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The Thing Growing
Interaktives Geschichtenerzählen

'Dave Pape Dave Pape / 'Josephine Anstey Josephine Anstey

The Thing Growing ist ein virtuelles Frankensteinexperiment: Es ist der Versuch, ein DING mit eigenem Willen und ei0gener Persönlichkeit zu schaffen, das uns in eine virtuelle Welt entführt.

The Thing Growing entstand aus der Auseinandersetzung mit interaktivem Erzählen. Eine einfache Erzählstruktur umfaßt drei Teile: 1. Ausgangssituation, 2. Konflikt, 3. Lösung. Der User identifiziert sich mit dem Protagonisten und teilt das emotionale Auf und Ab, in das er durch diese erzählerische Verbindung hineingezogen wird. Der übliche Aufbau einer interaktiven Erzählung (durch den der Benutzer zum Protagonisten wird), verwendet Hypertext mit zahlreichen Verzweigungen, zwischen denen der Benutzer wählen kann. Diese Methode der exponentiellen Verzweigungen, obwohl als Textexperiment interessant, ist für andere Medien (Film, Video, Computergraphik, Animation, Virtual Reality) weitaus weniger geeignet, denn schon die Produktion einer einzigen Version einer Szene kann sehr zeitaufwendig und kostspielig sein.

Wir glauben auch nicht, daß es genügt, bloß die Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Erzählsträngen zu erhöhen, um eine interessante interaktive Erzählung zu schaffen. Viele nicht-interaktive Geschichten sind spannend, weil sie den Protagonisten mit einer schwierigen Situation konfrontieren, die nur eine einzige, ungewöhnliche Wahlmöglichkeit zuläßt. Die Erzählung entwickelt sich mit dem Kampf des Protagonisten gegen den Machtverlust und mit dem Versuch, wieder eine gewisse Kontrolle über das Leben zu gewinnen.

Wir beschlossen, den User zum Protagonisten der Erzählung zu machen, indem wir uns auf den Aufbau einer Beziehung zwischen ihm und einer einzigen Figur konzentrierten. Anstatt die Geschichte mit vielen unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten auszustatten, wollten wir ein virtuelles DING schaffen, das auf unterschiedlichste Art und Weise auf den User reagiert. Ein DING mit großer Handlungsfähigkeit in bezug auf sich selbst und seine Umwelt, das den User auf einer emotionalen Ebene anspricht.

Eine der Hauptschwierigkeiten einer glaubhaften Interaktion besteht darin, den User davon zu überzeugen, daß das DING ihn bis zu einem gewissen Grad ”kennt”; ihm das Gefühl zu geben, als Individuum anerkannt zu werden. Im Hauptteil des Stückes besteht das DING herrisch darauf, dem User einen Tanz beizubringen. Seine Reaktionen wechseln je nach dessen Leistung und seiner eigenen Laune. Es ermutigt, es jammert und stößt Drohungen aus, um den User zur Nachahmung bestimmter Tanzschritte zu bewegen. Es lobt ihn, wenn er gut tanzt. Es gerät über schwerfällige Bewegungen in Verzweiflung. Es beobachtet den Benutzer und tanzt mit ihm.

Wir haben einen Tanz gewählt, weil damit ein einigermaßen gut kontrollierbarer Kontext für die Interaktion geschaffen wird. Mit dem elementaren CAVE VR-System ”erkennt” der Computer lediglich, wo sich die mit Trackern erfaßten Körperteile des User befinden. Im allgemeinen werden dabei die Bewegungen des Kopfes und einer Hand erfaßt. Mittels zweier zusätzlicher Sensoren verfolgen wir auch die zweite Hand und den Körper. Dieses Tracking-System beliefert das DING mit Informationen über Position und Aktivität des Users. Aufgrund dieser Information entscheidet es dann, ob der User aufmerksam, kooperativ, aktiv, faul oder gleichgültig ist.

In Computers as Theater führt Brenda Laurel die Idee der ”Beschränkung” ein. ”Wie”, so fragt sie, ”lassen sich Menschen dazu bringen, sich allein auf die in der dargestellten Welt vorhandenen oder zugänglichen Möglichkeiten zu beschränken?” (Computers as Theater, 1993, S. 135). Ihrer Meinung nach sorgt der narrative Kontext für die Bereitschaft der User, sich den Zwängen und Beschränkungen der Technik anzupassen: ”Wenn etwa bei einem Flug mit einem imaginären Raumschiff die Escape-Taste als Selbstzerstörungsmechanismus definiert ist, ist der Zwang, diese Taste während des Flugs ungedrückt zu lassen, handlungsimmanent.” (Computers as Theater, S. 103)

Ähnlich versuchen wir bei der Entwicklung der intelligenten Komponente des DINGs dessen Charakter so zu gestalten, daß nicht auffällt, mit wie wenig Informationen es auskommt. Das DING bringt dem User das Tanzen bei, weil es Daten über seine Bewegungen empfangen und entsprechendes Feedback geben kann. Das DING ist überheblich und eigensinnig – teils, um den Erfordernissen der Handlung zu genügen, teils, um seine Dummheit zu verbergen. Es ist launenhaft, es lobt oder beschimpft den Benutzer willkürlich für ein und dasselbe Verhalten – teils, um die Widersprüchlichkeit der Menschen zu imitieren, teils, um seine Unwissenheit zu verbergen.

In The Thing Growing spielen wir auch mit linearem und nicht-linearem Erzählen. An manchen Stellen möchten wir, daß die Geschichte sehr linear abläuft. Wir sagen dem User: ”Geh zu diesem Schuppen, öffne diese Kiste und – plops – das DING springt heraus.” An anderen Stellen besteht die Geschichte aus nicht-linearen Interaktionen zwischen DING und Benutzer. Es fragt sich, wie kooperativ die Menschen im linearen Teil der Geschichte sein werden. Sobald wir das DING als Figur eingeführt haben, lenken wir die Benutzer mit Hilfe eines tyrannischen Charakters in die von uns gewünschte Richtung. Ein interaktives Umfeld läßt aber nichtsdestotrotz großen Freiraum, und ein entschlossener Benutzer ist immer in der Lage, in eine gänzlich andere Richtung zu gehen – in einen Teil der virtuellen Welt, den es noch nicht gibt. Brenda Laurel zufolge sind die Menschen durchaus daran gewöhnt, für die Vergnügungen der Kunst oder Unterhaltung ”ihre Zweifel vorübergehend zu vergessen”. Vielleicht setzen interaktive Stücke auch die Bereitschaft der Benutzer voraus, ”den eigenen Willen vorübergehend zu vergessen”. Wir meinen dies in dem Lacan'schen Sinn, daß nämlich das volle Genießen der Arbeit von der Bereitschaft der Benutzer abhängt, kontextuelle Anhaltspunkte zu akzeptieren, die ihnen sagen, wie sie sich verhalten sollen. Sie werden zu Protagonisten, indem sie die kontextuell gegebenen Spielregeln dieser Rolle akzeptieren.

EINIGE TECHNISCHE ANMERKUNGEN
Virtual Reality eröffnet dem künstlerischen Ausdruck zwar viele neue und spannende Möglichkeiten, aber nur die wenigsten KünstlerInnen haben Zugang dazu. VR ist noch immer eine sehr technische Angelegenheit, in der sich hauptsächlich ComputertechnikerInnen und WissenschaftlerInnen auskennen. Es gibt zwar eine Reihe von VR-Arbeiten, doch stammen diese meistens von einigen wenigen KünstlerInnen, die genug Talent und Zeit haben, um auch als ComputerprogrammiererInnen zu arbeiten (oder umgekehrt). Einige wurden von Teams entwickelt, wobei die Vorstellung der Künstler von anderen umgesetzt werden mußte – ein manchmal schwieriger und unvollkommener Prozeß.

Die Software für The Thing Growing basiert auf XP, einem experimentellen Programmiersystem, das wir für CAVE-Applikationen im Rahmen von öffentlichen Ausstellungen entwickelt haben. XP entstand aus dem Wunsch, KünstlerInnen, die wenig Erfahrung mit C++, OpenGL, Ablaufdiagrammen etc. haben, die Schaffung groß angelegter CAVE-Umgebungen zu ermöglichen. Die Entwicklung interaktiver Welten soll durch eine Reihe einfacher Tools erleichtert werden. Das System basiert auf einer Anzahl bereits vorhandener Toolkits (CAVElib, Performer, OpenGL), legt ein Standardsystem für die Erstellung grundlegender Programmelemente fest und liefert eine Reihe von vordefinierten Tools für Standardroutinen. Dabei setzt das System auf eine Modulstruktur, die die Basisprogramme enthält. Für die eigentliche Anwendung werden die Module zusammengesetzt und in hierarchischen Ablaufdiagrammen verbunden.

Die vordefinierten Tools umfassen Module für das Erstellen von Objekten und Klängen in der 3D-Welt, für das Navigieren durch diese Welt, für die Kollisionskontrolle, für die Objektmanipulation, für die Ereignisauslösung durch den sogenannten Wand oder Positionswechsel und für das nochmalige Abspielen der Animationen. Spezielle Verhaltensweisen lassen sich als zusätzliche Module programmieren, wenn man die Basisklassen des XP-Systems erweitert. Das Zusammensetzen der Module erfolgt ähnlich einem Drehbuch und kann auch von Nicht-ProgrammiererInnen leicht erlernt werden.

Im Fall von The Thing Growing wurde das System durch die Entwicklung eines einfachen intelligenten Agenten erweitert – durch das DING selbst. Um ein Handlungsrepertoire für den Körper des DINGs zu erstellen, entwickelten wir außerdem ein Modul zur Bewegungserfassung. Zum Aufzeichnen der Handlungen genügte es, dieses Tool in die Szenenfolge des DINGs einzusetzen. Je nach Entwicklung der Geschichte, je nach Verhalten der Benutzer und der eigenen emotionalen Befindlichkeit wählt die intelligente Komponente des DINGs während der Erzählung eine passende Handlung aus. Zusätzliche Bauteile versorgen die intelligente Komponente mit den notwendigen Informationen über die Benutzer, wobei mit Hilfe von Trackern Daten gesammelt und interpretiert werden.

XP dient nicht nur der Schaffung von Virtual-Reality-Installationen, sondern soll auch Abhilfe für die bei Ausstellungen immer wieder auftretenden Probleme schaffen. Das System muß in der Lage sein, Graphik und Sound binnen kurzer Zeit zurückzusetzen, ohne einen kompletten Neustart ausführen zu müssen. Die Navigation muß simpel sein und Benutzer dort führen, wo sie eine bestimmte Richtung einschlagen sollen. Die Kollisionskontrolle soll Benutzer im richtigen Teil der Welt halten, muß sich aber deaktivieren lassen, wenn sie in einem Datenbankloch steckenbleiben. Das System muß an den Anfang zurückspringen können, wenn Benutzer sich verirren.

The Thing Growing ist ein Experiment auf mehreren Ebenen. In technischer Hinsicht verwendet es das XP-System, das den Zugang zum Arbeiten mit VR erleichtern soll. Anstatt eine weitverzweigte Handlung einzuführen, versuchen wir die Probleme des interaktiven Erzählens zu lösen, indem wir uns auf das Reaktionsrepertoire einer Figur konzentrieren. Wir experimentieren mit Brenda Laurels Idee der ”Beschränkung”, wonach der Erzählkontext den unbeschränkten Wahlmöglichkeiten der Benutzer Grenzen setzt. Und wir stellen uns die wahrscheinlich unlösbare Aufgabe, eine Beziehung – eine emotionale Beziehung – zwischen einem Menschen und einem DING herzustellen.