Von der net.art zum net.radio und wieder zurück
'Josephine Bosma
Josephine Bosma
Die Wiederentdeckung und Ausweitung des gesamten Radiospektrums Webcasting war im letzten Jahr eines der ganz heißen Themen im Internet. Komisch ist nur, daß Webcasting niemals jene Aufmerksamkeit erregt hat oder mit jenem Enthusiasmus diskutiert wurde wie beispielsweise Hypertext. Statt dessen wurde der Begriff des Webcasting offenbar von Anfang an als eine Art Luftballon betrachtet, eine Blase heißer Luft, kurz vor dem Platzen, im Begriff, sich jeden Moment als veraltet zu erweisen. Dies ist nicht etwa auf einen allgemeinen Mangel an Potential zurückzuführen. Der Grund ist eher ein Mangel an Potential für jene Art von Marktbeherrschung und Macht, nach der die Medienkonzerne streben. Kurz gesagt, Webcasting ist nicht so gewinnbringend, wie man sich dies erhofft hat. Die sprichwörtliche Goldmine, nach der viele suchen, wenn sie im Internet aktiv werden, gibt ihre Schätze nicht so einfach preis. Das Internet entwickelt immer noch neue Wege und Möglichkeiten, und diese erstrecken sich im Falle des Webcasting im wahrsten Sinne des Wortes in die Offline-Welt. Deshalb ist Webcasting heute eine der ultimativen Plattformen für experimentelle Kunstformen.
Wer den Ausdruck ”Webcasting” verwendet, der meint damit meist Web-TV. Da das Fernsehen immer noch unser mächtigstes Massenmedium ist, hat der Gedanke einer möglichen Kreuzung von Fernsehen und Internet viele veranlaßt, ziemlich seichte Zukunftsszenarien zu entwerfen. Für die Kunst ist es aber wichtig, das gesamte Potential eines Mediums zu betrachten. Im Falle des Webcasting bedeutet dies, daß wir die Möglichkeit haben, alle Massenmedien wie beispielsweise Text oder Druck, hauptsächlich aber Radio und Fernsehen neu zu erfinden. Sie können in jeder Variante und Kombination verwendet werden, unterstützt und de-/rekonstruiert durch das Internet. Webcasting bedeutet Ton und Bild, es ist gleichzeitig statisch und beweglich. Es bietet Vergangenheit (Archive) und Gegenwart (Livestreams) zugleich. Durch die Verbindung zur Offline-Welt – durch Radio oder Fernsehen oder durch Aufführungen und Präsentationen im ”realen Raum” – kann die Tiefe eines dort geschaffenen Werks unvorstellbare, schwindelerregende Dimensionen annehmen. Es stehen uns Text, Ton, bewegliche oder unbewegliche Bilder, realer Raum mit vielen anschließbaren elektronischen Geräten und auch der menschlichen Körper zur Verfügung. Das Publikum muß nicht unbedingt die Gesamtheit des Werks erfassen, um es zu verstehen. Es ist vielmehr möglich, das Werk – entweder während des Entstehungsprozesses oder danach – in Teilstücken aufzunehmen. Das bedeutet, daß es für ein Kunstwerk nicht nur eine mögliche Interpretation gibt, und es bedeutet auch, daß ein Einzelteil des Werks ebenso wertvoll ist (hauptsächlich für das Publikum) wie das Werk in seiner Gesamtheit. Es ist Objekt und Performance zugleich.
Vom taktischen Standpunkt aus gesehen ist der Hörfunk das flexibelste und praktischste Massenmedium. Er ist effizienter als die Printmedien: Wenn man illegal sendet, wenn man sich über die Rundfunkgesetze hinwegsetzt, ist der Hörfunk das billigste Medium mit der größten Reichweite. (*) Man sollte sein Bild von diesem Medium nicht von der Gesetzgebung beeinträchtigen lassen. Es ist äußerst mobil und die Ausrüstung, die man dazu benötigt, ist billig und wenig umfangreich. Das Fernsehen nähert sich in dieser Beziehung vielleicht an das Radio an, ist letzterem aber noch nicht ganz ebenbürtig. Außerdem erreicht ein Ton das Publikum überall in einem Raum, wenngleich sich seine ”Farbe” mit der Bewegung des Publikums/Empfängers ändert. Ein wichtiger Grund, weshalb Tonkunst jetzt immer wichtiger wird, wurde von Helen Thorington von New American Radio genannt: ”Sie bringt den Körper zurück.” Der Ton erreicht den Körper nicht nur in jedem möglichen Winkel, sondern dringt in ihn ein, berührt ihn, innen und außen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und das ist in jener körperlosen Gesellschaft, die die Netzkultur prägt, ein wichtiger Faktor. Net.Art macht die Kunst immateriell und flüchtig, das Net.Radio hingegen macht das Radio sichtbar und führt es zurück auf seine grundlegenden Formen, wodurch es wieder zugänglich wird, während es gleichzeitig eine Erweiterung erfährt.
Man darf Netzradio allerdings nicht mit Netzkunst verwechseln, wie das gelegentlich geschieht, wenn mein Appell nach einem vielfältigeren Gebrauch dieses Mediums mißverstanden wird. Netzradio ist ein Medium, weshalb sich seine Eigenschaften wie die jedes beliebigen anderen Werkzeugs diskutieren lassen. Bei der Kunst liegen die Dinge anders. Was dieses Jahr bei der Ars Electronica erkundet wird, ist die Kombination der beiden. Die Webcaster können ganz allgemein viel von der Kunst und vom Netzradio lernen, aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Damit Sie meine – persönliche – Vision besser verstehen, sollte ich vielleicht hinzufügen, daß ich den Ausdruck Netzradio oft für Webcasting allgemein verwende, womit ich versuche, den dominierenden visuellen Aspekt dieses Mediums zu unterlaufen, weil ich Raum für einen kreativeren und innovativeren Gebrauch des Radios wie auch des Fernsehens durch das Netz und im Netz schaffen möchte. Die Verwirrung, die ich damit stifte, ist beabsichtigt.Ein Zitat von Adam Hyde von Radio Qualia: ”Netzradio ist eine PRAKTISCHE Wissenschaft. Kunst kann um der Kunst willen betrieben werden, das Netzradio aber hat einen vitaleren Kontext – das Netzradio MUSS auf seine Umgebung reagieren und rechtfertigen, warum es anderen Medien vorgezogen wird, wenn es wirklich mehr als bloß ein 'Kunstprojekt' sein möchte … ansonsten gilt: Net.Radio = Net.Art” Was ist Radio aber wirklich? Jeder weiß, daß es sich um ein Massenmedium handelt. Eine Radiosendung, die einer Gesetzgebung unterliegt, die ihren Inhalt und ihre Form bestimmt, wird von einem zentralen Punkt ausgestrahlt und erreicht Empfänger in allen Teilen der Welt. Diese Form von Hörfunk wird fälschlicherweise oft als die einzige betrachtet. Ursprünglich war der Funk, wie übrigens auch das Internet, ein militärisches Kommunikationsmittel. Funk kann für die Kommunikation von Person zu Person oder in einem geschlossenen System verwendet werden. Darüber hinaus kann man über Funk Objekte fernsteuern und sogar Daten vom einen Computer zum anderen übermitteln. Verschiedene Wellenlängen- und Frequenzbereiche werden für alle möglichen Anwendungen genutzt. Aber es gibt nicht nur diese buchstäblichen Varianten des Radios. Der Massenmedienbereich unterliegt den erdrückenden und teuren Urheberrechten, den Mietkosten für Frequenzen, einem Übergewicht kaum überraschender Inhalte, die von den Gesetzen der Wirtschaft und der nationalen Sicherheit diktiert werden, und all das bestimmt unsere Wahrnehmung des Mediums beträchtlich. Piratensender oder illegale Radiostationen waren in der Lage, spielerischere und interessantere Programme zu gestalten, indem sie sich ganz oder teilweise über die Gesetzgebung hinwegsetzten. In Amsterdam, wo einige der bestehenden illegalen Radiostationen schon bis zu fünfzehn Jahre alt sind, weil sie die Radiofrequenzen mit größter Vorsicht benutzen und über gute Ausrüstung verfügen, hat die über lange Zeit praktisch ununterbrochen bestehende Möglichkeit, sich spielerisch mit den Hörfunkinhalten auseinanderzusetzen, die Entstehung stark experimenteller Radiosendungen ermöglicht, in denen der Hörer mitunter aufgefordert wurde, er möge ”seinen Radioapparat aus dem Fenster werfen” oder das Radio abschalten, oder in denen die Hörer live die Eroberung des Senders durch Außenstehende erlebten, die die Studios stürmten um ihre Lieblingssendung selbst zu übernehmen.
Ich nenne diese Beispiele, um zu zeigen, daß das Radio und damit auch das Netzradio nicht als öffentliches oder ”publikumsfreundliches” Medium wahrgenommen oder behandelt werden muß. Wenn wir über ein internationales Net.Radio-Netzwerk wie Xchange, eine der zur Mitwirkung am openX-Teil der diesjährigen Ars Electronica eingeladenen Gruppen, sprechen, so sollte klar sein, das der Begriff Netzradio wenig mit der ”traditionellen” engen Definition des Hörfunks zu tun hat. Der Hörfunk, der diese enge Definition mittlerweile gesprengt hat, wird heute im Internet und im Kontext der Netzkunst verwendet .
Experimente mit Kunstwerken für das Internet oder mit Kooperationsprojekten, die über Telefonleitung verbundene Computernetze beinhalten, begannen bereits in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren. Von diesen Werken war jedoch kaum eines jemals als reines ”netzbasiertes” Kunstwerk gedacht, wie man dies heute nennt. Sie umfaßten Live-Aufführungen oder Massenmedien wie das Radio. Es handelte sich um öffentliche Ereignisse in dem Sinne, daß sie tatsächlich vor einem Publikum, im Rahmen einer Radioshow oder in Form einer Kombination dieser beiden Möglichkeiten stattfanden. Das Netz war jedoch ein wichtiger Bestandteil der Projekte. Computernetzwerke haben Ansatz und Zielsetzung der Kunst verändert und eine Abkehr vom einflußreichen zentralisierten und hierarchischen Charakter der Massenmedien bewirkt. Man könnte sagen, daß die Massenmedien die rohen und noch unentwickelten Vorläufer der elektronischen Medien darstellen, die im Bereich der Kunst eine vereinfachte Wahrnehmung und Herangehensweise hervorgebracht haben, von der wir uns gegenwärtig weg bewegen. Das ORF Kunstradio war eine der ersten, wenn nicht gar die erste Initiative überhaupt, die diese Aktivitäten förderte und sich an ihnen beteiligte. Später bezog VanGoghTV das Fernsehen in ähnliche Kontexte mit ein und nutzte die zunehmende Verfügbarkeit von TV-Ausrüstung und Satelliten. Beide Namen standen für eine je nach Anlaß variierende Gruppe von Menschen und Künstlern. Dasselbe gilt auch für das Projekt Xchange, das als Gruppe durch einen noch wesentlich loseren Zusammenhalt gekennzeichnet ist. Xchange ist eine relativ junge Gruppe, d.h. eine Initiative, die erst etwa ein Jahr lang besteht.
Wenn man sich das ORF Kunstradio, VanGoghTV und Xchange ansieht, bemerkt man eine interessante Entwicklung, die keine Qualitätsbeurteilung sein soll, sondern auf anschauliche Weise eine auf die Verfügbarkeit billiger und einfacherer Technologien zurückzuführende Entwicklung der Medienkunst in Richtung größerer Freiheit, Individualität und Vielfalt verdeutlicht. Das ORF Kunstradio, die älteste Initiative in diesem Bereich, ist eine relativ kleine Radiosendung, die von einer Rundfunkgesellschaft (ORF) ausgestrahlt wird und sich durch die Teilnahme an Aufführungen, die Organisation von Festivals und Großereignissen sowie durch die Schaffung eigener Kunstwerke über die Grenzen ihres herkömmlichen Sendebereichs hinaus entwickelt hat. Ihre ”Netzpräsenz” war seit ihrem ersten Auftauchen im Internet klar und innovativ. Das starke Engagement des ORF Kunstradio im Netzkunst- und Netzradiobereich könnten einen fast vergessen lassen, daß es seiner ursprünglichen Herkunft nach dem öffentlichen Rundfunk angehört und Hörfunk in seiner herkömmlichen Form darstellt.
VanGoghTV fehlte diese klare Verbindung zu einer Rundfunkgesellschaft. Es handelte sich um eine unabhängige Gruppe von Künstlern, die es schafften, die bestehenden TV-, Hörfunk- , Computer- und Satellitennetzwerke zu nutzen, um eine Reihe vernetzter Kunstwerke und Sendungen zu produzieren, die von bestehenden Massenmediennetzwerken in vielen verschiedenen Ländern unterstützt wurden. Billige Technologie und früher Netzwerkindividualismus ließen ein mutiges Projekt entstehen, das aufgrund seiner radikalen ”Programme” und seiner Präsenz im Fernsehen viele ”Medienjungfrauen” zu erreichen und inspirieren vermochte.
Xchange begann im Gegensatz zu den beiden genannten Gruppen als Mailing-List-Netzwerk von Künstlern und Radiomachern, von denen sich einige bereits von Konferenzen und Net.Art-Events kannten. Diese Gruppe verfügt noch weniger als die beiden anderen über eine einheitliche physische Basis, was sich auch in ihrem Ansatz widerspiegelt. Es gibt keine oder kaum eine Verbindung zu Massenmedien (wobei das Internet in diesem Zusammenhang nicht als Massenmedium betrachtet wird) und der individuelle (öffentliche oder vielleicht antiöffentliche) Aspekt der gemeinsam produzierten Werke (gegenwärtig (Juli 98) zumeist RealAudio-Loops zwischen einer Vielzahl von Mailing-List-Mitgliedern) ist stark. Xchange kommt dem Radio in seiner Form als reiner Kommunikation am nächsten und stellt dennoch eine Kommunikationsekstase dar. Xchange ist mehr als eine Gruppe, es ist ”eine Methode für die Kommunikation von Ideen”.
Xchange besteht aus vielen Gruppen und Einzelpersonen und weist diesen Aspekt in noch stärkerem Maße auf als das ORF Kunstradio oder VanGoghTV. Die verschiedenen Gruppen haben ihre eigenen Netzwerke und ihren eigenen Net.Radio-Ansatz, beinahe ihr eigenes Territorium, sowohl im wörtlichen Sinn – d.h. in bezug auf den Bereich, den sie abdecken oder in dem sie arbeiten – als auch im übertragenen – d.h. bezüglich ihres Herangehens an die Kunst und an das Medium Netzradio. Das bedeutet, daß die Wahrnehmung und Darstellung des Net.Radio vom spezifischen, am jeweiligen Veranstaltungsort ”dominierenden” Ansatz abhängt. Wenn Convex TV aus Berlin (eine der Untergruppen, wenn man diesen Ausdruck überhaupt verwenden darf) eine Veranstaltung organisiert, wird diese sich von jenen unterscheiden, die etwa von Radio OZOne (Riga, Lettland) oder Radio Qualia (Australien) organisiert werden.
Netzradio in dem Sinne, wie wir es hier diskutieren (Audiokunst in der ganzen Bandbreite der verschiedenen Möglichkeiten in Verbindung mit dem Internet) beschränkt sich aber nicht auf die genannten Gruppen. Mit demselben Bereich befaßten und befassen sich auch einzelne Künstler wie Jerome Joy in Frankreich, Tetsuo Kogawa in Japan, Joyce Hinterding und Zina Kaye in Australien, um nur einige jener zu nennen, die in der letzten Zeit von sich reden machten. Nicht jeder von ihnen aber würde von sich behaupten, ”Net.Radio” zu machen. Der Kontext ihrer Arbeit und die ihren Werken zugrunde liegenden Ideen unterscheiden sich von Mal zu Mal, da das Medium Netzradio – das ob seiner vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten wahrscheinlich eher den Plural verdienen würde – dazu einlädt, eine Vielzahl verschiedener künstlerischer Richtungen anzuwenden, die sogar noch über jene Bandbreite hinausgeht, die wir von Tanzproduktionen oder aus der Malerei kennen. Letztendlich werden verschiedene Medien und Diskurse Schicht um Schicht übereinandergelegt und bieten den Künstlern einen reichen Pool an Möglichkeiten. Dies schließt oftmals den traditionellen, herkömmlichen Gebrauch zentralisierter, vorgefertigter oder live gesendeter Rundfunkprogramme mit ein. Die drei Gruppen, die ich als Beispiele genannt habe, haben (mit Ausnahme von VanGoghTV) solche Sendungen produziert und produzieren sie immer noch, doch gibt es daneben viele weitere solcher ”Stationen”. Diese ”Audiospaces” im Netz fungieren als Kuratoren, Produzenten und ”Arbeitsplatz” zugleich, wobei jeder seine eigene Spezialität hat. Normalerweise wird der Ausdruck ”Radio” oder das Format mit einem Augenzwinkern gewählt. Eine dieser Stationen ist Radio Lada, das 1995 vom ORF Kunstradio unterstützt und inspiriert seinen Betrieb aufgenommen hat. Wie das ORF Kunstradio beteiligt sich auch Radio Lada selbst an Projekten und organisiert jedes Jahr ein Festival. Im Netz fungiert Radio Lada – zusätzlich zu seinen Projekten – hauptsächlich als Kurator für Audio- oder Performanceveranstaltungen sowie für Texte. Laut Roberto Paci Dalò ist es das Ziel von Radio Lada, die Auswahl von Werken gering zu halten und die Site selbst einfach zu gestalten, so daß für die Werke maximaler ”Raum” vorhanden ist und ein ”Overkill” vermieden wird. Man erkennt viel Ähnlichkeit mit einer Galerie, wobei allerdings trotzdem hervorragend Gebrauch vom Netz gemacht wird. Die präsentierten Werke stammen hauptsächlich von bereits etablierten Künstlern. Radio OZOne (die Gruppe, die die Xchange Mailing-List initiiert hat) begann ebenfalls als eine Art Kurator oder offener Ausstellungsraum für Werke im Audiobereich. Angenommen wurden alle eingereichten Werke. Dadurch, daß jeweils vierteljährlich eine neue ”Ausgabe” präsentiert wurde, entstand viel Ähnlichkeit mit einem Magazin. Als sich später die Möglichkeit bot, Livestreams von der Basis in Riga aus zu senden, wurde Radio OZOne zu einer wöchentlichen Radiosendung, die ein festgelegtes Programm präsentiert, und begann auch, sich in Zusammenhang mit den oben erwähnten RealAudio-Loops zu engagieren. Paradio in Budapest ist ebenfalls eine Gruppe, die sich ausschließlich auf das Internet beschränkt. Auch sie hat eine wöchentliche Sendung in ungarischer Sprache, in der unter anderem auch getalkt wird. Es gibt jetzt ein Archiv früherer Sendungen und jede Menge Texte. Die gesamte Initiative orientiert sich sehr stark an der Jugendkultur, ist lose in einer Hackerszene verwurzelt und verspürt keinerlei Ehrgeiz, sich in den öffentlichen Rundfunk einzugliedern. Es gibt zahlreiche Beispiele für sehr verschiedene und dennoch gleichartige Ansätze im Bereich des traditionellen Webcasting, die vom Convex TV, das auf radikal künstlerische Weise sowohl über das Radio als auch über das Internet arbeitet, über die Gruppe Backspace (in London), die mit dem Medium in einer Art frei zugänglichem Arbeitsraum sehr locker umgeht, bis hin zu Radio Qualia reicht, das zusätzlich zu seinen angekündigten Radioshows unter anderem auch mit einer selbstkonstruierten Datenbankschleife experimentiert, die jeder mit seiner eigenen Website verbinden kann.
In der nahen Zukunft werden die Datenbanken an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig arbeiten verschiedene Netzradio-Aktivisten an solchen Datenbanken. Die erste existiert seit Anfang 1997: Radio Internationale Stadt (RIS) in Berlin. Die Auffassung vom Netzradio als einer Sampling-Maschine wurde vielfach geäußert, doch experimentiert wurde in dieser Richtung nur wenig. Thomas Kaulmann, der Initiator des RIS, arbeitet momentan an einer Suchmaschine in seiner Site, die in der Lage sein wird, auch in anderen Sites Audio-Datenbanken zu finden, sofern diese dieselbe grundlegende Architektur aufweisen. Während ein Stock an Datenbanken heranwächst – und wie es scheint, wächst damit auch die Vielffalt und Leistungsfähigkeit der Software – wird auch der Wunsch, sie in Netzradio-Systemen jeglicher Art zu verwenden, stärker werden.
Experimente mit Audio, Performances und Netzradio in einem künstlerischen oder sonstigen Kontext sind allerdings nicht leicht durchzuführen. Wie Marko Kosnik vom ”Ministry of Experiment” in Ljubljana, der am Extended Live Radio (XLR), der am lockersten gefügten unter den lose zusammenhaltenden Gruppen der Xchange Mailing-List beteiligt ist, sagte, kann man gar nicht genug betonen, wie schwer es sowohl für den Künstler als auch für das Publikum ist, dezentralisierte Arbeit zu organisieren, die Leute zur rechten Zeit zusammenzubringen, eine funktionierende Hardware bereit zu haben und sich dann mit den verschiedenen Ebenen eines Werks auseinanderzusetzen. Es bleibt zu hoffen, daß sich das Netzradio selbst anläßlich der diesjährigen Ars Electronica in seiner vollen Komplexität und Tiefe darstellen wird können. Denn es ist interessant genug, um über den Hype des Jahres hinaus fortzubestehen, und standhaft genug, um diesem nicht zu erliegen.
(*) Ein Radiosender – sogar ein Kurzwellensender – ist etwa so teuer, wie ein PC mit Audiostreamingfunktion. Die Kosten entfallen hauptsächlich auf die Elektrizität, denn für eine große Reichweite sind Hunderte Watt erforderlich. Die Kosten, die in Zusammenhang mit dem Datenverkehr einer großen Netzradio-Station anfallen, sind jedoch gleichermaßen hoch. Die Frage ist, wie sich dies in der Zukunft ändern lassen wird. Dann würde sich die nächste Frage stellen: Wie schnell werden die Kosten für PCs sinken, sobald diese erst so einfach zu befördern und verwenden sind, wie Funkausrüstung oder Empfänger, und was wird im Bereich der gesetzlichen Regelungen für das Webcasting geschehen?zurück
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