Nerve Theory: Shades Of Catatonia
'Tom Sherman
Tom Sherman
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'Bernhard Loibner
Bernhard Loibner
”… Opfer der modernen psychologischen Kriegführung sind jene ver-rückten Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise versuchen, mit dem weitverbreiteten Phänomen der Informationsarmut fertig zu werden. Auslöser dieses allgemeingesellschaftlichen Übels ist die unaufhörliche Flut von redundanten und nichtssagenden Botschaften …”
NERVE THEORY (Bernhard Loibner und Tom Sherman) Bereits seit 1993 setzen sich Bernhard Loibner und Tom Sherman in ihren Musik- und Stimmkunstwerken mit der psychischen Situation ver-rückter, unter Entfremdungserlebnissen leidender Personen auseinander. Dieses Interesse für die Opfer des Informationszeitalters wollen sie jedoch nicht als zynische Verherrlichung von Ver-rücktheit und Fehlverhalten (d. h. als automatische Entlassung aus der Verantwortung) verstanden wissen. Es gründet vielmehr auf der Überzeugung, daß intensives Einfühlen in die modernen Spielarten des Ver-rücktseins das Bewußtsein für dieses gesellschaftliche Problem fördern und Gefühle von Depression und Lähmung sowie das chronische Desinteresse an Informationen überwinden kann. Gleichzeitig vermindert sich damit auch das Bedürfnis nach Reizüberflutung, um überhaupt etwas empfinden zu können. Mit anderen Worten, wir hoffen, etwas zum besseren Erkennen der weitverbreiteten Informationsaufnahmestörungen beitragen zu können.
Nach den Opfern des InfoWar brauchen wir nicht lange zu suchen. Zwar hat der militärische Einsatz von C2W (command and control warfare), IBW (intelligence-based warfare) und EW (electronic warfare) etwas Exotisches an sich, aber nur die wenigsten von uns sind mit diesen modernen Kriegsformen tatsächlich konfrontiert. Etwas betrifft jedoch uns alle: Unser modernes Informationsumfeld ist zum Schlachtfeld des Psychokrieges (PsyWar und PSYOPS/Psycho-Operationen) geworden, und dem entgeht niemand. Psychologische Kriegsführung verwendet Informationen, um die Wahrnehmungen, Ziele und Einstellungen der gesamten Gesellschaft zu beeinflussen (von Armeeangehörigen bis zu Zivilisten aller Altersgruppen und sozialen Schichten).
Militärische Institutionen und Regierungen beteiligen sich ebenso am PsyWar wie die Unterhaltungsindustrie, der Bildungssektor und sogar die Kunst. Jeden Monat werden von diesen unterschiedlichen Informationsquellen hunderttausende Botschaften manipulativen Inhalts in Umlauf gesetzt. Botschaften, deren einziger Zweck es ist, die Zielbevölkerung in den jeweils gewünschten Bewußtseinszustand zu versetzen. Diese Botschaften scheinen, obwohl aus unterschiedlichsten Quellen, bestens koordiniert zu sein und ergänzen und unterstützen einander. (Militärs und Regierungen ebenso wie Unterhaltungsindustrie, Bildungsinstitutionen und sogar einige Künstler scheinen ihre Angriffsstrategien aufeinander abgestimmt zu haben.) Die Sorge dieser Institutionen um das allgemeine psychische Wohlergehen ihrer menschlichen Zielscheiben erschöpft sich allem Anschein nach in strategischen Kontroll- und Manipulationsabsichten.
Eine der ersten Entdeckungen von Nerve Theory ist, daß Teile der Zielbevölkerung unter Beschuß zur Polarisierung neigen und ihre Probleme und Handlungsmöglichkeiten aus jeweils völlig konträren Perspektiven wahrnehmen. Diese Polarisierung scheint uns für eine bipolare Störung in einer Gesellschaft symptomatisch zu sein: In jeder entwickelten Informationsgesellschaft scheiden sich die kritischen Intellektuellen in zwei Gruppen mit gänzlich gegensätzlichen Standpunkten. Diese bilden zwei sich gegenseitig abstoßende Kräfte und drücken diametral entgegengesetzte Naturelle oder Ansichten aus.EINE BOTSCHAFT VON TOM SHERMan
Man kann das Informationsumfeld in modernen, entwickelten Informationsgesellschaften auf zweierlei Art und Weise sehen: 1) Noch nie zuvor hatte der einzelne Zugang zu so vielen Daten und Informationen. Heute bestimmt nicht mehr die Zugehörigkeit zu Institutionen, Regierungen oder Unternehmen den Zugriff auf Informationen. 2) Institutionen, Regierungen und Unternehmen kontrollieren den Daten- und Informationsfluß stärker als je zuvor in der Geschichte. Der Informationszugriff des einzelnen beschränkt sich auf Botschaften manipulierenden Inhalts und auf Daten, die diese aggressiven Manipulationen unterstützen (z. B. Unterrichtsmaterial, verlockende Investitionsangebote, Unterhaltung, politische Propaganda, Lifestyle-Informationen, Anleitungen für gesundes Leben etc. etc.).
Die oben beschriebenen, konträren Standpunkte können als utopische bzw. dystopische Perspektiven bezeichnet werden, die jeweils optimistische oder pessimistische Erwartungen, libertäre Einstellungen oder sozialen Realismus widerspiegeln. Vertreter beider Gruppen nehmen für sich in Anspruch, DIE kritischen Denker schlechthin zu sein. Die Jahrtausendwendehysterie verstärkt den Gegensatz zwischen den beiden Perspektiven zusätzlich. Je nach Standpunkt steuern wir entweder auf eine Epoche grenzenloser Freiheit, individueller Selbstbestimmung und demokratischer und sozialer Entwicklungen zu, oder es heißt Game Over für alle, die sich nirgendwo eingeklinkt haben, und für gemeinnützige Organisationen, die positive, umfassende, demokratische und soziale Ziele verfolgen.
Diese Polarisierung betrifft viele Menschen (auch wenn kritische Denker in jeder Gesellschaft nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ausmachen). Einige können die Zukunft kaum erwarten, scheint sie ihnen doch voller Hoffnungen und Versprechungen. Die anderen befürchten eine endlose Zeit der Finsternis, wissen sie doch, daß wir fast sicher dem Untergang geweiht sind. Im allgemeinen wird diese Polarisierung mit ideologischen oder nationalen Argumenten erklärt, obwohl genetische und biochemische Begründungen nicht außer acht gelassen werden dürfen.
(Tom Sherman, 12/6/98) Nerve Theory setzt sich mit dem wichtigsten Ort der modernen psychologischen Kriegführung auseinander: dem Geist der Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß an ein einheitliches globales Daten- und Informationssystem angeschlossen sind. Auf gesellschaftlicher Ebene ist offensichtlich, daß ein kleiner Prozentsatz an kritischen Denkern zwei radikale Pole mit positiven bzw. negativen Zukunftserwartungen bildet und sich auch entsprechend verhält. Mit einer Analogie aus der Elektrostatik könnte man diese kritischen Intellektuellen als positiv oder negativ geladen bezeichnen. Aber positive und negative Pole ziehen einander an – natürlich fliegen dann die Funken, das ist ein unvermeidbarer Bestandteil solcher Auseinandersetzungen. Gleichzeitig scheint die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in entwickelten Informationsgesellschaften mit einer weniger extremen bipolaren Ladung auszukommen. Diese Menschen sind allem Anschein nach im Umgang mit ihrer persönlichen Daten- und Informationsflut stabiler und Auseinandersetzungen weniger zugeneigt. Dennoch schwingen – oder schwanken – auch sie zwischen zwei inneren Polen hin und her und wirken deshalb meist verwirrt, wenn nicht vollkommen gelähmt: Häufig wissen sie nicht, was sie denken.
Das Hauptproblem bei einer bipolaren Störung besteht in der Schwierigkeit, sich Denkstörungen bewußtzumachen und chaotische Gedanken zu ordnen. Die Menschen haben Probleme, zusammenhängende Gedanken (d. h. ihre eigene Meinung) zu erkennen, zu abstrahieren und in Worte zu fassen. Das unaufhörliche Bombardement durch die koordinierten Kräfte der Militärs und Regierungen, Unterhaltungsindustrie, Bildungsinstitutionen und (zu unserer großen Enttäuschung) einiger Künstler mit redundanten, nichtssagenden Botschaften führt in vielen Fällen zu Denkstörungen. Das spiegelt sich auch im Verhalten wider. Das bedeutet nicht, daß diese Menschen keine eigenen Gedanken oder Meinungen mehr haben. Denkstörungen – in Gesellschaften, die sich durch bipolare Störung auszeichnen, ein häufig beobachtbares Phänomen – sind genaugenommen Störungen der Form des Gedankens, bei denen sich die Form des Gedankens von seinem Inhalt unterscheidet.
Die grellen und aufdringlichen auf uns einprasselnden Botschaften sind im Grunde genommen leer und inhaltslos. Denn die Verfechter der psychologischen Kriegsführung übersehen, daß Daten primär erst im Gehirn der Menschen in Informationen umgewandelt werden. Botschaften, die scheinbar Informationen sind, oder (noch schlimmer) Botschaften, die sich selbst als ”Informationen” ausgeben, sind nichts weiter als strukturierte Datenpakete. Ob diese Datenpakete für uns wichtig und/oder nützlich sind, entscheidet sich erst beim Empfang der Daten während des Wahrnehmungsprozesses. Wie Gregory Bateson sagte: ”Information ist jeder Unterschied, der einen Unterschied macht.” Nerve Theory betont die Bedeutung des menschlichen Geistes als primären Ort der Informationsproduktion.EINE BOTSCHAFT VON BERNHARD LOIBNER
Ich bin mir nicht sicher, ob InfoWar Information und Krieg bedeutet, Krieg und Information, Informationen über den Krieg, Krieg um Informationen, Krieg für mehr (oder weniger?) Information oder Krieg gegen ,mehr (oder weniger?) Information. Es ist gut möglich, daß der InfoWar an einer imaginären Front stattfindet, wo Hacker und ihre Verbündeten die unvermeidlichen Rollen von Gut und Böse verkörpern, indem sie mit Hilfe ihrer Software gegenseitig in Datenbanken eindringen und Daten kopieren oder löschen. Ich finde es jedenfalls weitaus interessanter zu beobachten, in welcher Form der Durchschnittsbürger vom täglichen InfoWar betroffen ist (was immer darunter zu verstehen ist).
Wie NERVE THEORY zeigt, sind die Opfer der psychologischen Kriegsführung jene ver-rückten Menschen, die an Informationsarmut leiden … an der Aufnahme redundanter, leerer Botschaften. Wenn ich von mir ausgehe, so entstehen Gefühle der Redundanz und Leere, wenn ich z.B. heftiges Verkehrsgetriebe mehrkanalig verfolge. Ich zwinge mich, dran zu bleiben. Ich habe schlicht und einfach Angst, etwas ”Wichtiges” zu versäumen.
Ich tauche ein und genieße den Wirbel, das Bombardement meiner Sinne, die ständige Stimulierung meiner Wahrnehmung. Aber von Zeit zu Zeit bin ich unfähig, alle empfangenen Signale zu verarbeiten – ich ersticke in einer Flut von Informationen. Manchmal herrscht dann in meinem Gehirn vollkommene Leere. Gleichzeitig verliere ich das Empfinden, ein einzigartiges, zur Selbststeuerung fähiges Individuum zu sein. Ich fühle mich dann als unbedeutender Körper in einer gesichtslosen Masse, während ich die bizarren Körperhaltungen der Menschen studiere, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzen. Es kann eine Weile dauern, bis die Trägheit überwunden ist, aber dann tritt das Ver-rücktsein, das Abgleiten ins Nichts und der damit verbundene mentale Stupor ein.
Ähnliches passiert auch mit meiner akustischen Wahrnehmung. Ich liebe es, in ein Meer von weißem Rauschen einzutauchen, so daß ein Sturm von Tönen, von monotonen, maschinenartigen Klangmustern in voller Lautstärke über mich hinwegbraust. Es ist wie der Anblick eines glänzenden weißen Feldes (eines Ganzfeldes), wie ein Gemälde von Fontana, eine weiße Leinwand mit einem klaffenden Einschnitt. Diese Form von visueller Vorstellung hat einen stark meditativen Aspekt und ähnelt daher dem akustischen Phänomen der Stille – wie auch immer wir Stille definieren. Für mich als Stadtbewohner bedeutet Stille, dem gedämpften, unablässigen Summen der Stadt zu lauschen.
In all dem zeigen sich mehr oder weniger starke Anzeichen von Katatonie. Befehlsautomatie (das zwanghafte Befolgen von Befehlen) gilt als eines der Hauptsymptome der Katatonie und ist ein weitverbreitetes Verhaltensmuster in unserer sogenannten Informationsgesellschaft. Zweifelsohne ist sie das grundlegende Prinzip unserer Maschinen. Darum möchte ich mit einem leicht abgewandelten Satz von Tom Waits schließen. Waits schreibt: ”Nicht ich bin betrunken, sondern mein Klavier.” Ich sage: ”Nicht ich bin schizophren, sondern mein Laptop” …
(Bernhard Loibner, 14/6/98) Nerve Theory hat es sich zur (zeitweise durchaus unbequemen) Aufgabe gemacht, die negativen Auswirkungen der psychologischen Kriegsführung abzuschätzen und zu beschreiben. Individuen mit schweren Symptomen von Entfremdung und Ver-rücktheit sind sich ihres Zustandes oftmals nicht bewußt. Ihre Wahrnehmungsprozesse gleichen einem heillosen Durcheinander, ihr Denken ist völlig systemlos und wird von Befehlsautomatie beherrscht. Die Opfer des PsyWar scheinen außerstande zu sein, ihrer Meinung in zusammenhängenden Gedanken Ausdruck zu verleihen.
Bei einer solchen Ausgangslage fällt es schwer, den geeigneten Ansatzpunkt zu finden. Wir beginnen also einfach mit dem Aufdecken gemeinsamer Traumata und setzen bei den Strategien an, die die Kontrolle über das wichtigste Schlachtfeld des modernen PsyWar aufrechterhalten: über den Geist der Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß an ein einheitliches globales Daten- und Informationssystem angeschlossen sind. PsyWar kennt keine sicheren Distanzen, keinen einzelnen Feind. Schmerz und Unbehagen spüren wir in vielen Fällen erst, wenn es zu spät ist. Meistens aber bemerken wir die Verwundung nicht einmal.
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