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Nationale Sicherheit und infrastrukturelle Kriegsführung


'Michael Wilson Michael Wilson

Ich wurde gebeten, den komplexen, dynamischen Bereich der nationalen Sicherheit zu erörtern. Für mich ist das eine seltsame Themenwahl, kommt aber vielleicht nicht von ungefähr – zumindest bin ich in der Lage, gewisse Einsichten aus dem Blickwinkel der professionellen Opposition zu vermitteln, da der Hauptteil meiner beruflichen Erfahrungen von Operationen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten gegen verschiedenartigste Souveräne herrührt. Ich werde in diesem mir vorgegebenen begrenzten Rahmen versuchen, einen Überblick über mögliche Gegner sowie einige kognitive Hilfsmittel zum Verständnis von nationaler Sicherheit und Konflikten zu geben.

Um das Ganze ein wenig einzuschränken, möchte ich meinen Betrachtungen die Spieltheorie zugrunde legen: Spiel und Metaspiel, Spieler, Strategie, Taktik (Handlungen) und Resultat (Lohn) unterliegen dem Willen, der Absicht und der Zielsetzung der Teilnehmer. Das ist der springende Punkt, denn wenn man ein Spiel nicht spielen möchte oder nicht den Willen dazu aufbringt (und die nationale Sicherheit ähnelt mehr einem Spiel – oder einem Witz –, als den meisten lieb ist), so hat man die denkbar schlechtesten Positionen und Ergebnisse zu erwarten (wir haben ein Wort für Pazifisten: “Verlierer”). Ich habe weder die Zeit noch die Absicht, mich in Details der konventionellen Spieltheorie wie dem Gefangenendilemma oder nuklearen Strategiespielen zu ergehen, doch selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung wird sofort klar, daß es sinnlos ist, das Spiel zu ignorieren oder zu vermeiden.

Zwar sind Spiele jedermann vom Mitspielen oder Zuschauen vertraut. Aber wenn es um die nationale Sicherheit geht, vor allem im Fall eines Konflikts, sind wir mit unserem Verständnis vom Spiel am Ende:

– Konstruierte Spiele sind allzu strukturiert und polarisiert (gewinnen, verlieren).

– Die Spielregeln werden für gewöhnlich nicht von den Spielern aufgestellt, sondern von einer “höheren Macht”; Regeln zielen auf “gleiche Bedingungen”, die “sportliche Herausforderung” und das “Gleichgewicht” im Spiel ab.

– Künstliche Beschränkungen werden auferlegt: Zeitlimits, Feldgrenzen (Schach, Feldspiele), Reihenfolge (Hufeisenwerfen, Nuklearwaffen), Spielrunden, Karten etc.

– Ein “Gewinn” ist zwar konkret definiert, ist aber von Spiel zu Spiel unterschiedlich: nach Punkten, Erreichen einer Position, Erringen einer Spielfigur, Klassierung oder eine andere Form der Reihung, “richtige” Antworten und Buchlösungen.

Man muß schon sehr naiv sein, die reale Welt auch nach solchen Gesichtspunkten betrachten zu wollen: Es gibt in ihr keine Beschränkungen, Regeln oder Zwänge, die von uns aufgestellt wurden; nichts ist “fair”, weder Märkte noch Wettkämpfe; es gibt keine “gleichwertigen” Spieler und keine “Symmetrie”, schon gar nicht in einem Konflikt. Es gibt kein “Gewinnen”, und auch “Verlieren” ist nichts Eindeutiges (Bewegungen leben von Märtyrern).

Ich selbst habe mich im Zuge meiner Arbeit sehr intensiv damit auseinandergesetzt, ein kohärentes Modell für das Verständnis von Konflikt und nationaler Sicherheit zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Bei jedem Konflikt – egal ob in einer primitiven Umwelt oder in der modernsten Metropole – mußte ich meine Effizienz wahren, die passenden Strategien und Taktiken wählen und sie erfolgreich umsetzen. Einige meines Berufsstandes waren dazu nicht imstande: Sie spielten das falsche Spiel, verwendeten ungenaue Gedankenmodelle mit einer schlechter Kontext- und Parameterrepräsentation, eine falsche Kontextualisierung; sie schätzten Risiko, Unsicherheitsfaktoren und Arbitrage falsch ein, waren unfähig, Kontextänderungen mitzumachen oder am “Metakonflikt” teilzunehmen, der sich in vielen langandauernden Spielen in verschiedensten Kontexten manifestiert.

INFRASTRUKTURELLE KRIEGSFÜHRUNG
Die infrastrukturelle Kriegsführung (Infrastructural Warfare, abgekürzt “IWar”) ist meine Formalisierung der kognitiven Hilfsmittel, die mir meinen “Vorsprung” verschaffen: IWar ist ein Metasystem zur Konzeptualisierung von Konflikten/Spielen mittels ihrer ins Visier genommenen infrastrukturellen Abhängigkeiten:

– Ein Zermürbungskrieg führt zum Versagen des Gegners, indem man ihm genügend hohe Verluste und Umweltschäden zufügt, wodurch die stützende Infrastruktur, die die politische Ökonomie in Gang hält, völlig aufgerieben wird. Dazu werden auch Massenvernichtungswaffen eingesetzt, die alle abhängigen Systeme innerhalb des Zielgebiets zerstören.

– Ein Manöverkrieg zielt auf die Kontrolle der neuralgischen Stellen in den militärischen und politischen Hierarchien/Lenkungsstrukturen durch dosierte Gewaltanwendung oder Androhung derselben.

– Guerillakrieg ist die opportunistische Gewaltanwendung gegen maßgebliche militärische und politische Infrastrukturen, wie Kommando, Kommunikation und Logistik, die die moralischen und materiellen Kosten eines Konflikts für den Gegner zu hoch werden lassen. Terrorismus ist ebenfalls opportunistische Gewalt, jedoch gegen den Gesellschaftsvertrag bzw. die Abhängigkeitsinfrastruktur (Dependency Infrastructure) gerichtet, die ein Versagen des sozialen Systems durch eine Zersetzung des Vertrauens hervorruft.

– Propagandaoperationen richten sich gegen die in organisierten Gesellschaften wachsende Abhängigkeit der Menschen von Beobachtungsbevollmächtigten (formelle und informelle Medien, von den konventionellen Kanälen bis zum Internet).

– Politische Kriegsführung (Political Warfare, “PolWar”) zielt mittels Propaganda und psychologischer Kriegsführung zur Schaffung/Manipulation alternativer Abhängigkeitsinfrastrukturen oder Gesellschaftsverträge auf die Kontrolle der Gesellschaft ab.

– Psychologische Kriegsführung (Psychological Operations, “PsyOps”) zielt auf Subversion/Perversion/Kappung der Informations- und Kommunikationsmittel, von denen jedes organisierte System abhängt.

– Informationskrieg (Information Warfare, “InfoWar”) ist eine Subkategorie, die mit dem Angriff bzw. der Verweigerung einer besonderen Infrastruktur arbeitet – der Informationsinfrastruktur oder Infostruktur.

Betrachtet man Kriegsführung aus der Sicht von Gesellschaftsverträgen und Abhängigkeitsinfrastrukturen, so ermöglicht dies ganz allgemein eine vereinheitlichte Form der Sichtweise von Konflikten. Dieses konzeptuelle Modell bzw. “kognitive Artefakt” ist selbst ein Machtmultiplikator, der eine Aktion oder Operation geeigneter und effizienter zur Durchsetzung ihrer Absicht oder Mission macht, und zwar unabhängig vom Kontext oder Kontextverschiebungen (Spiel und Metaspiel).
SPIELER: STAAT, OPPOSITION
Ein Staat wird für gewöhnlich durch seine Grenzen beschrieben, den willkürlichen Übergang von einem Staat zum nächsten, die Verteidigungslinie, eine der Beschränkungen staatlicher Kontrollfunktionen. Die geographische Definition eines Staates und seine physische Schwelle machen deutlich, daß die nationale Sicherheit – einst ein Kernpunkt – mit der Zeit an Bedeutung verloren hat, so wie auch der Bedarf an “Grund und Boden” als Zeichen von Reichtum wie als Produktionsmittel an Bedeutung verloren hat. Nationale Sicherheit, Staatsmacht und Politik sind miteinander verwoben und dadurch definiert, wer die Infrastruktur der politischen Ökonomie – unabdingbar für das Funktionieren eines organisierten Systems – besitzt und kontrolliert (Abhängigkeitsinfrastrukturen). Diese Infrastrukturen gehen auf A. H. Maslows Bedürfnishierarchie zurück, die die Bedürfnisse, welche das Verhalten eines Menschen lenken bzw. motivieren und die befriedigt werden müssen, nach ihrer Bedeutsamkeit reiht. Dazu zählen physiologische Bedürfnisse (Überlebensstrategien), Sicherheitsbedürfnisse, Bedürfnisse nach Zuneigung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung.

Politische Ökonomien/Gesellschaften werden über ihren infrastrukturellen Entwicklungsstand definiert: Eine “primitive” Gesellschaft ist landwirtschaftlich ausgerichtet; weiter fortgeschrittene Gesellschaften, die Entwicklungsländer, sind industriell orientiert; und die “modernen” Gesellschaften sind technologisch orientiert. Jede Evolutionsstufe vermindert die Bedeutung der vorangegangenen, macht sie jedoch nicht unnötig. Um eine Stufe aufzusteigen, bedarf es nicht bloß eines einzigen, einfachen Schritts nach vorn, sondern einer Ansammlung solcher Schritte: Werkzeuge, Prozesse und Wissen, die wiederum zu komplexeren Werkzeugen, Prozessen und Wissen führen, wodurch alles stetig komplexer wird. Derartige Infrastrukturen sind selten für ihre Funktion entwickelt worden, nämlich eine “Economy of Scale” zu ermöglichen, sondern sind mit der Zeit wie organische Strukturen gewachsen. Die Komplexität verlangt allerdings nach Spezialisierung, und die materiellen Infrastrukturen und die Informationsinfrastruktur der politischen Ökonomie differenzieren sich in explizitere Systeme:

– Wertketten (wirtschaftliche Strukturen wie Produktionsnetze oder Dienstleister, die Maslows Hierarchie befriedigen: Nahrung, Wasser, Brennstoff, Strom, Personen- und Güterbeförderung, Märkte, Bildung, Spirituelles);

– Gesellschaftsverträge (politische Systeme mit geschriebenen – Unabhängigkeitserklärung, Verfassung, die Bill of Rights – und ungeschriebenen Vereinbarungen – ein viktorianischer “Verhaltenskodex”);

– Infostrukturen (Internet, “Transport”-Ebenen der Kommunikation, Netzwerke);

– eine Informationslandschaft (Medien, ein “Gemeinschaftsgedächtnis”, eine “Signalumgebung”).

So wie der Entwicklungsgrad der Abhängigkeitsinfrastruktur die Art der politischen Ökonomie definiert, die ein Staat besitzt, so bestimmt der Grad an Staatseigentum und staatlicher Kontrolle den Gesellschaftsvertrag und die Politik des Systems:

– Eine Demokratie sorgt für größtmögliches Privateigentum für den Durchschnittsbürger.

– Sozialistische/kommunistische Regierungsformen reservieren Eigentum für das “Kollektiv”, was allerdings für das einfache Volk, wie recht eindrucksvoll gezeigt wurde, geradewegs in die Katastrophe führt: Wenn jedem irgendetwas gehört, so “besitzt” niemand etwas, d.h. niemand ist für etwas verantwortlich, wodurch sich die triste wirtschaftliche Situation solcher Systeme erklärt.

– Faschistische Regimes/Diktaturen/Monarchien beschränken Besitz auf “bestimmte” Personen, wodurch eine klare Besitztrennung geschaffen wird, ein zweischichtiges System von Besitzenden und Besitzlosen, wobei letztere nicht die Möglichkeit haben, aus eigenen Kräften aus der Klasse der Besitzlosen aufzusteigen.

Mit Ausnahme des Gesellschaftsvertrags – und hier wird das Ganze auch etwas verschwommen – berücksichtigt diese Kategorisierung die meisten Elemente der Abhängigkeitsinfrastruktur. Per definitionem sind gewisse Bereiche für den Staat reserviert, nämlich all jene Bereiche, in denen er eine Monopolstellung einnimmt, wo er an der Spitze der Hierarchie steht oder die Bürger von ihm abhängig sind. Dazu gehören in erster Linie das Geldwesen, die Landesverteidigung und die Trinität von Legislative, Exekutive und Judikative, in denen der Staat das Machtmonopol innehat. Maos Ausspruch “Alle politische Macht rührt von einem Gewehrlauf” trifft mehr oder minder zu, denn jeder Versuch, die Macht des Staates in diesen Bereichen anzugreifen, führt gewöhnlich zu Verhaftung und Gefängnisstrafen oder, wenn man sich widersetzt, zur Gewaltanwendung (auch tödlicher) von Seiten des Staats. Manchmal spielen die Staatsbürger eine gewisse Rolle: Beim Militärdienst (mag er auch nicht immer verpflichtend sein, doch ist man erst einmal dabei, lautet der Tagesbefehl, sich der Befehlshierarchie unterzuordnen), als unbedeutende Stimme in der Gesetzgebung, als Geschworene in der Rechtsprechung. Im großen und ganzen sind Staaten jedoch Konsumenten, die einen unterschiedlichen Prozentsatz der Ressourcen der politischen Ökonomie aufsaugen, und auch das beste politische System nützt sich mit der Zeit ab – eine Hegemonie, der es an Vielfalt mangelt, mit einer zunehmend vereinheitlichten Autorität, die zu Bürokratie führt, wo die Schlimmsten den Rest mit hinabziehen.

Deswegen habe ich IWar im Rahmen der Abhängigkeitsinfrastruktur beschrieben – die Infrastruktur ist nicht nur das notwendige Mittel, um einen Krieg zu führen, sondern ist auch der Preis, den es zu gewinnen gilt. Abhängigkeit ist jedoch mit Verletzbarkeit gleichzusetzen, vor allem, wenn hierarchische oder monopolistische Strukturen des Staates betroffen sind, und diese Abhängigkeit bedroht beide Seiten: die nationale Sicherheit und die Sicherheit der Bürger. Der Staat als Konsument ist abhängig vom Funktionieren und Ausstoß der Infrastrukturen der politischen Ökonomie, und somit verwundbar durch Angriffe, Funktionsverlust und Verlust der Economy of Scale in dem dichten Netz, das die Abhängigkeitsinfrastruktur ausmacht. Sicherheit, Schutz und Kontrolle abhängiger Komponenten sind vielleicht gar nicht möglich: aufgrund eines Abkommens mit den Bürgern im Gesellschaftsvertrag oder wegen gestaffelter Abhängigkeiten – eine Schlüsselabhängigkeit, deren eigene Abhängigkeiten außerhalb der Einflußsphäre des Staates liegen (Erdöl und “strategische” Bodenschätze als offensichtlichste Beispiele). Das ist der Hauptgrund für den schleichenden Übergang der nationalen Sicherheit in das “nationale Interesse”, das Schranken und Grenzen überschreitet – wo zieht man die Grenze in einer Welt, in der fortschrittlichere, komplexe Märkte, Güter und Dienstleistungen aus ineinander verwobenen materiellen und menschlichen Ressourcen gebildet werden? Bedrohungen der nationalen Sicherheit und der nationalen Machtsphäre werden miteinander vermischt: Abhängigkeit und Monopol treten gegen Vielfalt und Redundanz an, je nach Kontext und je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet (so ist z. B. Microsofts Würgegriff auf dem Betriebssystemmarkt eine Ausweitung der Macht der USA auf die gesamte Welt und gleichzeitig eine der größten Bedrohungen für deren Infostruktur). Die Dummen dabei sind die Bürger. Indem der Staat sich das Monopol oder die hierarchische Kontrolle gewisser Bereiche sichert, hat die Verletzbarkeit dieser Bereiche eine nachteilige Wirkung auf die Menschen, denen der Staat theoretisch dient: Angriffe gegen das Währungs- und Finanzsystem, gegen zentralisierte Verteidigungssysteme, deren Schwachstellen gegenüber modernen und zukünftigen Bedrohungen offenkundig wurden; erweiterte Definitionen von nationaler Sicherheit und nationalem Interesse, die verschiedene kostspielige Interventionen (militärischer, finanzieller und politischer Art) im Ausland notwendig machen und dabei ein geopolitisches Double Bind schaffen – einerseits die Rolle des Weltpolizisten spielen zu müssen und andererseits dafür geschmäht zu werden (wobei die Vergeltungsschläge gegen die Bürger, die für diese Entscheidungen nicht verantwortlich sind, geführt werden). Kontrolliert man den Kontext, so kontrolliert man die darin Abhängigen; greift man den Kontext an, so greift man die darin Gefangenen an.

(Interne) Opposition gegen die nationale Sicherheit und (externe) Bedrohung derselben sind zum derzeitigen Stand der Geschichte nicht leicht zu kategorisieren. Repressive Regimes rufen genauso internen und externen Widerstand hervor wie überraschenderweise auch betont offene, freie demokratische Staaten. Interne Opposition und innerer Widerstand sind vom Staat selbst geschaffene Probleme. Es spielt dabei keine Rolle, auf welche Weise Entscheidungen im Rahmen des Gesellschaftsvertrages getroffen werden, denn es wird immer einen gewissen Anteil an Menschen geben, der mit dem Lauf der Dinge zufrieden ist, und einen gewissen Prozentsatz, der sich benachteiligt, unglücklich oder unterdrückt fühlt. Und diese kleinen Gruppen sind in zunehmendem Maße bereit und in der Lage, “etwas dagegen zu unternehmen”. Scheinbar bei jeder Entscheidung – und in Demokratien werden wesentlich mehr Entscheidungen getroffen als in autoritären Systemen – wird eine Gesellschaft schizogenetisch: Sie zerfällt in oppositionelle Gruppen, die zivilen Ungehorsam üben, paramilitärischen Aktivitäten zuneigen, Guerilla-Angriffe, Terroranschläge oder andere “kriminelle” Handlungen begehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Motivation politisch (sei es das Neue-System-Modell oder das “Jetzt-sind-wir- an-der-Reihe”-Muster), pathologisch oder auf Profit gerichtet ist, die Herausforderung des Systems ist auf den einzelnen übergegangen – Devianz im Kleinformat. Mit externen Bedrohungen kommt man zumindest kognitiv leichter zu Rande – sie sind größer, langsamer und leichter zu erkennen – man denke nur an die frühen Säugetiere, die auch mit den Dinosauriern fertiggeworden sind. Konflikte zwischen Staaten sind in der Regel “sinnvoller” – Geld, Land, Kontrolle, Macht, Prestige und/oder Bestrafung sind allgemein anerkannte Motive. Die Staaten selbst spielen Abhängigkeitsspiele – Sanktionen, kontrollierte Technologie, Hilfe als “Geschenk”, Entwicklungspakete, technische Hilfestellung (besonders was “Bedrohungs”-Technologien wie Nuklear-, Chemie- und biologische Programme mit dualer/gemischter Nutzung, Weltraumtechnik, Material- und Produktionsprozesse etc. betrifft) sind alle so angelegt, daß sie die Vorteile des Fortschritts ohne das Know-how und die Kontrolle bieten. Das Spiel zu kontrollieren versuchen, indem man die Spieler kontrolliert, funktioniert nur selten – Information trotzt der Kontrolle, “Marionettenstaaten” oder Alliierte weiten die Grenze der nationalen Sicherheit bzw. des Interesses in zunehmend riskantere Kontexte aus, und einige Staaten verfolgen erfolgreich eine Strategie des “Unterwerfens und Regierens”, die die Beziehung von Abhängigkeit und Kontrolle umgekehrt hat (z. B. Japan, Saudiarabien, Israel). Strategie wird hier eindeutig nicht richtig verstanden.
STRATEGIE IM NATIONALEN SICHERHEITSSPIEL
Die bedeutendste Fehleinschätzung in der Strategie für die nationale Sicherheit liegt in der Verwendung der eingeengten Spielterminologie, besonders des polarisierten Verständnisses von Sieg und Niederlage. Soll ein Spielmodell die Realität abbilden, so muß man zwei weitere strategische Positionen hinzufügen: “Not Lose” (NL, nicht verlieren) und “Not Let Them Win” (NLTW, die anderen nicht gewinnen lassen). Diese Strategien bedürfen einer kurzen Erklärung und sind (in der angeführten Reihenfolge) ineinander verschachtelte Konzepte:

– Niederlage bedeutet in der Regel, daß man tot (unfähig zu spielen) oder unfähig zur Kontrolle ist, was das gleiche bedeutet. Ich möchte noch anfügen, daß tot sein das eigene Spiel verhindert, aber anderen Teilnehmern zum Vorteil gereicht (Märtyrertaktik).

– Nicht verlieren (NL) ist genau das, wonach es klingt – das Hauptziel ist, am Leben zu bleiben, da Tote nicht zum Zug kommen. Sonst gelten keine Regeln. Diese Art von Spieler bildet den Kernkader jeder Bewegung, sie sind freiwillig dabei und unerbittlich.

– Die anderen nicht gewinnen lassen (NLTW) – was nach Überleben und Mitspielen kommt – bedeutet, daß man alles unternimmt, damit der Gegner keinen Sieg erringt, daß er für seine Teilnahme am Spiel teuer bezahlen muß und lediglich den Bereich kontrolliert, auf dem er steht.

– Sieg bedeutet, daß man das Land kontrolliert, die Regeln aufstellt und den Kontext vorgibt. So erstrebenswert es auch ist, in der Realität gibt es keinen Sieg.

Hier noch einige Beispiele zum besseren Verständnis dieser erweiterten Strategien:

Der Zweite Weltkrieg, betrachtet man ihn als ein Spiel, wurde auf Sieg und Niederlage gespielt (man beachte, daß der Versuch, in einem polarisierten Spiel zu siegen, ein Nullsummenspiel ist; gewinnt man nicht, so verliert man, so banal dies auch klingen mag). Betrachtet man den Zweiten Weltkrieg als ein Spiel innerhalb eines Metaspiels, so ist es interessant zu beobachten, daß Japan und Deutschland, die bedingungslos kapitulieren mußten, kurz nach Ende des Krieges und am Anfang des Kalten Krieges zur NL-Strategie gewechselt haben, was sich für sie positiv ausgewirkt hat.

Der Kalte Krieg, der Kampf nach politischer Vorherrschaft zwischen Kollektivismus und (vertretbarem) Individualismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war ein Metaspiel. Es gab Verschiebungen hinsichtlich Kontext, Regeln, Spielfeld, Spielern, Strategien und jedes weiteren dynamischen Parameters während des Konflikts. Betrachtet man eines der dabei gespielten Spiele isoliert, so kann man es nur mit Blick auf das Metaspiel verstehen.

Im Ersten Weltkrieg wurden zwei außergewöhnliche Persönlichkeiten zum Inbegriff der NL- und NLTW-Strategien. NL wurde von Paul von Lettow-Vorbeck im Kampf um Deutsch-Ostafrika demonstriert. Er führte von 1914 bis 1918 einen Guerillakrieg, in dem er zehn bis 20 Mal mehr Mann des Gegners beschäftigt hielt, als er selbst kommandierte. Er blieb bis zur deutschen Kapitulation ungeschlagen, d. h. bis zu dem Zeitpunkt, als der Befehl, die Feindseligkeiten einzustellen, seine Bemühungen stoppte, so viel Chaos und Verwirrung wie nur möglich zu stiften. Er war immer in Bewegung, richtete ständig Schaden an und konnte nie besiegt werden (und verursachte dabei den Briten Kosten von mehreren Millionen Pfund). Die NLTW-Strategie wurde ebenfalls von 1914 bis 1918 von Thomas Edward Lawrence während seiner Beteiligung am arabischen Aufstand gegen das Ottomanische Reich im Nahen Osten erfolgreich eingesetzt. Lawrence' Strategie kann einfach zusammengefaßt werden: Während der Feind jeden Punkt gegen seine Angriffsmöglichkeiten verstärken konnte, konnte er nicht jeden Punkt gegen ihn selbst verstärken. Lawrence arbeitete mit mobilen Guerillaeinheiten, so daß das Ottomanische Reich niemals sicher war, und die Kosten der Haschimiden-Revolte führten schließlich zum Zusammenbruch der Türkischen Front gegen die Alliierten. Lettow-Vorbeck und Lawrence sind Galionsfiguren, die in weiterer Folge zur Entwicklung von Sondereinheiten auf der ganzen Welt führten. Ich kann keinem der beiden gerecht werden und daher nur empfehlen, die Geschichte, die sie geschrieben haben, zu lesen.

“Mutually Assured Destruction” (MAD, gegenseitig zugesicherte Zerstörung) war die Strategie des Kalten Krieges im Atomzeitalter. Auf Sieg zu spielen bedeutete, seine Raketen abzufeuern; nicht zu spielen bedeutete hingegen eine sichere Niederlage. Nahm man am Spiel teil, hatte man zumindest eine NL-Position inne, und MAD ist eine Art von NLTW: Die mit ballistischen Raketen ausgerüstete U-Boot-Flotte wäre immer zu einem Vergeltungsschlag bereit. Ein interessantes Artefakt dieser Zeit war die als “Trigger Deterrent” (Auslöseabschreckung) bekannt gewordene NL-Strategie: Europäische Staaten fürchteten den Einsatz taktischer Nuklearwaffen auf dem europäischen Einsatzgebiet (ETO, European Theater of Operations) und ließen daher das NATO-Kommando wissen, daß eine Langstreckenrakete gegen die USA oder die UdSSR (gleichgültig, gegen wen von beiden) gezündet würde, sollten taktische Nuklearwaffen im ETO eingesetzt werden, was wiederum deren MAD-Vergeltungsschläge auslösen und somit das Unglück weiterverteilen würde. Wenn Europa schon zerstört werden würde, würden die Spieler der Supermächte zumindest mit ins Verderben gerissen.

Der Vietnamkrieg zeigt die Verquickung von NL, NLTW und Sieg: Die Hauptkader des Vietcong und die Nordvietnamesische Armee führten einen permanenten Guerillakrieg, der dynamische Unterstützung durch ein riesiges Netz an zunehmend desillusionierten oder verwundeten “Zivilisten” fand. Die NL-Strategie erhielt die Kernbewegung ungeachtet der Verluste am Leben. Diese Bewegung fungierte als Ankerpunkt für zusätzliche Ressourcen und wurde zu einer materiell kostspieligeren NLTW-Strategie erweitert, was schließlich dazu führte, daß die USA nicht mehr gewillt waren, das Spiel fortzusetzen. Diese Prozeßkette (NL, erweitert zu NLTW und Sieg) in Verbindung mit einer beabsichtigten politisch-ökonomischen Struktur (wie etwa einem neuen Gesellschaftsvertrag) waren seit jeher der Schlüssel für Guerillabewegungen (die “Mao-Bibel” oder Che Guevara waren die kollektivistische Version).

Der Golfkrieg (Operation Desert Storm) enthielt Beispiele für alle Strategien. Die USA spielten auf Sieg, Irak gegen Kuwait auf Sieg/Niederlage; gegen die USA wählte der Irak die NL-Strategie (deswegen ist Hussein im Irak noch immer an der Macht), während die von den USA gebildete Arabische Koalition gegen den Irak eine NLTW-Strategie verfolgte. Hätte der Irak gegen die USA auf Sieg/Niederlage gespielt, wäre die Sache anders ausgegangen. Doch die USA und der Irak spielten verschiedene Spiele, und jede Bewertung der Auswirkungen des Krieges muß eingestehen, daß die US-Streitkräfte trotz ihrer beeindruckenden Leistung nicht gewonnen haben, weil sie nicht dasselbe Spiel wie der Gegner spielten, der die Auswirkungen des Krieges durch seine NL-Strategien abgelenkt und innerhalb des Iraks in einen Sieg umgewandelt hat.

Noch eine Anmerkung zur Behauptung, es gäbe keinen Sieg: Hat Israel das besetzte Palästina “gewonnen”, herrscht dort Frieden? Hat Großbritannien in Irland “gewonnen”? Widerstandsbewegungen werden unter Berücksichtigung dieser neuen Positionen besser verständlich. Kein Wunder, daß so mancher mit Nostalgie an den Zweiten Weltkrieg zurückdenkt – wenn man ihn als eigenständiges Spiel betrachtet, war das ein “guter Kampf”, aber man muß schon bewußt kurzsichtig sein, um ihn so zu sehen.
TAKTIKEN UND AKTIONEN IM NATIONALEN SICHERHEITSSPIEL
IWar, das Mittel, mit dem ich an einen Konflikt herangehen würde, nützt Schwachstellen, Unzulänglichkeiten und Fehler, die in der Entwicklung einer Gesellschaft aufgetreten sind, gezielt aus. Ein IWar kann jederzeit, an jedem Ort, gegen jede Kultur und unter allen Umständen geführt werden, da selbst die primitivsten Gesellschaften (per definitionem) eine Infrastruktur aufweisen, und die Abhängigkeit davon ist so beherrschend, daß man sie fast nicht mehr wahrnimmt.

Jede Taktik, die die nationale Sicherheit eines Staates anzugreifen oder zu unterlaufen trachtet, muß eine “Attacke in der Tiefe” mit einer Kombination verschiedener Mittel ausführen:
“DENIAL OF SERVICE”-ANGRIFFE
“Denial Of Service”-Angriffe (DOS, Angriffe zum Kappen von Diensten) sind Angriffe, die einer Gesellschaft oder einer Untergruppe der Gesellschaft den Zugang, die Nutzung und die Vorteile einer Infrastruktur zur Gänze oder teilweise unmöglich machen. Dazu zählen auch die sogenannten DOS-M-Angriffe gegen die materielle Infrastruktur sowie DOS-V-Angriffe gegen die Infostruktur (V steht für “virtuelle” Infrastruktur).

– DOS-M-Angriffe reichen von der Sprengung von Brücken oder Schaltzentralen der Telekommunikation (in fortschrittlicheren Gesellschaften) bis zu massiven Angriffen gegen die Zivilbevölkerung (in Gesellschaften, in denen die Menschen die Infrastruktur sind, wie z. B. in landwirtschaftlich orientierten Wirtschaften).

– DOS-V-Angriffe (InfoWar, NetWar oder CyberWar) können von Hackern ausgeführt werden, die ein Verkehrsleitsystem abschalten, Software unbrauchbar machen, die die Vermittlung in der Telekommunikation steuert, oder ein Netz, das soziale Vorgänge verwaltet, mit Daten überfluten. Die Angriffswerkzeuge reichen vom “Knacken” von Systemen durch Hacker bis zu automatisierten Angriffen durch Computerviren oder Programme, die Netzwerke mit Datenpaketen überfluten.

– Die Zielsetzung von IWar ist Effizienz im Angriff, und die Methode wird den Umständen angepaßt. Unabhängig von den Spezifika zielt IWar in dieser Form darauf ab, ein Versagen in einem Prozeß herbeizuführen oder diesen Prozeß zu kontrollieren bzw. automatisieren.
PSYWAR-ANGRIFFE
Statt auf eine direkte (und nicht sehr subtile) Zerstörung/Kappung der Infra-/ Infostruktur zielen diese Angriffe der Subversion/Perversion auf materielle, virtuelle oder menschliche Verfahren und Entscheidungsprozesse, wodurch die getroffene Wahl oder Empfehlung abgewertet wird. Oder sie beeinträchtigen/ schädigen Modelle, in denen sich die Fehler durch das gesamte Modell, wenn auch nicht immer offensichtlich, durchziehen und weitergetragen werden.

PsyWar-Angriffe sind schwieriger auszuführen als DOS-Angriffe – es braucht schon menschlichen Verstand, um menschliche Entscheidungen zu verfälschen. Die moderne Gesellschaft hat jedoch ein Echtzeitbedürnis nach Unmittelbarkeit, das immer mehr nach automatisierten Entscheidungen verlangt, was den Faktor Mensch für die Entscheidungsfindung sekundär oder überflüssig macht und statt dessen auf maschinelle Daten und Operationen in Echtzeit vertraut.

Diese Abhängigkeiten sind dynamisch und haben gewisse Schwellenwerte: Die Änderung medizinischer Daten, wie etwa der Blutgruppe, hat für den Betroffenen erst dann eine Bedeutung, wenn auf deren Grundlage eine korrekte Entscheidung getroffen werden muß. Das bedeutet, daß derartige Angriffe gegen Systeme oder Informationen erfolgen können, während sie ungeschützt sind, da sie zum Zeitpunkt des Angriffs unwichtig oder unmaßgeblich scheinen – was natürlich völlig falsch ist.
POLWAR-ANGRIFFE
Politische Kriegsführung bedeutet Propaganda, Desinformation, Agitation und soziale Subversion, eine spezielle Untergruppe von PsyWar, wo die Subversion gegen politische Prozesse gerichtet ist, also eine “Politik mit anderen Mitteln”.

Wie schon vorher erwähnt, ist einer der Schlüssel für gesellschaftliche Veränderungen oder solche in der politischen Ökonomie die Schaffung eines alternativen Gesellschaftsvertrags, indem man Anhänger durch Überzeugung oder Zwang gewinnt oder die “Hand an der Macht” der bestehenden Struktur zu reaktiven Änderungen zwingt. Die moderne Infostruktur bietet verschiedenste Mechanismen zur Schaffung, Unterstützung und Vermehrung von “intentionalen Gemeinschaften”. Die technologischen Hilfsmittel und Kommunikationskanäle bieten ungeahnte Mechanismen, um Propaganda- und Desinformationsmaterial zu erstellen und zu verteilen, Gruppen zu organisieren, Aktionen zu koordinieren oder auf andere Weise die Stabilität der sozialen Strukturen zu untergraben.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Unschwer zu erkennen, daß mein Blickwinkel und die Hilfsmittel im IWar-Metaspiel sich um die nationale Unsicherheit und Destabilisierung drehen. Die neu hinzugekommenen Spielpositionen NL und NLTW müssen verstanden werden, denn IWar führt zu keinem Sieg und auch für einen erfolgreichen Spieler nicht zur Kontrolle. Die IWar-Strategien und -Taktiken sind ein schützendes Netz für andere Operationen – offensiv, z. B. als Präventivschlag, jedoch nur als Teil unterstützender/kombinierter Operationen eines Angriffs in der Tiefe oder als Zwangsmaßnahme; und defensiv als Angriff zur Kappung von Diensten oder Vergeltung. Offensive Präventivschläge wie das mystifizierte Elektronische Pearl Harbor werden genau so fruchtlos und kontraproduktiv sein wie das damalige Pearl Harbor. IWar-Angriffe können und werden beim Gegner Chaos auslösen, wie sie das auch in der Vergangenheit getan haben (etwa PsyWar-Angriffe gegen das Steuersystem, wirtschaftliche Schlüsselpositionen, die Währung, Märkte und die Informationssphäre). Der Verweigerung von Diensten wie etwa dem GPS-System wird in zukünftigen Konflikten eine wichtige taktische Bedeutung zukommen. Doch selbst die Verweigerung von GPS schränkt nur die Offensivkräfte des Gegners ein und wird ihn nicht gänzlich aus dem Spiel werfen. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und es wird auch nicht an einem fallen. Befürworter von InfoWar-Angriffen mit “Sudden Death” träumen von billigen, einfachen und völlig unrealistischen Siegen. Echte Siege kommen durch langwierige, langsame und subtile subversive Bemühungen; und auch hier gilt: Wer gewarnt ist, ist gewappnet. Ein raffinierter Gegner könnte seine Strategie von Sieg/Niederlage in die Rückzugspositionen NL oder NLTW ändern und das Spiel auf diese Weise für Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende fortführen, bis sich das Blatt wendet. Der kluge Einsatz von Strategien – genau wissend, wann NL- oder NLTW-Positionen bezogen werden müssen – und Erfahrung im Umgang mit den kognitiven Hilfsmitteln des IWar tragen viel zum Verständnis von nationaler (Un)Sicherheit und von Konflikten bei. Das könnte, verdammt noch mal, selbst Sie noch ins Spiel bringen.