleinpächter, ländliches Gewerbe) eliminiert wurden. (5) Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Norfolk-System in den Vereinigten Staaten, Australien und Argentinien in noch größerem Stil und mit noch stärkerer Automatisierung der Arbeitsabläufe weiterentwickelt. Darüber hinaus wurden die extrem engen Nahrungskreisläufe der ursprünglichen flämischen Methode durch den beginnenden Einsatz natürlicher und künstlicher Düngemittel für die landwirtschaftliche Produktion plötzlich stark erweitert. In den Vereinigten Staaten wurden Düngemittel sogar aus so entlegenen Ländern wie Chile eingeführt, wie der Historiker Georg Borgstrom erläutert:
Kommerzielle Düngemittel werden in den USA seit 1830 eingesetzt, als erstmals Nitrat aus Chile importiert wurde. Die erste Fabrik für chemische Düngemittel wurde 1850 in Baltimore errichtet, und bald danach entstanden weitere Fabriken entlang der Atlantikküste. Die vier häufigsten kommerziellen Düngemittel waren peruanischer Guano (Vogeldung), Fischguano, Gips und Superphosphat. Der Düngemitteleinsatz entwickelte sich anfangs nur langsam, da der Produktion noch große Flächen fruchtbaren Neulands zur Verfügung standen. Im Laufe der Zeit wurden die Nährstoffe des Bodens auch in den neuen Regionen ausgelaugt, und der Düngemitteleinsatz stieg sprunghaft an. Zu den ersten Düngemitteln in den Vereinigten Staaten zählten Abfallprodukte fleischverarbeitender Betriebe, v.a. Knochen, sowie Rückstände aus der Pflanzenölindustrie und Abfälle aus Fischkonservenfabriken … (6)
Aus unserer Sicht, d. h. im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Märkten und Antimärkten, hatte das Aufbrechen der Nahrungskreisläufe bedeutende Konsequenzen. Jeder Input zur Lebensmittelproduktion, der von außerhalb des landwirtschaftlichen Betriebs selbst kam (nicht nur der Einsatz von Düngemitteln, sondern auch von Insektiziden und Herbiziden), öffnete den Antimärkten Tür und Tor und führte zu einem weiteren Kontrollverlust der Lebensmittelhersteller. Während landwirtschaftliche Betriebe vor rund 150 Jahren den täglichen Bedarf noch beinah zur Gänze aus Eigenproduktion deckten (und daher mit engen Nahrungskreisläufen operierten), erhalten amerikanische Farmen heute bis zu 70 Prozent ihrer Inputs (inklusive Saatgut) von außen. (7) Noch schlimmer ist, dass die direkte Genmanipulation es den Großkonzernen ermöglicht, diese Abhängigkeit noch zu verstärken.

Obwohl die meisten frühen biotechnologischen Innovationen von kleinen, in Marktbeziehungen stehenden Unternehmen getätigt wurden, haben Antimarkt-Organisationen durch Ausspielen der durch ihre Größe gegebenen wirtschaftlichen Macht diese Innovatoren rasch durch vertikale und horizontale Integration absorbiert. Darüber hinaus verfügten diese Antimärkte vielfach bereits über Abteilungen für Saatgut und Dünge- bzw. Schädlingsbekämpfungsmittel. Anstatt daher Gene für Schädlingsresistenz auf neue Nutzpflanzen zu übertragen (und dadurch den Nahrungsmittelherstellern den Ankauf von Pestiziden zu ersparen), programmierten die Großkonzerne eine permanente Chemikalienabhängigkeit in die genetische Basis dieser Pflanzen ein.

Unkrautvertilgungsmittelhersteller wie Dupont oder Monsanto haben Nutzpflanzen entwickelt, die den chemischen Attacken widerstehen können, indem sie Gene von Unkraut, das gegen die chemischen Substanzen resistent geworden war, in neue Nutzpflanzensorten einbauten. Somit wurde die Abhängigkeit der Bauern von externen Inputs sozusagen genetisch fixiert. Auf der anderen Seite haben einige der von den großen Firmen ausgewählten genetischen Materialien nichts mit Nährwert zu tun, sondern lediglich mit den Verarbeitungseigenschaften des Endproduktes, die direkt mit der für die Nahrungsmittelproduktion in Antimärkten typischen, homogenisierten “Fließband”-Routine korrelieren. Diese Tatsache wird von Jack Doyle wie folgt beschrieben:
Nutzpflanzen für den Feldanbau werden als Erstes auf Ertrag, einheitlichen Wuchs und gleichzeitige Reife untersucht. In weiterer Folge kommt es darauf an, dass die Früchte bzw. Körner den Strapazen der mechanischen Ernte, der wiederholten Handhabung und den verschiedenen Transportarten von A nach B standhalten. Als Nächstes werden Dämpf-, Zerkleinerungs- bzw. Konservierungsfähigkeit ermittelt. In einigen Fällen wird von rohen Feldfrüchten gute “Lager-” oder “Transportfähigkeit” bzw. gute Eignung zum Einfrieren oder Braten erwartet. Die Gene liefern nun den Schlüssel, um all diesen Schritten im Nahrungsmittelherstellungsprozess zu genügen; die Gene, die die Eigenschaften vom Anbau bis zum Verzehr jeder Feldfrucht, vom Brokkoli bis zum Weizen, bestimmen. In diesem Prozess kommt es auf die für Ertrags- und Strapazierfähigkeit, Haltbarkeit und lange Regalbeständigkeit zuständigen Gene an. Die für den Nährwert verantwortlichen Gene werden dagegen, sofern sie überhaupt in Betracht gezogen werden, in weiten Bereichen einfach ignoriert. (8)
Auch dort, wo multinationale Konzerne nicht direkt mit Genmanipulation operieren und wo bei der Entwicklung von Nutzpflanzen nicht von deren Verarbeitungsfähigkeit am Ende der Nahrungskette ausgegangen wird, geben die durch das Aufbrechen der Nahrungskreisläufe gegebenen Gefahren durchaus Grund zur Besorgnis. Man denke z. B. nur an die “Grüne Revolution”, die in den Fünfzigerjahren in der Dritten Welt mit dem Ziel eingeführt wurde, diese Länder in punkto Ernährung zu Selbstversorgern zu machen – ein an und für sich löbliches Ziel. Hier wurden (nicht mithilfe der Biotechnologie, sondern durch ältere Techniken zur Zucht von “Pflanzenhybriden”) Gene ausgewählt, die die photosynthetische Aktivität von den nicht essbaren Stängeln auf die Produktion essbarer Getreidefrüchte verlagerten. Dadurch konnten weitaus höhere Erträge erzielt werden, und eine Zeit lang wurde die Nahrungsgrundlage in Ländern wie Mexiko, den Philippinen und Indien dank dieser neuen Wunderpflanzen in der Tat verbessert. Das Problem dabei war, dass die neuen Züchtungen große Mengen externer Inputs erforderten (Düngemittel) und ihre Erträge bei Verzicht auf chemische Düngemittel nicht halb so beeindruckend ausfielen. Noch schlimmer war, dass die Bauern auf Grund der nunmehr offenen Nahrungskreisläufe leichter in die Abhängigkeit externer Monopole gerieten: Als z. B. das arabische Ölkartell Anfang der Siebzigerjahre die Preise anhob, stiegen auch die Düngemittelkosten dramatisch an und die Grüne Revolution brach zusammen.

Außerdem brachte die Tatsache, dass hier nicht eindeutig zwischen Märkten und Antimärkten unterschieden wurde, trotz der ursprünglich beabsichtigten Vorteile für die Nahrungsmittelhersteller viele unerwünschte Nebenwirkungen mit sich: Das grundlegende System profitierte von den Größenvorteilen (z. B. bei den Bewässerungskosten), und so waren letzten Endes die Großbauern die Begünstigten, was einen Konsolidierungsprozess initiierte, in dessen Verlauf viele Kleinbauern ihren Betrieb aufgeben mussten. (9)

Ich möchte diese eher knappe Untersuchung der Entwicklung der Nahrungskreisläufe mit einigen allgemeinen Bemerkungen abschließen. Erstens geht die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Märkten und Antimärkten oder, was auf dasselbe hinausläuft, das Aufgeben des Konzepts eines homogenen und allumfassenden “kapitalistischen Systems” über sämtliche spezifische Überlegungen zur Geschichte der Landwirtschaft hinaus. Ihre wahre Bedeutung liegt vielmehr in der Tatsache, dass sie uns von einer teleologischen Sichtweise der Wirtschaftsgeschichte als unvermeidbare Progression von Produktionsarten befreit. So ist z. B. die Industrielle Revolution kein notwendiges Entwicklungsstadium mehr, das alle Gesellschaften im Zuge ihres Reifeprozesses durchlaufen müssen, sondern würde zu einem speziellen Produktionsparadigma, das sich auf Grund der Macht der Größenvorteile und der automatisierten Arbeitsabläufe zufällig über die bestehenden wirtschaftlichen Institutionen verbreitet hat. Wenn wir die Geschichte der Wirtschaft also ohne “teleologische Brille” betrachten, so können wir alternative Paradigmen wieder entdecken, die auf dezentralisierter Produktion, flexiblen Fähigkeiten und einer regionalen Wirtschaft der Agglomeration basieren, ohne darum einer Nostalgie nach einem verlorenen Goldenen Zeitalter anzuhängen. Diese Alternativen erscheinen nur dann nostalgisch, wenn zentralisierte, homogenisierte Wirtschaftsmodelle als Zeichen des unausweichlichen Fortschritts gelten. Die Arbeiten Fernand Braudels und vieler seiner Anhänger waren essenziell für die Wiederentdeckung der äußerst heterogenen Geschichte der Wirtschaft, ohne festgelegte Zeitalter (Feudales Zeitalter, Industrielles Zeitalter) und voller komplexer Koexistenzen alternativer Paradigmen. Für Braudel implizierte dies nicht nur die Vergangenheit neu zu überdenken, sondern – was viel wichtiger ist – auch unsere Alternativen für die Zukunft. Daher finde ich es passend, diesen Beitrag mit dem letzten Absatz aus seinem wichtigsten Werk zu schließen – mit einem Schlusswort, das Braudels grundlegende theoretische Position zusammenfasst und seine Ansichten über ihre politischen Konsequenzen zum Ausdruck bringt:
Müsste uns schließlich nicht die freimütige Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus um das stereotype Alles oder nichts unserer Politiker herumführen, die so tun, als ließe sich die Marktwirtschaft nur retten, indem man den Monopolen freie Hand lässt oder als bedeute die Abschffung dieser Monopole eine “Verstaatlichung” auf Teufel komm raus. […] Solange die angebotene Lösung darauf hinausläuft, das Monopol des Kapitals durch das Monopol des Staates zu ersetzen und so letzlich die Mängel beider zu summieren: Wen könnte es da erstaunen, dass die klassischen Lösungen der Linken das Wahlvolk wenig begeistern? Bei ernster und ehrlicher Suche würde es an wirtschaftlichen Lösungen nicht mangeln, die den Marktesektor ausweiten und die wirtschaftlichen Vorteile, die sich eine dominierende Gruppe vorbehält, in seinen Dienst stellen können. (10)


(1)
Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München: Kindler 1986, S. 706 zurück

(2)
Ausführliche Argumente und Querverweise in: DeLanda, Manuel, A Thousand Years of Nonlinear History, New York: Zone Books 1997, Kapitel 1 zurück

(3)
De Vries, Jan, The Dutch Rural Economy in the Golden Age, 1500–1700, New Haven: Yale University Press 1974, S. 149 zurück

(4)
Ebda., S. 8 zurück

(5)
Fussell, G.E., The Agricultural Revolution, 1600–1850. Technology in Western Civilization, Bd. 1 (hrsg. von Kranzberg; Melvin; Pursell, Carrol W.), New York: Oxford University Press 1967, S. 142 zurück

(6)
Borgstrom, Georg, Food and Agriculture in the Nineteenth Century. Technology in Western Civilization, Bd. 1, S. 413 zurück

(7)
Doyle, Jack, Altered Harvest. Agriculture, Genetics and the Fate of the World's Food Supply, New York: Viking 1985, S. 116–117 zurück

(8)
Ebda., S. 138 zurück

(9)
Ebda., S. 261–263 zurück

(10)
Braudel, Fernand, ebda., S. 708 zurück