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Mitologies


'Hisham Bizri Hisham Bizri / 'Maria Roussos Maria Roussos

Mitologies ist eine interaktive VR-Arbeit, die virtuelle Realität als künstlerisches Ausdrucksmittel für die Erkundung historischer, politischer, musikalischer und visueller Erzählungen zu verwenden versucht. Thematisch ist Mitologies von mittelalterlichen und zeitgenössischen literarischen Vorlagen inspiriert und geht deren verflochtenen Wechselbeziehungen nach. Das Werk verarbeitet ganz grob den Stoff der kretischen Minotaurus-Sage, der Apokalypse oder Offenbarung des Johannes, von Dantes Inferno, Dürers Holzschnitten zur Apokalypse und Borges' Bibliothek von Babel. Wagners Ring der Nibelungen dient als strukturierendes Motiv für die Erzählung. Die rätselhafte Beziehung zwischen diesen Quellen wird in einer Mise-en-scène wiedergegeben, deren Wurzeln in der illusionistischen Erzähltradition anderer Medien wie Film und Literatur liegen.

Mitologies ist die Kulmination eines umfangreichen Werks, sowohl als Kunstprojekt als auch als Softwareprototyp, der für das CAVE VR-System entwickelt wurde.

DIE VIRTUELLE ERFAHRUNG
Das Wort Mitologies ist vom griechischen ”mitos” abgeleitet, dem Faden, den Ariadne Theseus gegeben hat, damit er wieder aus dem Labyrinth von Kreta herausfindet. Der Betrachter in Mitologies macht allegorisch dieselbe Erfahrung wie Theseus, aber auch die einer weiteren historischen und literarischen Figur, nämlich Dante Alighieri. Die Erzählung beginnt im klassischen Märchenerzählstil, eine Form, die in virtuellen Welten kaum bekannt ist, in anderen Medien wie Film und Literatur jedoch häufig verwendet wird.

Im Verlauf der Erzählung ziehen die Integration/Interaktion von langen Fahrten, verschwommen halluzinatorischen Landschaften und nebligen Übergängen, beschleunigter und verlangsamter Bewegung, plötzlichen Wechseln von Farbe zu Schwarz-Weiß, schauriger Wagner-Musik, bizarren und verzerrten Dekorationen, labyrinthischen Strukturen und parabolischem Stil, Zeitdruck und räumlichen Diskontinuitäten den Betrachter in eine Art ”Action”-Handlung hinein, dramatisieren die Reise und verschmelzen die gesamte Erzählung mit einem traumähnlichen Gefühl.

Beim Betreten des CAVE befindet sich das Publikum zunächst an einem Flußufer in einem dunklen Wald, einer Anspielung auf Dantes sündigen Wald. Aus der Ferne vernimmt der Zuseher die knarrenden Geräusche eines Holzbootes und das leise Plätschern des Flusses gegen das Ufer. Das Boot nähert sich langsam, geführt von einer Statue: einem Modell von Donatellos Zuccone. Kann das Vergil sein, der Dante ins Inferno begleitet? Am Ufer angekommen, wird der Besucher schnell ins Boot verfrachtet, und die Reise flußabwärts beginnt. Im CAVE selbst sind zwei Bänke so angeordnet, daß sie den virtuellen Sitzen des Boots entsprechen. Dennoch erhält man eine realistische Illusion der Bootsfahrt, denn blickt der Besucher auf den Boden des CAVE, so sieht er das Boot unter seinen Füßen schaukeln.

Die Absicht hinter dieser Eröffnungssequenz ist, ein klares Gefühl für den Faden der Geschichte zu etablieren. Der langsame, gleitende Fluß der Einleitung ist lethargisch und meditativ und bestimmt das Tempo, das im ganzen Werk erzielt werden soll. Das die Flußszene eingesetzte Flußmotiv aus Wagners Rheingold trägt zum Gefühl der drohenden Gefahr bei und erhöht die Erwartung auf das noch kommende Unbekannte. Bei genauerer Prüfung der visuellen und auditiven Metaphern wird der Teilnehmer die Elemente erkennen und die Verbindungen herstellen, die ihn später auf seiner Entdeckungsreise leiten werden. Schließlich wird die Flußszene ausgeblendet und das nächste Bild eines helleren, himmlischeren Ortes eingeblendet. Der Übergang wird durch die Musik unterstützt, die als strukturierendes Element für den Verlauf der Geschichte dient. Dort angekommen, entsteigt der Betrachter dem Boot und verwendet nun den ”3D-Wand”, das Interface für die Navigation, um seine Reise über eine große Ebene fortzusetzen. In der Ferne erscheint eine von einem Gartenlabyrinth umgebene phantastische Kirche. Diese Kathedrale ist nach einer Skizze Leonardo da Vincis von einer nie erbauten Kirche entworfen worden. Der Betrachter hat die Möglichkeit, hinauf zu den detailreich gestalteten Ziegelkuppeln zu steigen und da Vincis hervorragende architektonische Vision zu inspizieren.

Die Tore der Kirche öffnen sich langsam und geben den Blick auf einen Raum frei, der der Großen Moschee im spanischen Cordoba nachempfunden ist. Die Klänge von Wagners Ring verstärken die Empfindung des Emporgehobenwerdens und des Fortschreitens von einem Raum in den nächsten. Dem Betrachter steht es frei, die realistische Darstellung unten zu bestaunen und beinahe die Teppiche zu fühlen, oder hoch über ihren Bögen zu fliegen. So wie die Kirche wurden die Textilien und Verzierungen im Inneren der Moschee nach verschiedensten Quellen gestaltet, die sich auf das Modell, die Zeit und den thematischen Inhalt beziehen, wurden aber ebenso dem Verlauf der Erzählung angepaßt. Das Fortschreiten wird noch intensiver, wenn die dunkleren und ornamentaleren Plätze der Moschee zum Eingang eines noch dunkleren, mysteriösen Labyrinths darunter werden.

In den Metamorphosen schreibt Ovid, Daedalus habe ein Gebäude errichtet, in dem er die üblichen Wege ineinander verschlungen hat und das Auge mit einer Vielzahl von einander widersprechenden Wegmöglichkeiten täuscht.

In Mitologies wurde eine Unzahl von befremdlichen, dunklen und irreführenden Wegen geschaffen, um ein Labyrinth in Anlehnung an das von Daedalus zu schaffen. Das Labyrinth ist ein Spinnennetz bzw. ein Rhizom: Jeder Pfad ist mit jedem anderen verbunden. Es hat keinen Mittelpunkt, keine Peripherie und keinen Ausgang, denn es ist potentiell unendlich. Beim Vordringen in das Labyrinth findet sich der Betrachter auf Wegen zu mittelalterlichen Kuriositätenkabinetten, Räumen, die auf Dürers Holzschnitten zur Apokalypse beruhen, die von Statuen und Ikonen bevölkert sind oder Räumen, in denen der Betrachter die richtige Wahl treffen muß, um voranzukommen.

Jeder der Holzschnitträume erweckt einen von sieben für diese Arbeit ausgewählten Holzschnitten Dürers zu dreidimensionalem Leben. Der erste Raum zeigt die Sieben Trompeten, in dem das Buch mit den Sieben Siegeln rasch auf einer Rolle abläuft, unterlegt mit lauten Trompetenklängen aus Wagners Rheingold. Im Raum der Apokalyptischen Frau folgt eine weibliche Stimme aus der Walküre einem Frauentorso, während das Wasser zu steigen beginnt und schließlich den Raum überflutet. Der Raum der vier apokalyptischen Reiter setzt den Schrecken des berühmtesten Blatts von Dürers Apokalypse um, indem die vierfarbigen Wände als Symbol für die Gewalttätigkeit der Reiter den Betrachter umzingeln. Im Raum Öffnung des fünten und sechsten Siegels stehen mehrere semitransparente Ebenen, die den unteren Teil des Holzschnitts darstellen, wie Klingen in die Höhe. Die Folter des Johannes, der ungewöhnlichste Holzschnitt Dürers, der auch nicht zur Apokalypse gehört, wurde in den vier kreuzförmigen Orten des Raumes durch eine moderne Interpretation von Folter umgesetzt. Im Holzschnittraum vom hl. Michael im Kampf mit dem Drachen, einem der letzten der Holzschnitträume, finden sich schließlich Stellen aus dem Buch Daniel.

Andere Räume des Labyrinths versuchen den Zauber und die Schönheit der beliebten mittelalterlichen Kuriositätenkabinette einzufangen. Der Metaphysik/Astronomie-Raum lädt den Besucher ein, die Höllenbilder der Sixtinischen Kapelle durch ein riesiges Teleskop zu betrachten. Im Musikraum kann der Betrachter eines von vier Instrumenten spielen und die Notenblätter durchsehen. Die Insekten-, Geographie- und Alchemieräume ähneln muffigen Studierstuben, in denen Wissen mittels komplizierter Taxonomien klassifiziert wird. Im ersten dieser Räume findet man Insektentafeln, die mittelalterlichen Entomologiebüchern entstammen. Die Geographiestube zeigt die Schönheit und Exaktheit mittelalterlicher Kartographiekunst – anhand von unzähligen Karten sowie einem zentralen Modell der Erde, das die Grundlagen des ptolemäischen Weltbildes darstellt. Der als drittes erwähnte Raum, die Alchemieküche, ist mit den zehn Gottesworten der Kabbalah erfüllt.

Jeder der Räume des Labyrinths bedurfte sorgfältiger Forschungen sowohl hinsichtlich des künstlerischen Inhalts als auch des historischen und politischen Kontexts, den sie darstellen. Die virtuelle Gestaltung versucht allerdings nicht, die Kontexte dieser Räume perfekt wiederzugeben, zu interpretieren oder umzusetzen, sondern ihr emotionales Wesen einzufangen. Die Konstruktionen der Räume enthalten ein komplexes Netz an Metaphern und Zeichen. Je nach der Wahl des Betrachters kann der Weg von einem Raum zum nächsten linear, kreisförmig oder wirklich labyrinthisch sein. Hat man endlich den letzten Raum des Labyrinths erreicht, endet die strapaziöse Reise des Betrachters. Die Form dieses Raums ähnelt der Ziffer Sechs bzw. einem Schneckenhaus, so wie die beiden vorangegangenen Räume. Der Betrachter betritt den Raum an der schmalen Spitze und geht in einem Kreis bis zur Mitte, wo man dem Minotaurus selbst begegnet. Die Darstellung des Minotaurus, wie er in seinem prachtvollen Tempel sitzt, beruht auf Cesare Ripas Todesmetapher aus den Iconologia: ”Uns alle erwartet dasselbe Schicksal; wir hasten auf ein gemeinsames Ziel zu, den Schwarzen Tod, der Macht über alle beansprucht.”

Während der Betrachter natürlich versuchen wird, sich dem Minotaurus zu nähern, öffnet sich unter seinen Füßen eine versteckte Krypta, durch die er dem Labyrinth entkommt. Wie in der Anfangssequenz ist die Navigation deaktiviert und der Betrachter fällt in ein Gezeitenbecken, während der Ausschnitt aus Rheingold einen Höhepunkt erreicht. In einer schwindelerregenden Spirale, in der Stimmen und Klänge mit nach unten wirbeln, landen die VR-Beobachter wieder im Boot, von dem aus sie ihre Reise begonnen haben. Nur daß Donatellos Statue nicht mehr im Bug des Bootes steht. Stattdessen findet man dort Reste von Federn, Symbol der Schwingen, die Daedalus zur Flucht verholfen haben. Auch das Stimmen- und Klanggewirr ist verstummt, und nur das Knarren des Bootes unterbricht die Stille. Die Erzählung vom Labyrinth, die in sich selbst ein Labyrinth ist, ist zu Ende.
SCHLUSS
Man könnte das Projekt Mitologies sowohl als ein Experiment mit modernster Technik sehen als auch als den Versuch, sich der Welt des 20. Jahrhunderts durch kulturelle Ausschnitte der Vergangenheit zu nähern und dabei eine andere Perspektive als die der Technologie, mit der sie erstellt wurde, zu haben. Obwohl es dem Besucher überlassen bleibt, das historische, literarische und mythologische Material zu zeitgenössischer Relevanz zu synthetisieren, ist es dennoch eine Zielsetzung dieser Arbeit, eine Alternative zu den gewöhnlich schnellebigen, wahlintensiven synthetischen Welten zu schaffen und einen tiefen und dauerhaften Eindruck in der VR-Kunst und der technologiebasierten Kunst im allgemeinen zu hinterlassen.

Mitologies wurde von einer interdisziplinären Gruppe von Künstlern und Wissenschaftlern der Universität Chicago im Chicago's Electronic Visualization Laboratory entwickelt. Die Gruppe umfaßt folgende Mitglieder: Joe Alexander, Hisham Bizri, Alan Cruz, Tomoko Imai, Alan Millman, Dave Pape und Maria Roussos. Eine umfangreiche Sammlung von Quellen, Bildern und Texten zu Mitologies findet man unter folgender Webadresse: http://www.evl.uic.edu/mariar/MFA/MITOLOGIES.