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Ars Electronica 1998
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Festival 1979-2007
 

 

Ultima Ratio
Software und interaktive Installation



Für Ultima Ratio werden Konflikte aus Leben und Literatur auf ihre logischen Strukturen reduziert, um Ambivalenzen mit einer Software in mehreren funktionalen und dysfunktionalen Modes zu bearbeiten. Dazu wird auf ein Decision-Support-System aus der KI (Künstliche Intelligenz) zurückgegriffen, mit dem sich Konflikte als Pro- und Kontra-Argumentationen modellieren lassen. Die logischen Abläufe erscheinen in einer Echtzeit-Visualisierung als bewegte 3D-Diagramme, die zugleich als Interfaces dienen. In der Installation werden diese Animationen auf eine runde Scheibe über den Betrachter projiziert. Mithilfe eines Kopf/Eyetrackers folgen die Bilder seinen Bewegungen, wobei die Diagramme in Richtung seines wandernden Blickpunkts verzerrt werden. Ein Chor aus Computer-Stimmen trägt die generierten Dispute vor.

AMBIVALENZ
Ästhetische Erfahrung ist oftmals die Erfahrung von Widersprüchen. Es sind Dilemmas, Paradoxa oder andere Arten von Ambivalenz, denen wir in Kunstwerken begegnen. Aus der Literatur kennen wir die Figur des Helden, der in einer aporetischen Situation seine tragische Entscheidung zu fällen hat.
Pro und Kontra
Ultima Ratio basiert auf einem Formalismus, mit dem sich Ambivalenzen in der Form von Argumentationen repräsentieren lassen. Anders als die klassischen Logiken, tolerieren einige neue Formalismen der KI-Forschung Inkonsistenzen und erlauben z. B. auch Ausnahmen von Regeln.
FORMALISIERTE KONFLIKTE
Informationen, die als Argumente repräsentiert sind, stehen nicht mehr lose nebeneinander, sondern ermöglichen eine automatische Auswertung. Die Logik von Ultima Ratio greift auf eine Datenbank zurück, in der verschiedene Arten von (zunächst meist literarischen) Konflikten als logische Rekonstruktionen gespeichert sind. Das Publikum kann diese Datenbank um neue Argumente, Gegenargumente, Fakten und Annahmen erweitern. Die Formalisierung von Konflikten schließt deren Interpretation und die Explikation von Intuitionen mit ein.
SOLL HAMLET CLAUDIUS TÖTEN?
Ja, denn er will sich an Claudius rächen, der seinen Vater ermordet hat. Nein, denn er glaubt, daß jemand, der gerade betet und in diesem Moment getötet wird, in den Himmel kommt. Fakt: Claudius betet. Also nicht töten. Was, wenn Hamlet einen atheistischen Zweifel (Himmel?) in sich hört? Dann doch töten …

SHAKESPEARE, HAMLET ACT 3, SCENE 3
Hamlet. [approaches the entry to the lobby]
Now might I do it pat, now a' is a-praying –
Fact: praying(claudius)

And now I do it, [he draws his sword] and so a' goes to heaven,
Rule: in_heaven(Y) <- kills(Y,X), praying (Y)

And so am I revenged. That would be scanned:
Rule: take_revenge_on(X,Y) <- kills(X,Y)

A villain kills my father, and for that
Fact: killed(claudius,king)

I his sole son do this same villain send
To heaven …
Why, this is bait and salary, not revenge.
Rule: - take_revenge_on(X,Y) <- in_heaven(Y)

X wants to take revenge on Y if Y killed a person Z being close to X, and the killing is not justified.
Rule: goal_revenge(X,Y), <-
close(X,Z,), killed(Y,Z), not justified (killed(Y,Z))

Hamlet and his father are close to each other.
Fact: close(hamlet, king)

There is a conflict, if somebody wants to take revenge and can't.
Conflict: + <- goal_revenge(X,Y), not take_revenge_on(X,Y)

"Hamlet killing Claudius" is assumed false, but this may be changed in the mode "remove conflict".
Assumption: revisable(kills(hamlet,claudius),false)


ENTSCHEIDEN
Einige rationale Prinzipien der menschlichen Entscheidungsfindung sind im logischen Kern von Ultima Ratio implementiert. ”Glaub nichts, von dem das Gegenteil gilt; zieh keine Schlüsse aus angefochtenen Informationen” etc. Mithilfe dieser Meta-Schlußregeln kann das System nun logische Operationen durchführen. Diese Deduktionsmaschine, in sich rational, wird eingesetzt, um verschiedene Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten zu erzeugen. Sie alle kommentieren die Argumentation als Methode beim Umgang mit Konflikten.
FUNKTIONALE UND DYSFUNKTIONALE MODES
Cascades of Doubt – Struggling Agents
rekonstruiert die inneren Monologe der Helden bzw. Agenten. Mit change agent können die Benutzer die Charaktere beeinflussen, indem sie die Regeln und Annahmen ändern, an die der Held glaubt.

change world
verändert die Fakten, aus denen das Programm ableitet, und generiert logische Alternativen zu den Original-Szenarien. remove conflict liefert Vorschläge, wie manche Konflikte vermieden werden können, indem andere Annahmen über die Welt als wahr gelten.

War of Convictions – Arguments as Forces
führt Argumente als Kräfte vor, die zwischen Wissens-Partikeln wirken (erweiterbar zu einem Multi-Agenten-Szenario). Der Besucher wählt einen Konflikt aus der Datenbank, das System liefert ihm die Argumente.

Crossovers – Tracing Motifs
verbindet verschiedene Plots durch ihre dramaturgischen Motive. Wenn Regeln in mehreren Kontexten auftreten, stellt das System zwischen ihnen eine Verbindung her und erzeugt synthetische Charaktere. So kann die Rache-Regel von Hamlet zu Medea führen, wo ebenso wie in Casablanca eine Nebenbuhler-Regel gilt.

Reasoning Running Wild – Counterarguments forever everywhere
zeigt die Allgegenwart von möglichen Zweifeln.

Inversions – Negations with Negations
liefert logischen Dada mit invertierten Fakten und Regeln. Umfaßt das Komplement einer logischen Ableitung auch Irrationales?

Modelling Virtues – Modifying Tools of Life
Einige Tugenden und Befindlichkeiten wurden mit dem Formalismus interpretiert und können abgerufen werden. Courage = live wrong, but win. Despair = navigation in a reluctant environment.

Gobal Ponderer – Continuous Automatic Reasoning
Will der Besucher nicht eingreifen, kann er Ultima Ratio beim Selbstlauf durch die Domäne der Ambivalenzen verfolgen.
MENTALE RÄUME
Die ”logischen Erzählungen” der Deduktionsmaschine werden als 3D-Diagramme in einem virtuellen Raum visualisiert. Argumente erscheinen als fragile, abstrakte Gebilde, in denen sich Prämissen und Konklusionen als geometrische Formen aufbauen. Balance, Gravitation und andere Effekte zeigen die Dynamik von Argument und Gegenargument. Dem Schlußfolgern entspricht eine Bewegung durch den virtuellen Raum.
PASSIV INTERAKTIV
Ein generierter Navigationspfad führt den Besucher durch die abstrakten Landschaften. Möchte er mehr oder andere Informationen, kann er auch selbst steuern. Zu jeder Zeit steht ihm eine ”Guided Tour” zur Verfügung.
ABSTRAKTION
Auf einem Sphärenmodell werden Informationen rund um einen Widerspruch von innen nach außen angeordnet. Innen findet man konkrete Informationen, etwa Videosequenzen, Bilder oder die Original-Texte. Außen erscheinen die abstrakten, logischen Formeln mit Variablen anstelle von Individuennamen. Die inneren Schichten vererben gliedernde Informationen, wie ”attack, defend, check exception, conflict” an die äußeren, in denen nur noch die Struktur der Argumentation erkennbar ist. Welche Darstellung der Betrachter sieht, hängt ab von seiner virtuellen Distanz zum Widerspruch.
EGOZENTRISCHER BESUCHER
In der interaktiven Installation tritt der Besucher unter eine Scheibe, auf die von oben die Bilder projiziert werden.

Ein Eye- bzw. Head-Tracker registriert die Blickrichtungen des Betrachters. Die Software errechnet den sich bewegenden Fluchtpunkt und verzerrt demnach die Visualisierungen perspektivisch. So wird der Betrachter ganz zum egozentrischen Subjekt, wobei die Gerichtetheit seines Blicks (Kopfs) für die Intentionaliät des Denkens steht.
ZWISCHEN SCHWEIGEN UND SCHREI
Ein Chor von Text-to-speech-Synthesizern trägt die Argumentationen als Polyloge vor. Einsatz, Klangfarbe und Rhythmus der sich überlagernden Stimmen geben die logischen Strukturen wieder. Argumentation bewegt sich zwischen Schweigen und Schrei, beide sind zu hören.
WEISHEIT UND VERZWEIFLUNG
Beim Menschen kann die Dynamik von Argument und Gegenargument zur Verfeinerung des Wissens (Wissenschaft, Weisheit) aber auch zur Verzweiflung führen. Ein Computer-Programm dagegen kann, jenseits der Verpflichtung zu handeln, endlos räsonieren.

Konzept, Visualisierung, Interfaces, Produktion: Daniela Alina Plewe, Logik-Programmierung: Michael Schroeder (City-University, London), Uwe Kuessner (KIT- Projekt, TU Berlin)

Computer-Linguistik: Manfred Stede (KIT- Projekt, TU Berlin), Visualisierungs-Software: Andreas Raab, Bela Bargel, Joachim Boettger (Institut für Simulation und Grafik, Universität Magdeburg), Sound: Florian Reifenberg, Wolfgang von Schweinitz, Thomax Kaulmann, Demo-Stills (s/w): Stefan Gandl, Softimage-Operating für Demo-Animation: Dirk Weinreich, Tristan Thönnissen, Jens Eidinger, Martin Dahlhauser, Pik You Chan, Tilo Meisel

Mit freundlicher Unterstützung von: Ars Electronica, Linz; Hightech Center Babelsberg, Potsdam; Heinrich Hertz Institut, Berlin; Brouillard Precis, Marseille, Team-konzept, Berlin

Dank an: Kit Blake, Manuel Bonik, Carlos Damasio, Clemens Fischer, Norbert Ebenritter, Robert Hödicke, Johannes Krug, Frank Kunkel, Ina Lindemann, Ulrich Malik, Iara Mora, Tilbert Oelke, Oliver Scholz, Ingo Schütze, Norbert Streitz, Wolfgang von Schweinitz, Julean Simon, Axel Stammler, Gerd Wagner

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