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Ars Electronica 1998
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Diabolische Unsichtbarkeit
Oder: Die Wahrheit ligt dort draußen

'Timothy Druckrey Timothy Druckrey

ODER: DIE WAHRHEIT LIEGT DORT DRAUßEN

Wenn die autoritäre Technologie einmal mit Hilfe neuer Formen der Massenkontrolle, ihrem Füllhorn an Beruhigungsmitteln und Aphrodisiaka, ihre Macht konsolidiert, kann die Demokratie dann in irgendeiner Form überleben?

Lewis Mumford

Der panoramatische Blick gehört nicht mehr zum selben Raum wie die wahrgenommenen Gegenstände. Er sieht die Gegenstände, Landschaften usw. durch den Apparat, mit dem er durch die Welt zieht.

Wolfgang Schivelbusch

Bei der Bekämpfung von Terrorismus, Cyberattacken und biologischen Waffen müssen wir alle äußerst aggressiv vorgehen.

Bill Clinton, 22. 5. 1998
I.

Mit der Leistung einer Taschenlampenglühbirne übertragene Daten liefern “Bilder” der Marsoberfläche von der Raumsonde Sojourner; ein Strom von Videodaten überträgt in “Echtzeit” einen Vortrag Harun Farockis von der Dokumenta X in Kassel; ein Kreditbüro bietet still und heimlich Online-Zugriff auf Kreditgeschichten (und wird still und heimlich geschlossen); die Wohlfahrtsbehörde der USA schließt ihre Web-Ressourcen, weil ungebührliche Nutzungen überhand nehmen; Mitarbeiter der US-Steuerbehörde werden zensuriert (und entlassen), weil sie zu Unrecht Steuererklärungen eingesehen haben; Kreditkartentransaktionen werden aufgezeichnet und als Konsumenten-“Profile” verkauft; zahlreiche Websites sammeln beim Einloggen “Cookies”, die Providern und Werbeleuten wertvolle Daten liefern; zwei Marinesoldaten kommen vors Militärgericht, weil sie sich weigern, der DNS-Bank des Verteidigungsministeriums ihre DNS zur Verfügung zu stellen; ein geklontes Schaf posiert auf einem schottischen Bauernhof als Signifikant für Bio-Engineering; ein geschlagener Kasparov verbirgt seinen Kopf in den Händen, nachdem die “Menschheit” von Computerprogrammierern besiegt worden ist; man experimentiert mit Retina-Scannern zur Benutzeridentifizierung bei Geldausgabeautomaten; Aufklärungssatelliten liefern standardmäßig Bilder mit einer Auflösung von weniger als einem halben Meter; nahezu allgegenwärtige Überwachungskameras zeichnen tägliche Aktivitäten zum Fürchten ungestraft auf; in Los Angeles strahlt ein Fernsehsender einen Live-Selbstmord aus usw.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zwar gibt es eine oft ausufernde Diskussion über die Erkenntnistheorie (oder das Fehlen einer solchen) von simulierten, virtuellen oder gerenderten Welten, aber es ist eher die Legitimation, Präsenz und beherrschende Rolle der Information, die gefräßig eine zunehmend destabilisierte Öffentlichkeit aushöhlt. Als Kreuzung zwischen Sichtbarkeit und Verfügbarkeit markiert der Daten-“Strom” ein dynamisches System, in dem die Konturen des Selbst, der Wirtschaft und schließlich auch der Macht “durchsichtig”, praktisch unsichtbar werden und Repräsentation (samt deren langdauernder Beziehung zu Autorität und Subjektivität) erneut zu einem zentralen Thema wird.

In einer Ansprache an die Abschlußklasse der Marineakademie am 22. Mai 1998 ermahnte Präsident Clinton die Absolventen:
Halten Sie stets Ihre Liebsten in Ehren und seien Sie stets dankbar für die Möglichkeit, Militärdienst zu tun, damit Sie für sich, Ihre Liebsten und Ihre amerikanischen Mitbürger jene kostbaren Dinge verteidigen können, die das Leben lebenswert und die Freiheit schützenswert machen.
Dann warb er für das National Infrastructure Protection Center und entwarf das Bild eines 21. Jahrhunderts, in dem “unsere Feinde die Schlachtfelder ausgedehnt” haben:
Vom physischen Raum in den Cyberspace, von den gewaltigen Gewässern der Erde zu den verschlungenen Funktionen des menschlichen Körpers. Statt an unseren Küsten zu landen und Bomber loszuschicken, könnten diese Gegner “Cyber”-Attacken gegen unsere wesentlichen Militärsysteme und unsere wirtschaftliche Infrastruktur unternehmen. Oder sie könnten kompakte und relativ billige Massenvernichtungswaffen einsetzen – nicht nur nukleare, sondern auch chemische und biologische, um Krankheit als Kampfmittel zu benutzen. Manchmal agieren die Terroristen und Verbrecher alleine. Zunehmend aber sind sie miteinander verbunden, und manchmal werden sie von feindlichen Staaten unterstützt.

Und all das, während er (erfolglos) Pakistan anflehte, auf die in einem unsäglichen Reflex geplanten Atomwaffentests zu verzichten, die unweigerlich einen Rüstungswettlauf mit Indien (und vielleicht auch China) vom Zaum brechen mußten; während die NATO “militärische Übungen” ansetzte, um den grauenhaften jugoslawischen Übergriffen auf die Albaner im Kosovo Einhalt zu gebieten; während die Verhandlungen mit dem Irak über “Massenvernichtungswaffen” weiter auf der Stelle traten; während die korrupte Wirtschaft Indonesiens in Trümmern lag und die Wirtschaft der Pazifikanrainerstaaten im Zeichen der schwelenden Krise stand; während Alan Greenspan, der Vorsitzende der Federal Reserve Bank, vor dem Kongreß erklärte, die Wirtschaft sei “so eindrucksvoll wie noch nie in dem halben Jahrhundert, seitdem ich die amerikanische Wirtschaft Tag für Tag verfolge”; während die National Rifle Association – in einer post-reaganesken Geste von pathetischer Tiefe – Charlton Heston zu ihrem Präsidenten wählte, um nach einer Flut erstaunlicher paramilitärischer Schießorgien von Schülern die Diskussion über das sogenannte “Recht auf das Tragen von Waffen” wiederzubeleben; während ein Kommunikationssatellit auf verdächtige Weise verrückt spielte und Millionen tagelang von Pager-Diensten und Rundfunkstationen (wie dem National Public Radio) abschnitt; während die X-Akten statt nur im Fernsehen nun endlich auch im Kino geöffnet werden – als Zeichen für das Ausmaß der Verschwörungen und den Markt dafür.
Zwei Monate zuvor (am 24. März 1998) sprach Michael A. Vatis, stellvertretender Assistenzdirektor des FBI und Chef des National Infrastructure Protection Center vor dem gemeinsamen Wirtschaftsausschuß des Kongresses zu Cyberkriminalität, transnationaler Kriminalität und Diebstahl geistigen Eigentums. In seiner Aussage verwies er auf ernste Sicherheitsgefahren:
Aber das Internet und andere Fortschritte in der Informationstechnologie versorgen Kriminelle nicht nur mit neuen Mitteln, um traditionelle Verbrechen wie Diebstahl oder Betrug zu begehen. Sie ermöglichen es Verbrechern und anderen Straftätern auch, neue Formen von Unrecht zu begehen, die einen potentiellen Verlust für das einzelne Opfer weit übersteigen und unsere Volkswirtschaft und sogar unsere nationale Sicherheit gefährden können. […]

Von welchen Formen von Unrecht spreche ich hier? Das alltägliche Funktionieren unserer Wirtschaft hängt von der Versorgung mit gewissen zentralen Leistungen ab. Auch wenn wir früher einmal problemlos ohne elektrischen Strom auskamen – stellen Sie sich heute die Folgen eines einwöchigen Stromausfalls vor – und zwar nicht nur in einer kleinen oder größeren Stadt, sondern an der gesamten Ostküste. Und auch wenn viele ihr Vermögen schon zu Zeiten machten, als es noch kein Telefon gab, stellen Sie sich heute vor, was mit den Fortune-500 los wäre, wenn sie auch nur ein paar Tage lang keine Telefonverbindung hätten. […]

Aber diese Abhängigkeit von den neuen Technologien hat ihren Preis, und dieser Preis ist eine neue Verwundbarkeit durch potentielle Übeltäter. Denn ebenso wie die neuen Technologien den Firmen die Kommunikation und die Kontrolle ihrer Geschäfte erleichtern, erleichtern sie auch Übeltätern, Schaden anzurichten. Die neue Verwundbarkeit resultiert zum Teil aus dem Umstand, daß das Internet und die modernen Telekommunikationssysteme grundsätzlich offen und allgemein zugänglich sind. Das heißt, daß man diese Kommunikationsmedien mit einer gewissen technischen Fertigkeit dazu nutzen kann, in das Computersystem einer Firma oder einer Regierungsstelle einzudringen, ohne jemals deren vier Wände durchbrechen zu müssen. Außerdem bedeutet die durch die neuen Technologien ermöglichte zunehmende Zentralisierung der Kommando- und Kontrollsysteme, daß ein potentieller Übeltäter, wenn er einmal in das System eingedrungen ist, diese Technologien dazu verwenden kann, den Schaden auf ein wesentlich größeres Gebiet auszudehnen, als er es sich mit physischen Waffen wie z. B. Bomben jemals hätte ertäumen können. […]

Software ist nur eine der Waffen bei “Cyber”-Attacken. Dazu zählen unter anderem Computerviren, trojanische Pferde, Computerwürmer, Logikbomben und “Sniffer”-Abhörprogramme, mit deren Hilfe man Paßwörter abfangen kann und Hacker sich unbegrenzten Zugang zu einem Computersystem verschaffen. “Cyber”-Attacken können aber auch mit avancierter elektronischer Hardware durchgeführt werden; dazu gehören Waffen wie hochenergetische Radiofrequenzen (RF), elektromagnetische Impulse, RF-Störsender oder RF-Abhöreinrichtungen. Mit diesen Waffen kann man Eigentum und Daten zerstören, sich in Kommunikationsvorgänge einschalten oder den Datenverkehr beeinflussen, Daten, Kommunikationsprozesse oder Navigationssysteme korrumpieren und den Benutzern von Informations- und Telekommunikationssystemen wesentliche Dienste vorenthalten.
“Seht Euch um”, schreiben John Arquilla und David Ronfeldt im ersten Kapitel von In Athena’s Camp: Preparing for Conflict in the Information Age, es ist “nirgendwo ein ,guter altmodischer Krieg, in Sicht” (Hervorhebung vom Verfasser). (1) Ähnlich der zwar erklärlichen, aber eigentümlichen und fraglichen Unfähigkeit (oder Komplizenschaft) der Intelligence Community, die indischen Atomtests vorherzusagen, spielen Arquilla und Ronfeldt den materiellen Krieg herunter, indem sie erneut eine “Revolution in Military Affairs” (RMA) bekräftigen, die der Golfkrieg von 1990–91 nach sich gezogen habe. Und wirklich stammt die Einleitung zu In Athena’s Camp von den unentwegten historischen Reduktionisten Alvin und Heidi Toffler, deren Metapher von der “Dritten Welle” die progressive “Ideologie” der vernetzten Generation in der Welt des Großkapitals bestimmt. Zwischen dem Greifbaren und dem Ungreifbaren schwankend, zeichnen die beiden ein faszinierendes Szenario, in dem “das Wissen von einer peripheren in eine zentrale Position gerückt ist”. Die interessantesten Positionen, die sie in diesem Essay mit dem Titel The New Intangibles beziehen, betreffen aber ihre Einschätzung der Verbindungen zwischen Militär und Medien:
[…] während die Dritte Welle weiterhin die Wirtschaft, die Gesellschaft und die globalen Machtverhältnisse transformiert, nimmt die Bedeutung der neuen Ungreifbarkeiten für das Militär nur noch zu.

Das gleiche gilt für die Bedeutung der Ungreifbarkeiten, die sich nicht in der Kontrolle von Streitkräften oder der Regierung befinden. Einige der schwersten Geschütze auf dem Gebiet der ungreifbaren Waffen werden von den Medien aufgefahren.
(2)
Zu diesen “neuen Ungreifbarkeiten” gehört “alles von der satellitengestützten taktischen Aufklärung bis zum strategischen Perception Management auf geopolitischer Ebene”. Unmißverständlich in einer Sphäre angesiedelt, die von gigantischer Instabilität und Verwundbarkeit gekennzeichnet ist, erscheinen die Virtualisierung von Konflikten, die Technologisierung des Terrors und die Biologisierung der Waffensysteme nicht mehr als Science-fiction, sondern als materialisierte Terrains, in denen Simulation die Wirklichkeit ersetzt, Codefragmente (wie bereits geschehen) einzelne Statistiken oder internationale Banksysteme infiltrieren und unterwandern und die Genetik sowohl diagnostischen als auch invasiven Zwecken dienen kann.

1995 begann der CIA auf Anweisung der Regierung Bilder aus ihren geheimen, heute freigegebenen Datenbanken von Satellitenaufklärungsflügen aus der Zeit des Kalten Krieges zu veröffentlichen. Admiral William O. Studeman, der damals amtierende Direktor des CIA, stellte bei dieser Gelegenheit auch Überlegungen zu den Zielen des Corona-Projekts und zur Zukunft der Bildgewinnung aus dem Weltraum an:
Wichtig bei der Diskussion über die Rolle und Mission der Nachrichtendienste im nächsten Jahrhundert ist, daß wir begreifen, wie sehr die Bilder, die von diesen frühen Satelliten zur Erde gesandt wurden, während des Kalten Krieges unsere Sicht der Welt veränderten und wie Satellitenbilder auch noch heute unser Weltbild formen.
Speziell verwies er auf die Verwendung von Satellitenbildern im Golfkrieg und hob als Beispiel Husseins Versuch, Öl in den Golf zu lassen, und die Wirksamkeit der Satellitenbilder bei der Eindämmung einer potentiell verheerenden Umweltkatastrophe hervor. Daß Studemans strategische Verwendung der “Rolle und Mission der Nachrichtendienste” so direkt mit dem Bild zu tun hat, ist vor allem angesichts des Umstands, daß die Metapher einer omnipräsenten Quelle der “Nachrichtendienste” nach und nach den Diskurs der Cultural Studies, der Ökonomie, der Soziologie, der Kunst, der Unterhaltung und der Politik zu dominieren beginnt, nicht unerheblich.

In den Telespektakeln dieser letzten Jahre des Jahrtausends sind strategische “Informationsbeschaffung”, Überwachung und Hochtechnologie einige neue Allianzen eingegangen. Ein von John Markoff verfaßter Bericht auf der ersten Seite der New York Times vom 27. Jänner 1997 spricht von MEMS – mikro-elektromechanischen Systemen. Diese Teile könnten einfach in der Umwelt ausgesetzt werden. In dem Artikel werden folgende Spekulationen angestellt:
Was immer die technischen Hindernisse sein mögen, die neue Front der MEMS könnte auch leidvolle gesellschaftliche Probleme mit sich bringen. Eine 1995 von der Advanced Research Projects Agency des Pentagon geförderte Forschungsgruppe in den Vereinigen Staaten unterbreitete zum Beispiel die Idee des “Überwachungsstaubs”. Jedes Staubpartikel sollte aus winzig kleinen Sensoren bestehen, ausgestattet mit Minifallschirm, Mikrofon und Infrarotdetektor. Über einem Schlachtfeld ausgestreut, sollte dieser Staub fünf Stunden und länger in der Luft schweben und genaueste Informationen über die Stellungen des Feindes liefern. Geheimhaltungsexperten äußern die Sorge, daß eine derartige Technologie schon bald im großen Umfang sowohl für zivile als auch militärische Zwecke eingesetzt werden könnte.
Doch während sich die Technophilen eine auf Presseaussendungen und Vermutungen gestützte, gänzlich digitale Zukunft zusammenkleistern, gibt es längst interessantere Probleme als eine von panoptischen elektronischen Staub durchsetzte Info- (oder sollte man sagen Atmo-) Sphäre. William Bogart spricht von einer Umwelt, in der wir “immer stärker bereit sind, uns der Simulation auszuliefern, um die Überwachung an ihre absolute Grenze zu treiben” und in der “eine Rückkehr zum Privaten nicht in Frage kommt”. (3) Und Gary Marx konstatiert eine “osmotische Übertragung von Legitimität”:
[…] Begriffe wie “hochentwickelte Technologie”, “High Tech”, “wissenschaftlicher Wahrheitsmaßstab”, “ultraminiaturisiert”, “Halbleitertechnik” “integrierter Schaltkreis”, “Stimmstreßanalysator”, “elektronische Analyse” beschwören die Aura der Wissenschaft mit ihrem Beigeschmack von Modernität, Macht, Effizienz und Gewißheit. (4)
Aber dieses überwältigende, undurchdringliche System ist weder unsichtbar, noch liegt es hinter einem Schleier von künstlich erzeugten Repräsentationen verborgen.

Zu einem großen Teil ist die gegenwärtige Reflexion über die Folgen der Technologie zweifellos auf die Beziehung zwischen Sichtbarkeit, Verständlichkeit und Spektakel fixiert. Das gilt besonders für das Werk von Virilio und Baudrillard, bei denen sich Repräsentation, Technologie und Politik in den Oberflächen der Simulation verquicken. Es gilt aber auch für das gesamte Spektrum der sich entwickelnden Taktik des “strategischen Perception Management”.

Aber parallel zur Entwicklung von Kino und Virtualität kamen auch weniger sichtbare “Kommando- und Kontroll”-Strategien zum Einsatz. Kybernetik, Genetik, Informatik, Halbleitertechnik, Programmieren und Semiotik, die alle in den entscheidenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, lassen sich eindeutig mit der multinationalen Wirtschaft, der Internationalisierung von Rundfunk und Fernsehen, den sogenannten “Wissenschaften vom Künstlichen” und – nachdrücklicher – mit dem Gleichgewicht des Schreckens während des Kalten Krieges in Beziehung setzen. Die Figuren aus diesem Umfeld – John von Neumann, Norbert Wiener, Vannevar Bush, Claude Shannon, James Watson, Francis Crick, William Shokely u. a. – stehen in ein- und demselben Diskurs mit einer “Informatik”, deren Aufstieg schließlich in McLuhans nebliger Metapher von den “heißen” und “kalten” Medien legitimiert, politisiert und popularisiert werden sollte, in den Werken von Lewis Mumford, Hans Magnus Enzensberger, Armand Mattelart und später in denen von Friedrich Kittler, Régis Debray oder Bernard Stiegler hingegen überzeugend kritisiert wurde.

Das Verhältnis von Implementierung und Unsichtbarkeit unterminiert das übermäßige Interesse an den unmittelbaren Folgen oder Spektakeln der Informa-tion und legt nahe, daß eine Neubetrachtung der Geschichte der Information vonnöten ist, wenn man mit deren Allianz mit der Maschinen- und Computerwelt zu Rande kommen will, die sich zunehmend mit neurologischen, genetischen oder konnektionistischen Diskursen verbindet. Ortet man den Ursprung der komputierten Information im Kalten Krieg, so bringt das die Verbindung zwischen Nachrichtenwesen (d. h. Nachrichtenbeschaffung) und Informationsverarbeitung in einen deutlichen Zusammenhang mit der fanatischen Sammlung, elektronischen Speicherung und statistischen Auswertung von Daten.

Genau in dieser Phase wurde das Zählen durch das Rechnen, die Auflistung durch die Vorhersage, ein mechanisches Modell durch ein kybernetisches ersetzt. Gemeinsam mit der parallelen Kommerzialisierung der Nachrichtenmedien, führte diese Transformation der Bedingungen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses unweigerlich zu einem neuen Verständnis von individueller Handlungsfähigkeit, Rezeption und politischem Handeln, deren Grenzen durch das “Tausch”-System des Rundfunks bestimmt waren. Ob es nun Rundfunkpolitik oder das Medium selbst war, die Predigerkanzel der Nachkriegsideologie verbreitete sich wie eine Art kultureller Fallout, eingehüllt in neblige Metaphern vom globalen Dorf. Während Marketing und Statistik, die aus der Computerisierung hervorgingen, das Subjekt neu konfigurierten, vermischte sich Politik mit Unterhaltung. Die (wie Martin Jay bemerkt) tief in “skopischen Regimes” verankerten Strategien der Moderne wurden langsam durch Technologien transformiert, die von den neuen Metaphern der Kybernetik und der Television bestimmt waren.

Selbst die McLuhanisierung der Medien erscheint heute als ein Versuch, sowohl die kollabierenden Imperative der Moderne zu retten als auch eine Bandage bereitzustellen, um die utopische mediale Zerstreuung mit den allgemeinen unternehmerischen und politischen Interessen zu verbinden, unter denen sich diese Technologien entwickelten. In diesem Umfeld wurden die reflexiven Repräsentationssysteme der Moderne langsam von Formen der Überwachung abgelöst, in denen Information genauso wie die Observation zur Verhaltensregulierung diente. Das Wechselverhältnis von Information und Repräsentation wurde zu einem unentwirrbaren Bestandteil des Diskurses der Werbung, der Politik, der Ästhetik und der Kulturgeschichte. “Das Projekt der Moderne”, sagt Friedrich Kittler, “ist im wesentlichen ein rüstungstechnisches und nachrichtentechnisches Projekt, und wenn es sich in so hübsche Formeln wie Demokratie und kommunikativer Konsens kleidet, dann umso besser für die Leute, die das glauben.” (5)

Doch der “Solid State”, in dem die elektronischen Fachgebiete Biologie, Neuro-Kognition, künstliches Leben und/oder künstliche Intelligenz, Cyberdemokratie, nicht-ortsgebundene Macht, elektronische Ökonomie, berechnete Authentizität oder allseitige Überwachung regieren, erhält sich nicht durch die Wiedererfindung der simplen Dialektik oder deren Analyse im Rahmen traditioneller Diskurse der Soziologie, Psychoanalyse oder kritischen Theorie. Vielmehr haben die scheinbar provisorischen und rasch wechselnden Quellen der Autorität, die sich hinter Metaphern von offenen Systemen, technischen Protokollen, Mystifikationen von Cyberdomokratie, lächerlichen und erschreckend-komischen neo-jungianischen Ideen von “kollektiver Intelligenz” sowie einem auffälligen Mangel an ernsthafter Theoriebildung verbergen, eine Art nomadisches Management entwickelt, das sich paradoxerweise gerade durch seinen Mangel an Zentralität und sein unnachgiebiges Festhalten am Prinzip der technischen Vernunft legitimiert.

Wenn diese Transformationen im späten 20. Jahrhundert eine Umwälzung repräsentieren, so ist diese weniger durch den Versuch verursacht, die Vorstellung von systematisch geschlossenen Netzwerken aufzulösen, sondern eher durch den, diskursiv konstituierten Netzwerken gegenüberzutreten: dem Biologienetzwerk, dem Genetiknetzwerk, dem Identitätsnetzwerk, dem Ökonomienetzwerk, dem Technologienetzwerk, dem Kommunikationsnetzwerk, dem Bildernetzwerk. Es ist daher nicht überraschend, daß eine Metapher des Konnektionismus aufgekommen ist, um das System von Knoten im zirkulären System einer telematischen Erkenntnistheorie zu beschreiben. Zum einen führt die “Verfügbarkeit” von Information zur Annahme einer verbesserten Mitbestimmung, zum anderen wird sie, wie Zizek sagt, “durch eine Derealisierung bezahlt”, (6) in der die absolute Gegenwart gleich der Abwesenheit des Begehrens ist. In dieser neuen Ordnung der Repräsentation sind Metapher und Performativität eng miteinander verbunden. Es ist, wie Bruno Latour unlängst in einem Interview bemerkte: “Bilder belegen Transformation, nicht Information”. (7) Wiewohl man den Übergang von der Immersion zur Zerstreuung interessensbedingt oft einfach zu überspringen scheint, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Wirksamkeit des Widerstands, das dynamische Interesse an der Relativität von Information und Subjektivität, die Dekonstruktion der Autorität ihr Potential auch dort noch nicht erschöpft haben, wo sie in das Ökosystem des Elektronischen integriert werden.

II.

Die öffentliche Einführung des Computers als eine Kreuzung zwischen paranoiden Überlegenheitsphantasien und der Illusion technischer Unfehlbarkeit wird erst dann ganz verstanden, wenn man sich mit der langen und überzeugenden Nutzung elektronischer Medien als Formen der Intervention, Akte der Bewältigung, Bedrohungen der selbstgefälligen Subjektivität des Konsums auseinandersetzt. Die lange Geschichte des Widerstreits zwischen Autonomie und Assimilation sprengt den Rahmen dieses Essays. Es sei lediglich angemerkt, daß die Verbindung von “Avantgardismus”-Begriffen mit Militarismus wie mit künstlerischem Fortschritt in einer monolithischen technologischen Kultur nicht so leicht zu rechtfertigen ist. Denn, so erinnert uns Armand Mattelart:
Jeder schöpferische Akt, der den Herrschaftsapparat in Frage stellt, riskiert, auch weiterhin den Abdruck des Systems in sich zu tragen, in das der Schöpfende eingeschrieben ist. (8)
Jahrzehntelange engagierte Arbeit und Reflexion auf dem Gebiet der Medientheorie, der Kunst und der Kultur zeigen deutlich, daß Opposition weder zerstört noch verbessert. Die an den porösen Grenzen von Philosophie, Geschichte, Theorie und Praxis auftauchenden Stimmen in diesem Bereich sind vielsagend vielfältig:

Herbert Marcuse:
Die Kunst als Mittel der Opposition hängt von der verfremdenden Kraft der ästhetischen Schöpfung ab: von ihrem Vermögen, der Normalität gegenüber fremd, gegensätzlich, jenseitig zu bleiben und, als Reservoir unterdrückter menschlicher Bedürfnisse, zugleich auch realer als die Normalrealität. (9)
Siegfried Zielinski:
Um es praxisbezogener auszudrücken: Ich plädiere für das Projekt eines vielseitigen Umgangs avancierter Medienapparaturen. Ich zähle auf eine kreative Koexistenz: nicht im Sinne einer grandiosen Beliebigkeit, sondern eher als überaus notwendige Arbeitsteilung, weil wir – als Cinephile, Videophile, Computerphile – unterschiedliche Wünsche und Ansprüche an das obskure Objekt unserer Begierde haben. (10) … in der Erfahrung gibt es andere Attraktionen und Erlebnisse, die sich der Reproduktion entziehen oder gar nicht reproduzierbar sind. (11)
Peter Weibel:
In dieser Zone des elektronischen Feudalismus käme der Medienkunst die Aufgabe zu, sich von der sklavischen Haltung gegenüber der Industrie zu befreien und die Medien in diesem Medienzeitalter in ein Werkzeug der Bürger zu verwandeln, das sich von einer mechanischen Kunst emanzipiert und zu einer freien Kunst entwickelt. Worauf es beim technisch-industriellen Komplex ankommt, ist eine neue Dynamik zwischen Kunst, dem Kulturellen und der Technologie, zwischen Gesellschaft und Technologie, sowie eine Kartogaphierung dieser Dynamik im Kunstwerk selbst. In diesem Zeitalter globaler Verschiebungen besteht die Rolle der Massenmedien darin, ein Netzwerk zur Stärkung historischer Herrschaftsformen zu schaffen, indem sie diese umstrukturieren. Wo die großen Firmen selbst eine treibende Kraft globaler Verschiebungen werden, kommt der Kunst und vor allem der Medienkunst – so sie ihre ursprüngliche Funktion überhaupt zurückgewinnen kann – die Aufgabe zu, diese Verschiebung und ihre Ursachen innerhalb des globalen Netzwerks zu analysieren und so die Voraussetzungen für den Widerstand gegen die neuen Feudalismen und die neuen vertikalen Strukturen der Medienkratie zu schaffen. Die Amnesie der Medien besteht in ihrer Alltagsroutine namens Fernsehen. Dagegen wäre die Medienkunst eine Gedächtniskunst. Bei der Suche nach freien elektronischen Bürgern anstelle von versklavten elektronischen Konsumenten können wir mehr von Künstlern an der Peripherie als von den Mainstream-Medienkünstlern in den großen Städten erwarten. Metis, die antike Göttin der Vernunft und List, Odysseus und Daedalus, die den großen griechischen Allegorien des reifen Bürgers ihr Dasein, ihr Überleben und ihre Unsterblichkeit verdanken, eignen sich auch gut als Galionsfiguren für die Medien. Gegen die Macht der Medien und ihre fanatische Exteriorität, ist das Navigieren auf den Wegen der List das einzige Feld in einer Welt, die ihren Ort nicht mehr kennt. (12)
Régis Debray:
Der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Technologie und einer Kultur ist weder automatisch noch einseitig. (13)
Ken Feingold:
[…] es ist nach wie vor wichtig zu begreifen, daß Kunst in der Kultur eine andere Rolle spielt als die Dinge, wo es darum geht, ein konkretes Ziel zu verfolgen. Sie ist spekulativ, und falls heute überhaupt noch irgendwelche Merkmale der Avantgarde relevant sind, so ist es ihre Fähigkeit zu experimentieren, etwas ohne jeglichen Grund zu tun, angetrieben von einem Interesse für das Unbekannte, noch nicht Verstandene. (14)
Alexei Shulgin:
Mit dem Entstehen des Netzes taucht etwas Neues auf, das sich schüchtern “net.art” nennt und sich nun zu definieren und seine Differenz zu anderen Formen schöpferischer Tätigkeit zu erkunden versucht. Die Probleme der gegenwärtigen Phase der “net.art”, wie ich sie verstehe, wurzeln tief in einer sozialen Bestimmung der Begriffe “Kunst” und “Künstler”. Werden wir unser Ego überwinden und veralterte Vorstellungen von Repräsentation und Manipulation aufgeben können? Werden wir uns kopfüber in ein Reich der reinen Kommunikation stürzen? Werden wir uns weiter “Künstler” nennen? (15)
Marleen Stikker:
Was werden wir mit der unbeschränkten Bandbreite anfangen? Ist die fetischistische Phantasie der Volle-Ladung-volle-Pulle-Kommunikation nichts als ein weiterer Bildschirm, um darauf die Utopie vom universalen Verständnis zwischen den Menschen zu projizieren? Wenn jeder ein Sender ist, wer schweigt dann und hört zu? (16)
Julia Scher:
Bitte sehen Sie unsere gebrauchten Festplatten durch, Tisch Nummer eins. Ich biete ausgezeichneten und umgebenden Raum. Ich bin voll und warte auf Sie. Als post-eßbarer Umweltkomplex bin ich roh und für Sie bereit. Amerikaner sind nicht auf der Hut. Sie sind nicht auf Draht. Wichtig ist nicht, wer Sie sind, sondern wen Sie spielen. Kommen Sie jetzt auf mein Gebiet. Bitte lockern Sie meine Zugriffskontrolle […] (17)


(1)
Arquilla, John; Ronfeldt, David (Hg.); RAND: In Athena's Camp: Preparing for Conflict in the Information Age. Santa Monica, 1997, 1zurück

(2)
Toffler, Alvin; Toffler, Heide: “The New Intangibles”. In: ibid., xvizurück

(3)
Bogart, William: The Simulation of Surveillance. Cambridge University Press, New York 1996, 24; 138zurück

(4)
Marx, Gary: “Electric Eye in the Sky: Some Reflections on the New Surveillance and Popular Culture”. In: Lynch, David; Zureik, Elia (Hg.): Computers, Surveillance, & Privacy, University of Minnesota Press, Minneapolis 1996, 218–220zurück

(5)
Kittler, Friedrich A.: “Gespräch zwischen Peter Weibel und Friedrich A. Kittler”. In: Weibel, Peter: Zur Rechtfertigung der hypothetischen Natur der Kunst und der Nicht-Identität in der Objektwelt / On Justifying the Hypothetical Nature of Art and the Non-Identicallity within the Object World. Galerie Tanja Grunert, Köln 1992, 155zurück

(6)
Slavoj Zizek bei Ars Electronica 95zurück

(7)
Latour, Bruno, Interview with Geert Lovink. Published on the nettime mailing list (9/3/97)zurück

(8)
Mattelart, Armand: Mass Media, Ideologies, and the Revolutionary Movement. Humanities Press, New Jersey 1980, 15zurück

(9)
Marcuse, Herbert: Technology, War and Fascism. Routledge, New York 1998, 202zurück

(10)
Zielinski, Siegfried: “Media Archaeology”. In CTheory. http://eserver.org/ctheory/zurück

(11)
Derselbe: “Thinking the Border and the Boundary”. In: Druckrey, Timothy (Hg.): Electronic Culture: Technology and Visual Representation, Aperture, New York 1996, 284zurück

(12)
Weibel, Peter: “Media and METIS: On the Functional Transformation of Electronic Media Art in the Nineties”. Media and Ethics Conference Helsinki, September 1996zurück

(13)
Debray, Regis: Media Manifestos. Verso, New York 1996, 15zurück

(14)
Feingold, Ken: “The Interactive Art Gambit” (“Do not run! We are your friends!”) Technology in the 90s presentation, The Museum of Modern Art, NY. April 7, 1997zurück

(15)
Shulgin, Alexei: “Art, Power, and Communication”, in: Parachute 85, 1997. 24zurück

(16)
Stikker, Marleen: “We Want Bandwidth !” @ Hybrid Workspace Documenta X, Kassel, Germany, 8. bis 17 Juli 1997zurück

(17)
Scher, Julia: Text aus der Installation American Fibroidszurück