Blaue Hunde*
'Vilém Flusser
Vilém Flusser
* Aus: Vilém Flusser, Nachgeschichten, Bollmann Verlag, S. 204–208. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frau Edith Flusser.
Warum eigentlich sind die Hunde noch immer nicht blau mit roten Flecken? Und warum eigentlich leuchten die Hasen noch immer nicht wie Irrlichter in den nächtlichen Gefilden? Um diese Frage anders zu formulieren: Warum eigentlich betreiben wir Viehzucht noch immer mit wirtschaftlichen Absichten und noch immer nicht mit künstlerischen? Hat sich denn in unserer Beziehung zur Tierwelt seit dem Neolithikum nichts geändert?
Der Kontext, in den diese Frage zu stellen ist, ist dieser: Einerseits ist die tierische Produktion in Ländern wie Westeuropa und Nordamerika größer als der Verbrauch, andererseits beginnen wir über Techniken zu verfügen, welche das Herstellen von programmierten Tierarten gestatten: Also: Einerseits Ströme von Milch, Berge von Butter und Küstenstriche von Schinken, andererseits die Möglichkeit, künstliche Tierarten herzustellen. Können diese beiden Seiten des Tierproblems zur Deckung gebracht werden? Kann die Viehzucht nicht endlich einmal an Stelle der aussterbenden Bauern von den sich wie Kaninchen vermehrenden, aber desorientierten Künstlern betrieben werden?
Einem synchronisierenden Blick auf die Oberfläche Westeuropas – einem Blick, der Jahrtausende rafft – würde sich etwa das folgende Bild bieten: Zuerst wohl eine kühle Steppe mit vereinzelten Baumgruppen, die von Rudeln großer Huftiere durchzogen wird, welche im Frühjahr nach Norden, im Herbst nach Süden wandern und denen Raubtiere auflauern (darunter auch Menschen). Dann ein immer dichter werdender Wald, in welchen Menschen Lichtungen schlagen und brennen, weil sie im Wald nicht jagen können und daher Gras essen müssen. Dann die uns bekannte Szene von Feldern, deren Körner gegessen werden, von Wiesen, auf denen essbare Tiere grasen, und von Wäldern, die zu Zeitungen verwandelt werden können. Und schließlich, etwas voraussehend, ein Disneyland, in welchem dank Automatisation arbeitslos gewordene Menschenmassen aufeinander stoßen. Die Frage lautet: Wer ist der künftige Disney? Die Antwort: Er wird, unter anderem, Molekularbiologe sein.
Der tierische Organismus scheidet nämlich Farbstoffe aus, und schon Darwin hat erklärt, dass das eine wichtige Lebensfunktion ist. Sie dient dem Überleben des Individuums (Tarnfarbe) und dem Überleben der Art (Lockfärbung bei der Paarung). Seit Darwin wissen wir etwas besser, wie diese Farbstoffausscheidung physiologisch und chemisch vor sich geht, und wir beginnen, die mathematisch formulierbaren Streuungen der Farben über den Körper zu verstehen. Jüngst beginnt die Genetik, in diesen außerordentlich komplizierten Prozess gezielt einzugreifen. Sie beginnt, in die Tierpalette wie ein Ölfarben mischender Maler einzugreifen. Somit wird das Ausscheiden von Farbstoffen bei tierischen Organismen zu einer wichtigen Funktion des Überlebens des menschlichen Individuums und der Art Mensch im Disneyland werden. Es wird eine ästhetische Funktion sein. Das Disneyland wird von bunten Tieren wimmeln, damit die Menschen darin nicht vor Langeweile sterben.
Man sage nicht, dies sei eine verrückte Vorstellung, sondern man nehme lieber eine Taschenlampe, besteige eine Taucherglocke und gleite hinab in die Tiefsee. Man wird dort folgende Szene erblicken: Wälder, Wiesen und Felder von Farben ausstrahlenden pflanzenähnlichen Tieren wiegen mit fächerartigen Tentakeln in Strömungen, während riesige regenbogenfarbene Schnecken dazwischen wandern und glitzernde, silbern, rot und gelb leuchtende Krebse in Schwärmen darüber schwirren. So etwa wird das Disneyland auszusehen haben. Und es wird tatsächlich so aussehen können. Denn die genetische Information, welche den Tiefseetieren erlaubt, dieses Son-et-Lumière-Spiel aufzuführen, ist theoretisch und technisch auf Festlandtiere übertragbar. Das wird der künftige Disney zu leisten haben. Er wird Land art in großem Stil betreiben müssen.
Es wird allerdings eine Land art sein müssen, die unverhältnismäßig komplex und daher interessanter ist als das gegenwärtige Beklecksen von Steinen mit Farben. Ein Beispiel für die Komplexität eines solchen Farbenspiels: Es gibt eine Kartoffelart, die von einer Schmetterlingsart bestäubt wird, und dieser Schmetterling ernährt sich ausschließlich von dieser Kartoffel. Beide, Kartoffelblüte und Schmetterlingsflügel, haben exakt die gleiche blaue Färbung, nur ist bei der Kartoffel das Blau Folge eines chemischen Prozesses (Chlorophyllabwandlung), beim Schmetterling Folge eines optischen Prozesses (spezifische Strahlenbrechung auf spiegelartigen Plättchen). Derartige ökologische Farbspiele wird der künftige Disney durchzuführen haben. Die Farben des einen Tieres werden auf die Farben eines anderen aufzutreffen haben, um dann zurückgeworfen zu werden. Das Disneyland wird eine Farbensymphonie zu sein haben, welche zwar dem Programm nach vorkomponiert ist, sich aber dann selbsttätig (improvisierend) entwickelt. Es wird ein lebendes Kunstwerk zu sein haben.
Wird Westeuropa, derart zu Disneyland verwandelt, dann noch “natürlich” sein? Oder "künstlich"? Nun, die Lichtungen in den Wald brennenden Menschen haben Westeuropa künstlicher gemacht, als es vorher war, die Felder und Wiesen bebauenden Menschen noch künstlicher. Das Disneyland wird in die gleiche Richtung gehen. Dank dieser Schritte von der Natur zur Kunst ist Westeuropa immer lebendiger geworden, im Disneyland wird es zu einem lebendigen Kunstwerk werden.
Aber ist Kunst vielleicht eine Methode, die Natur lebendig zu machen? Das war mit der Frage gemeint, warum wir immer noch keine blauen Hunde mit roten Flecken haben. Sie stellt sich, nach diesen Überlegungen, als tatsächlich grundlegend heraus: Sie fragt nämlich auf neue Art nach dem Sinn des Lebens.
(1988)
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