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'Anita Gratzer Anita Gratzer

Der Text stammt von Thomas Macho, Erstveröffentlichung in: Human Time Anatomy. Galerie im Stifterhaus, Linz 1997

Wer nach dem verschwundenen Zwilling sucht, nach dem fremden Spiegelbild, betritt irgendwann eine Zwischenwelt, eine mysteriöse Zone, systematisch erbaut aus Ursprungssehnsucht und Todesnähe. Anita Gratzers Bilder entführen das betrachtete Auge in diese Zone – in das Herrschaftsgebiet der Schönheiten, die stets nichts anderes sind als “des Schrecklichen Anfang”. (1) Die Zone ist geheimnisvoll; doch ist sie mysteriös nicht nur, weil sie konservierte Leichen und niemals geborene Kinder versammelt. Mysteriös ist sie nicht nur, weil sie an sinistren, öffentlich meist nicht zugänglichen Orten eingerichtet wurde: in den panoptisch angeordneten Zimmern des ehemaligen Wiener Narrenturms, in den Kellern der Berliner Charité, in den Räumen des Theatrum anatomicum von Krakow. Die Zone ist auch und vor allem mysteriös, weil sie im Übergangsfeld zwischen zwei Kulturen und Zeitaltern liegt: im Niemandsland zwischen Wunderkammer und Kunstmuseum, zwischen Alchemistenküche und Laboratorium, zwischen obsessiver Begeisterung für die Ausnahmen – und nicht weniger obsessiver Begeisterung für die Regeln.

Die Bilder Anita Gratzers sind buchstäblich monströs: Sie zeigen, was sich nicht zeigen lässt. Darin bezeugen sie einen Bruch – den Bruch zwischen den vormodernen Erfahrung von Wunderzeichen und der zeitgenössischen Erfahrung von Sensationen. Nach ubiquitärer Ansicht leben wir im Schatten eines “Monster Milleniums”: Doch just im Schatten dieses Milleniums, im Zeichen einer beispiellosen Renaissance der Horror-Ästhetik, hat sich ein Verbot durchgesetzt: das Verbot singulärer Abweichung als gleichsam epiphanischer Erscheinung ohne Schein. Erlaubt ist nur das künstliche, das iterierbare Monstrum – das Wunderwesen in Kopie.

Im Horizont des Postulats der technischen Reproduzierbarkeit aller Lebewesen wirken die Fotografien nahezu skandalös: wie Fetische einer pornografischen Leidenschaft für das unwiederholbar Einzigartige. Was sie wahrnehmen, gleicht nicht der enzyklopädischen Ordnung des Wachsfigurenkabinetts; was sie zu erfassen versuchen, widerspricht dem Spaß an perfekten Masken und Special Effects ebenso gründlich wie den Idealen einer pathologischen Dokumentation.

Diese Fotografien ergreifen Partei nicht nur für die Form, sondern für den Stoff, nicht für die Bildrhetorik des Thrills, sondern für die Reste eines Körpers, der sich unmerklich aller Nachahmung durch Latex oder Silicon Graphics entzieht.

(1)
Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, in: Die Gedichte, Insel Verlag, Frankfurt 1986 zurück