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Ars Electronica 1998
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Case Study 309


'Tammy Knipp Tammy Knipp

ZIEL/BESCHREIBUNG
Die Installation besteht aus zwei identischen Strukturen, die jeweils ca. 3,5 m hoch, 0,9 m breit und 0,9 m tief sind. Die Sichtperspektive erfordert es, daß sich die Teilnehmer auf simulierten Förderbändern auf den Rücken legen (also eine verwundbare Position einnehmen) und unter eine hängende Black Box (ca. 0,6 m mit 19” Videomonitoren) rollen. Jeweils zwei Teilnehmer können das Objekt sehen, wobei jeder seine eigene Zone hat. Durch die geänderte Sichtperspektive (ein unkonventioneller Ansatz) wird Neugier geweckt. Will man das Objekt sehen und erfahren, muß man eine verwundbare Stellung einnehmen und damit ein Risiko eingehen – in physischer, sozialer und psychologischer Hinsicht. Ziel der CASE STUDY 309 war es, die Videobilder mit der physischen Bewegungsempfindung, also mit der Kinästhesie, zu synchronisieren.
BEOBACHTUNG/FORSCHUNG
Haptizismus. Die skulpturalen Vorrichtungen haben eine eigenständige Lebensform angenommen. Die Strukturen wurden zu Initiatoren, die ein ”soziales Happening” anregen und erleichtern, wobei der Begriff ”Happening” im Sinne von Allen Karpow verwendet wird. Teilnehmer und Betrachter waren arglose Subjekte aus einer Beobachtungsperspektive, wodurch menschliches Verhalten und soziale Interaktion in Echtzeit analysiert werden konnte. Interessanterweise erforderte es das Kunstwerk, daß Akteure und Betrachter ihre Rollen vertauschten. Die direkte Erfahrung führte dazu, daß die Akteure noch verständigere Betrachter wurden. Mit anderen Worten gesagt, begann die haptische Erfahrung mit einem neugierigen Betrachter, der zu einem aktiven Beteiligten wurde und dann wieder in die Rolle des Betrachters schlüpfte. Dieser ”zweite Blick” führt zu einer weiterentwickelten Beobachtung. Auf dieser ”haptischen Perspektive” baut dann der Großteil der selbst erfahrenen Bedeutung auf. Die zahlreichen Perspektiven schaffen eine empirische Vereinigung von Körper und Geist – was ich ”Haptizismus” nenne. Die Beschreibung von Haptizismus ist verwandt mit dem Somatischen, wo wir grundsätzlich durch den physischen Körper selbst lernen. Ich bezeichne Hapitzismus als experimentelle, interaktive Kunst, die mit kinetischen Methoden eine Realität erzeugt, die vom haptisch Lernenden virtuell wahrgenommen wird.

Humor & Lachen. Während der Ausstellungen zeigte CASE STUDY 309, daß in Gruppen, bei denen soziale und kommunikative Schranken bestehen, Humor und Lachen die gemeinsame Sprache zu sein scheint. Diese Beobachtung entspricht Beispielen aus der Anthropologie, die von Jacob Levine erforscht wurden und ihn zu folgendem Schluß führten: ”Nichts wird so vollständig mit anderen geteilt wie das Lachen.”

Patrizia Keith-Spiegel, die sich mit der Psychologie des Humors wissenschaftlich beschäftigt, verweist darauf, daß es vier Elemente gibt, die von vielen Theoretikern als erforderliche (allerdings nicht als alleinige) Voraussetzungen für Humor und Lachen betrachtet werden: das Element der Überraschung, des Schocks, des Plötzlichen und des Unerwarteten. Durch den Einsatz bizarrer Videobilder, absurder kinetischer Vorrichtungen und sinnloser Gefahrentaktiken gelang es mir, diese vier Elemente in CASE STUDY 309 zu erzielen. Sie verstärkten die haptische Erfahrung und schufen die richtigen Bedingungen für soziale Interaktion.

Spiel: Beim Hinterfragen psycho-sozialer Phänomene, wie z.B. Überheblichkeit, Verlegenheit, Unsicherheit und Zurückhaltung, war es bei jeder meiner CASE STUDY 309 wichtig, eine unbeschwerte Perspektive aufrechtzuerhalten, wie bei einem Spiel – die Fähigkeit, über sich selbst und mit anderen zu lachen. Laut Sutton-Smith, der sich mit der Psychologie des Verhaltens beschäftigt, gibt ”das Spiel dem Einzelnen die Möglichkeit des sozialen Lernens, ohne negative Rückwirkungen befürchten zu müssen”.

Selektive Reize: Diese Taktik (optimale selektive Reize zur Lenkung des Erlebten, Kombination von Erwartetem und Unerwartetem) wurde eingesetzt, um ein Maß an Neuartigkeit und Erregung zu erzielen, durch das die Erwartungen und Wahrnehmungen des Publikums bei CASE STUDY 309 verändert werden. Studien haben gezeigt, daß man ein Umfeld mit minimalem Reizinput in der Regel nicht als erstrebenswert betrachtet.

Desorientierung: Eine der bei CASE STUDY 309 eingesetzten Stimulustaktiken war die ”Desorientierung”, d.h. überwältigende oder einander widersprechende Reize, durch die die Korrelation der Informationen im Gehirn erschwert wird. Dadurch sendet das Gehirn falsche Inputsignale an verschiedene Sinne, was wiederum die Wahrnehmung verändert. CASE STUDY 309 stützte sich auf das Erleben der Desorientierung durch die auf dem Rücken liegenden Teilnehmer. In dieser verwundbaren Stellung wurde die Wahrnehmung der Teilnehmer durch Desorientierung und Konfusion verändert.
TECHNISCHE BESCHREIBUNG
Zunächst wurde mit dem Arion Programmer eine zeitliche Abfolge elektronischer Signale (Impulse) zum Ein-/Ausschalten externer Geräte erzeugt. Nach Abschluß des Ton-/Videoschnitts wurden diese elektronischen Signale auf der rechten Tonspur des Videobands aufgezeichnet. Danach wurde das Videoband in ein HiFi-Stereoformat gebracht, um die Tonspuren zu trennen. Die linke Tonspur enthielt den Ton und die rechte das Steuersignal.

Bei der Installation wurde der Arion Auxiliary Controller zur Wiedergabe verwendet. Er war am rechten Tonkanal des HiFi-Stereo-Videorecorders angeschlossen und mit elektronischen Relaiskästen verkabelt. Beim Abspielen des Videobandes erkannte der Controller die elektronischen Signale und leitete sie an den entsprechenden Relaiskasten weiter. Dort wurde das Signal in einen elektrischen Impuls umgewandelt, wodurch die entsprechende externe kinetische Vorrichtung aktiviert wurde. Die Aufzeichnung der elektronischen Impulse auf dem Videoband ermöglichte es, die physischen Empfindungen mit den Videobildern zu synchronisieren.