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Der Gestaltete Körper


'Gunther von Hagens Gunther von Hagens

Das zweite Jahrtausend geht mit einer Neubewertung der menschlichen Körpergestalt zu Ende. Nur wenn wir Bekanntes, Vorgegebenes verlassen und uns auf das Abenteuer neuer Gestaltungen einlassen, überwinden wir die Begrenzungen unserer täglichen Existenz. Gestaltplastinate (wie auch Cyberspace-Figuren) sind die Gestalten einer neuen Zeit: Sie sind die moderne, die real-fantastische Auferstehung unseres Leibes, die dem Lebensgefühl der jungen Generation entspricht.

Die Art des Umgangs mit unserer Gestalt, unserem Körper ist nicht angeboren, sondern über die Tradition kulturell geprägt. Von der Verschleierung der Frau in mohammedanischen Staaten bis zur freizügigen Nacktheit beim Karneval in Rio finden sich alle Nuancen des öffentlichen Umgangs mit dem Körper. Öffentliche Darstellungen des nackten Körpers müssen sich in der Regel am kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikumsempfindens orientieren. Nur weil Gestaltplastinate der Aufklärung dienen, dürfen sie nackt und ohne Haut, also nackter als nackt sein, denn einzig das Nackte in Kunst und Medizin ist in allen Kulturen akzeptiert.

Als in der Renaissance die Schönheit der menschlichen Gestalt im Zentrum einer ganzen Kunstepoche stand, wurde auch das schöne Körperinnere entdeckt. Dazu kam es, als Künstler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Dürer die die Leibesoberfläche formenden Muskeln selbst zu anatomieren begannen. Sie dokumentierten das Ergebnis ihrer Studien in anatomischen Zeichnungen. Trockenpräparate sind nur wenige erhalten geblieben, zumeist in erbarmungswürdigem Zustand.

Nach den Künstlern der Renaissance trieb der französische Anatom Honoré Fragonard (1732–1799) den Kunstbezug der Anatomie weiter voran. Mit den Mitteln seiner Zeit konservierte er die bisher einzige anatomische Großplastik, einen reitenden Jüngling.

Für Fragonards Werke trifft das Gleiche zu wie für die anatomischen Präparationen der Renaissance: Das Abbild übertrifft in Schönheit, Farbenpracht und Ausstrahlung das Original. Das änderte sich auch nicht mit der Einführung des bisher besten Nasskonservierungsmittels, des Formalins. Seither bevölkern zwar ganze Batterien von Gläsern mit Flüssigkeitspräparaten anatomische Museen. Doch selbst die Studenten der Medizin müssen erst lernen, ihre Abscheu zu überwinden, wenn sie auf diese grau verfärbten Ppräparate schauen.

Zusätzlich zu dem mit seiner Personalität untrennbar verbundenen äußeren Gesicht ist jedem Menschen auch ein inneres Gesicht eigen. Dieses ist ob der komplexen Anatomie des Körperinneren von ausgeprägterer Individualität als das äußere, unverwechselbar bis in den genetisch-molekularen Bereich hinein.

Das innere Gesicht ist die anatomische Individualität des Körperinneren. Sie wird durch Präparation (z. B. mit Pinzette und Skalpell) und Plastination (z. B. Transparenz der Körperscheiben durch Epoxidharzimprägnierung) sichtbar gemacht. Genauer gesagt: Art und Qualität von Präparation und Plastination bestimmen, welchen Zugang wir zum inneren Gesicht haben, ob wir des individuellen Körperinneren in der Form eines laufenden Muskelpräparates oder einer Körperscheibe ansichtig werden.

Die Plastination erlaubt es, das Körperinnere ekelfrei darzustellen. Plastinate sind die ästhetischsten und instruktivsten anatomischen Dauerpräparate seit es Anatomie gibt. Die Plastination ist auch insofern eine Revolution anatomischer Darstellung, weil es mit ihr gelingt, auch ganz neuartige Präparatetypen wie dünne, transparente Körperscheiben oder gestaltete Ganzkörperplastinate, so genannte Gestaltplastinate, herzustellen.

Die kulturelle Bedeutung der Plastination ist dreifach:

1) Zum ersten Mal verzichten Menschen zu Gunsten der Aufklärung bewusst auf ihre Beerdigung. Dadurch wird das Gestaltplastinat zu einer neuen, diesmal selbstbestimmten Form postmortaler körperlicher Existenz.

2) Die Darstellung des schönen Körperinneren macht Körperemanzipation möglich. Das Körperinnere wird nicht mehr verdrängt mit unmittelbaren Auswirkungen auf das körperliche und seelische Selbstbewusstsein. Zahlreiche Kommentare von Besuchern der Ausstellung “Körperwelten” dokumentieren dies.

3) Mit den Gestaltplastinaten erhält der Tod ein neues Gesicht. Er gewinnt eine ästhetisch-instruktive Lebendigkeit, die der Vorstellung vom Tod eine besondere Versöhnlichkeit gibt.

Das Schönheitsempfinden für das Körperäußere wurde evolutionär eingeübt. Insofern sind uns nur direkte ästhetische Empfindungen für das Körperäußere und das erfahrbare Körperinnere eigen. Die junge, wohlproportionierte Frau, der kräftige, gesunde Mann mit den blendend weißen Zähnen gab den eigenen Genen erhöhte Fortpflanzungschancen. In Sekunden wird der Körperzustand abgeschätzt. Unangenehme Körperattribute lassen Fluchtekel aufkommen. Das können Ausdünstungen, infektiöse Ausscheidungen oder Verletzungsattribute sein.

Die Ästhetik des Körperinneren korrespondiert demgegenüber nicht mit der des Körperäußeren. Hier hat die Evolution keine Präferenzen herausgebildet. Das kranke Herz, die Schrumpfleber ist nicht weniger attraktiv als die gesunden Organe. Der Pathologe kann sogar von den wunderbaren Krebsmetastasen der Leber schwärmen. Bei der ästhetischen Darstellung ist zu unterscheiden zwischen der individuellen Anatomie einerseits und der Technik von Präparation und Plastination anderseits. Es liegt in der Entscheidung des Plastinators, "wie" die individuelle Anatomie gezeigt wird. Der unkomplizierte Umgang von Kindern mit Plastinaten zeigt, dass wir nicht mit Igitt-Gefühlen geboren werden, sondern dass diese durch die bisherigen Darstellungen des Körperinneren, durch die Szene im Gruselfilm oder der Geisterbahn geprägt werden. Davon befreite Plastinate verursachen indes keine Abscheu. Im Gegenteil, sie gestatten es dem Laien, die tiefe Neugier auf unser Inneres zu stillen. Nichts ist uns so nahe wie der Körper, doch über nichts, was uns so nahe ist, wissen wir so wenig.