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Der Staatsstreich der Medien*


'Paul Virilio Paul Virilio

Am Abend des spektakulären Wahlsieges der FORZA ITALIA und ihrer politischen Verbündeten erklärte ein Italiener enttäuscht: “Früher mußte man sich die Nase zuhalten, wenn man zur Wahl ging, mit Berlusconi wird man sich in Zukunft die Augen zuhalten müssen, wenn man wählt!”

Die Ereignisse in Italien lassen sich wohl kaum besser beschreiben. Dieser Wahlsieg rückt die Anti-Korruptionskampagne, die der Richter del Pietro seit einigen Jahren führt, in ein neues Licht, denn sie mündete nicht nur in der Regierungsbeteiligung einer POSTFASCHISTISCHEN Partei, nämlich derjenigen von Gianfranco Fini, sondern auch in der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch eine POSTPOLITISCHE Partei, derjenigen von Silvio Berlusconi. Es scheint gerade so zu sein, als habe die “ethische Säuberung” der politischen Klasse in Italien keinem anderen Ziel gedient, als den ersten Staatsstreich der Medien in der europäischen Geschichte zu rechtfertigen.

Wenn schon nicht unter dem Einfluß eines übertriebenen Gerechtigkeitssinns, der immer zur Ungerechtigkeit führt, so doch zumindest unter dem Einfluß der viel zu vielen Prozesse, die im Zusammenhang mit der Operation MANI PULITE geführt wurden, haben sich die italienischen Wähler mit geschlossenen Augen in den Abgrund gestürzt, den ein Medienzar geöffnet hatte und der damit eine neue Form des Machtwechsels schuf, der sich jetzt nicht mehr zwischen der parlamentarischen Linken und Rechten vollzieht, sondern zwischen der Politik und den Medien . Und hierbei gewinnt die Anziehungskraft des Bildschirms die Oberhand nicht nur über das geschriebene Wort und die Notwendigkeit eines politischen Programms, sondern auch noch über die Meinungsumfragen. Die FERNSEHZUSCHAUERQUOTE verschaffte sich damit einen aufsehenerregenden Auftritt auf der Bühne des demokratischen Rechtsstaates: Der Primat des Redegenies wird verdrängt durch denjenigen des Telegenies der jeweiligen Forza-Italia -Kandidaten.

Kann man somit vielleicht von der Einführung einer Art wettbewerbsorientierter Werbung in die Politik sprechen, das heißt von der Einführung eines Systems des freien Konkurrenzkampfes, bei dem sich die Herren über den kleinen Bildschirm gegen diejenigen über die Presse und die parlamentarischen Initiativen durchsetzen? Jeder weiß, daß Wettbewerb nicht gleichbedeutend mit Vernunft ist, und die Ereignisse in Italien sind viel zu folgenschwer, als daß man sich mit derartig dürftigen und zudem parteiischen Betrachtungen zufriedengeben dürfte.

Hinsichtlich der künstlerischen und politischen REPRÄSENTATION gehörte Italien in der Tat schon immer zur Avantgarde. Vom Quattrocento bis zum Belcanto, von der barocken Architektur bis zum Kino ist die italienische Halbinsel das Laboratorium des kulturellen Europas gewesen. Gegen jede Vernunft ist, war und wird Italien immer FUTURISTISCH sein … Ruft man sich jedoch die kongenialen Beziehungen in Erinnerung, die zwischen dieser Bewegung und dem FASCHISMUS bestehen, dann läßt der Wahlsieg des “Freiheitspools” für die Zukunft unseres Kontinents in genau dem Moment, wo er von den katastrophalen Folgen der ethnischen Säuberung in Ex-Jugoslawien bedroht wird, nichts Gutes erwarten.

Welches waren die Vorzeichen für die jetzt in Italien eingetretenen politischen Ereignisse? Man braucht nicht bis zur Watergate-Affäre und zum Rücktritt des inzwischen verstorbenen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon zurückzugehen, der im übrigen der erste Präsident der Vereinigten Staaten war, der infolge einer von der Washington Post initiierten, groß angelegten Medienkampagne zum Rücktritt gezwungen wurde. Es reicht schon, sich ein ganz klein wenig mit der Rolle des Großindustriellen Ross Perrot während des Präsidentschaftswahlkampfes 1992 zu befassen, um zu begreifen, daß das, was sich seinerzeit abspielte, bereits der Beginn einer kathodischen Demokratie war, bei der die Kunst der Meinungsumfragen schließlich gleichbedeutend ist mit der Zuschauerquote und sogar mit einem ersten virtuellen Wahlgang.

Allerdings war es in Amerika hierzu noch zu früh, und der Erfolg eines George Bush, der mit dem Nimbus des Sieges im Golfkrieg umgeben war, machte es für Ross Perrot, den Exoten unter den Kandidaten, unmöglich, gegen seine beiden politischen Widersacher ankommen zu können, was den vorzeitigen Verzicht auf seine Kandidatur erklärt.

Man kann feststellen, daß die in den Medien durchgeführte Kampagne zur Vorbereitung des Staatsstreiches der Information (1) nicht ohne eine bestimmte Form der Lynchjustiz auskommt, d. h. der moralischen Diskreditierung der an der Macht befindlichen politischen Klasse – zumindest gilt das für solche Länder, in denen die wirtschaftliche Macht in Verbindung mit der demokratischen Tradition immer noch ein Garant für die außerordentliche Stabilität der republikanischen und rechtsstaatlichen Traditionen darstellt. Infolgedessen kommt es zwischen der Justiz und der vierten Gewalt der Massenmedien notwendigerweise zu einer Art impliziter Verschwörung. Gerade so, als würden die Presse zu ihrer Zeit und die audiovisuellen Medien heute mit ihren Enthüllungen die Rolle einer öffentlichen Untersuchung übernehmen. Und hierbei geht es nicht etwa um die Untersuchung einer bestimmten Sache (früher Nixon, morgen Clinton mit der “White-Water”-Affäre), sondern um diejenige der gesamten politischen Klasse.

Auf diese Weise kam es zur Bildung einer verhängnisvollen Verbindung zwischen der Macht der Enthüllung von Skandalen durch die Medien einerseits und dem wohlbekannten Puritanismus der Amerikaner andererseits. Es versteht sich fast von selbst, daß die Öffnung der Parlaments- und Gerichtssäle für die Kameras den aus dieser Verbindung erwachsenen Disqualifikationsversuchen der gewählten Volksvertreter alles andere als abträglich waren. Diese Versuche wurden im Namen der Korruptionsbekämpfung durchgeführt, bei der das Ideal einer politisch korrekten Justiz sich nicht mehr ohne weiteres von dem optisch korrekten Charakter unterscheiden läßt, den ihr das televisuelle Bild und die für dessen Inszenierung Verantwortlichen verleihen.

Die zentrale Bedeutung, die den Massenmedien heute bei Präsidentschaftswahlen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent und Subkontinent zukommt, ist absolut augenfällig. Das läßt sich insbesondere am Beispiel von TV Globo bei der knappen Wahl von Fernando Color veranschaulichen.

Mit einem Zuschaueranteil von 80% und seinen Tausenden Mitarbeitern ist der politische Informationskomplex TV GLOBO, bei dem die Nachrichten direkt von der Marketingabteilung des Fernsehsenders aufbereitet werden, sehr viel mehr als ein einfaches Organ der “demokratischen und freien Meinungsäußerung” einer Nation. Gleichwohl besteht der beunruhigendste Aspekt der plötzlichen “Amerikanisierung” der Wahlkämpfe im Süden Europas letzten Endes in dem Erfolg, den Silvio Berlusconi bei den jungen Italienern erzielt hat: Mehr als die Hälfte der 18- bis 25jährigen haben für das Triumvirat des “Freiheitspools” gestimmt, d. h. 6 Millionen Angehörige dieser Altersgruppe haben sich für den Wahlsieg von Forza Italia, Lega Nord und Gianfranco Finis Neofaschisten eingesetzt.

Der verlorene Kontinent der Generation der italienischen Jugendlichen, der an Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit leidet, ist massiv vom Privatfernsehen, von Videospielen und äußerst gewalttätigen Unterhaltungssendungen geprägt, die sich am Vorbild der amerikanischen “Kultur” orientieren, für die Italien schon immer sehr empfänglich war. Dieser Kontinent treibt jetzt auf den düsteren Abgrund einer zwangsläufig transpolitischen Hoffnungslosigkeit zu, und das in genau dem Moment, wo auf der gegenüberliegenden Seite des Adriatischen Meeres das Grauen eines Krieges herrscht, bei dem die Anhänger und Hooligans der Fußballmannschaften aus Belgrad und anderen Städten zu Heckenschützen oder Folterknechten im Dienste der “Kriegsherren” geworden sind.

“Diejenigen, die das Fernsehen nicht mögen, sind diejenigen, die Amerika nicht mögen”, erklärte Silvio Berlusconi zu Beginn seines Wahlkampfes. Hierbei zielte er weniger auf die alten Anhänger der kommunistischen Partei Italiens ab als vielmehr auf diejenigen, die bestrebt sind, die vierte Gewalt innerhalb des rechtlichen Rahmens der parlamentarischen Demokratie zu halten.

Werden wir in nächster Zukunft im Süden Europas (Spanien hierin mit eingeschlossen) so wie schon zuvor auf dem amerikanischen Subkontinent die unheilvolle Verbindung zwischen dem romanischen “Populismus” und dem angelsächsischen “Liberalismus” erleben? Werden wir mit ansehen müssen, wie die politische Kultur Lateinamerikas über den Atlantik hinweg auch auf unseren alten europäischen Kontinent übergreift?

In genau dem Augenblick, in dem uns die Vorteile des vom amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore intensiv geförderten Projekts der “Datenautobahnen” angepriesen werden – ein Vorhaben, das Punkt für Punkt die Überlegungen des gescheiterten Kandidaten Ross Perrot wiederaufnimmt – , wäre es vielleicht an der Zeit, daß wir uns ein paar besorgte Fragen stellen. Dies um so mehr, als der Richter Di Pietro, der zum unfreiwilligen Steigbügelhalter für die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Berlusconi und seine Mannschaft wurde, selbst für eine Premiere im Zusammenhang mit dem Staatsstreich der Information gesorgt hat, indem er anläßlich des kürzlich in Mailand zu Ende gegangenen Tangentopoli-Prozesses nicht nur die Zulassung einer Kamera im Gerichtssaal durchsetzte, sondern die eines Computers. Zufrieden mit seinem Geniestreich, erklärte der Richter den anwesenden Journalisten: “Das ist der Beginn von Multimedia im Justizwesen!”

Angesichts der befremdlichen Verzögerung, die bei der Ernennung von Berlusconi zum Ministerpräsidenten eintrat, kann man sich fragen, ob der italienische Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro vielleicht unschlüssig war, ob er die Verantwortung dafür übernehmen wollte, die Exekutivgewalt in die Hände des Inhabers eines Informationsmonopols zu geben. In Frankreich müßten wir uns fragen, welchen Weg unsere “Nationale Kommission für Informatik und Freiheit” in Zukunft beschreiten wird. Ansonsten könnte sich für uns das Problem ergeben, wie wir uns wirksam gegen die beträchtliche Gefahr einer künftigen und unheilvollen Vermischung zwischen den staatlichen Gewalten und Interessen einerseits und denjenigen des multimedialen Unternehmens andererseits schützen können.

“Wenn man befehlen will, muß man vor allem zu den Augen sprechen”, erklärte Napoleon Bonaparte zu einer Zeit, als der optische Telegraph von Claude Chappe noch ausschließlich verschlüsselte Botschaften übermittelte und, trotz alledem, ein Staatsstreich lediglich mit Unterstützung der Grenadiere der Nationalgarde durchzuführen war.

Heute, da die Revolution nicht mehr mit der Erstürmung des Winterpalastes beginnt, sondern, wie vor nicht allzu langer Zeit in Bukarest und Moskau geschehen, mit derjenigen des Rundfunkhauses bzw. der Fernsehstudios, wie sollte man sich da hinsichtlich der Tragweite des politischen Dramas in Italien noch irgendwelchen Illusionen hingeben können?

“Nehmt die Hände, seht die Augen, erstürmt den Blick!” schlug Paul Eluard den Eroberern in seiner Paraphrase des Befehls von Napoleon Bonaparte vor.

Wenn die Erteilung eines Befehls also gleichbedeutend ist mit der Einschüchterung des Sehens, dann wird die Entwicklung der zukünftigen (audiovisuellen, digitalen …) Massenkommunikationsmittel schon bald dazu beitragen, gemeinsam mit der Kunst des Fernsehkommandos auch diejenige einer Art gesellschaftlicher und politischer Kybernetik zu fördern, gegen die sich kein wirksamer und anhaltender Widerstand mehr formieren läßt, weil die Beschaffenheit der Bildschirm-Teletechnologien der Erinnerung und damit dem Allgemeingut des Denkens entgegensteht. Die Kunst der Fernbedienung gehört der Ordnung des konditionierten Reflexes an, niemals jedoch derjenigen eines demokratischen und allgemein verbreiteten “Wissens”.

Es geht keineswegs darum, das “Bild” auf dieselbe Weise zu ächten, wie es die Schrift beim Bildschirm tut, sondern es wäre viel angebrachter, die Verführungskraft des Monitors, jenes Terminals der Kathodenstrahlröhre genauer zu bestimmen, deren Macht in der absoluten Geschwindigkeit der Bilder- und Nachrichtenübertragung liegt und nicht in der Raumordnung der Bildsequenzen, so wie es beispielsweise beim Kino der Fall war.

Während Schreiben und Lesen immer geistige Bilder erzeugen – es gibt genauso viele Madame Bovarys, wie es Leser des Romans von Gustave Flaubert gib –, trägt bereits die Vorführung eines Kinofilms in der Dunkelheit der Zuschauersäle zu einer ideographischen Abspeicherung bei, deren Folge die mehr oder weniger starke Identifizierung mit den Figuren des Films ist. Was die (bald schon digitalisierte) Ausstrahlung von Nachrichten im Fernsehen betrifft, so schließt diese jede Form der aktiven Speicherung aus und läßt nur eine emotionale Reaktion zu, deren einziges Kriterium die passive Gewalt ist, was daran ersichtlich wird, daß die Zapper sich keine Gedanken mehr über ihre blinden Entscheidungen machen.

Wenn im übrigen die Entwicklung der Technik der virtuellen Realität mit derjenigen der Interaktivität verbunden ist, so erklärt sich das aus dem Umstand, daß der Rahmen des Bildschirms nicht mit einem echten “Dialog Mensch-Maschine” vereinbar ist, d.h., daß die Unterwerfung des Menschen unter seinen Bildschirm letzten Endes die Kommunikation in nur eine Richtung begünstigt.

Kehren wir aber abschließend zur Tragweite des Erfolgs des ersten “Staatsstreichs der Medien” in Südeuropa zurück. Als Produzent und Produkt seiner Multimedien in einer Person ist der Unternehmer und Ministerpräsident Silvio Berlusconi weder Citizen Kane noch der Schauspieler-Präsident Ronald Reagan, denn er ist “durchsichtbar” oder eher noch: “hindurch-sichtbar”, zugleich hinter und vor dem Bildschirm. Der äußerst unpersönliche und smarte italienische Ministerpräsident verfügt über kein besonderes Charisma. Er ist “telepräsent”, wenn er abwesend ist, seine physische Präsenz bei öffentlichen Debatten dagegen ist derart schwach ausgeprägt, daß man sein Unbehagen, dabei, das heißt hier und jetzt, anwesend zu sein, geradezu spürt, wohingegen sein übliches Telegenie ständig dafür sorgt, daß er gleichzeitig hier und anderswo ist: im Mailänder Stadion, in Filmstudios oder in Supermärkten bei seinen Kunden. Anders ausgedrückt: Er ist nirgendwo, wobei der “mediale” Klientilismus jetzt an die Stelle des eigentlichen “politischen” Klientilismus tritt, der in Italien den Ausgangspunkt für Säuberungsaktionen bei den korrupten Politikern darstellte.

Das sich dem Einfluß des “schwachen Denkens” verdankende psycho-politische Konsumprodukt Silvio Berlusconi wird in naher Zukunft – allerdings mit der alles andere als schweigenden Mehrheit der italienischen Jugend im Rücken – öffentlich seinem Double, dem Richter Di Pietro entgegentreten müssen, der sich ebenfalls auf die Massenmedien stützt, allerdings im Namen des starken Denkens der Justiz. Der “Anti-Held” Ministerpräsident tritt gegen den “Held” Oberster Richter an. Das Ringen wird möglicherweise erbarmungslos sein und den öffentlichen Frieden bedrohen, denn die “Republik der italienischen Richter” erhebt diesmal nicht mehr nur gegen die alte Garde der korrupten Politiker Anklage, sondern indirekt gegen die junge “transpolitische” Garde, die aus den Parlamentswahlen oder, anders gesagt, aus dem von den Richtern geführten Kampf gegen die Korruption siegreich hervorgegangen ist!

Es läßt sich unschwer erahnen, welche Konsequenzen die Regionalisten oder Nationalisten möglicherweise aus einem Mißgeschick zögen, das, ähnlich wie bei Fernando Color, den Sturz Silvio Berlusconis zur Folge hätte.

Das Auseinanderfallen des Landes in rivalisierende und gegenläufige Interessen könnte eine ziemlich genaue Wiederholung des “Sezessionskrieges” zwischen Norden und Süden zur Folge haben, wobei sich die Unionisten den Bestrebungen der Separatisten der “Lega Nord” zu widersetzen versuchen …

Wie dem auch sei, mit der Regierungsbeteiligung von neofaschistischen Ministern in einem Land, das Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, werden alle Revisionismen und Verleugnungshaltungen ihrer Geschichtsauffassung frei in Umlauf setzen können, und das anläßlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung des europäischen Kontinents.

Zweifellos haben wir es mit einer postpolitischen Avantgarde zu tun, bei der es sich jedoch um die Avantgarde des Vergessens handelt.

1. Mai 1994

NEW YORK IM DELIRIUM
Das Attentat auf das World Trade Center ist der erste schwere Bombenanschlag seit dem Ende des Kalten Krieges. Unabhängig davon, wer die Täter waren, leitet er ein neues Zeitalter des Terrorismus ein und hat nichts mit den Bomben gemeinsam, die regelmäßig Irland oder England erschüttern.

Der charakteristische Gesichtspunkt dieses Anschlags besteht tatsächlich darin, daß er ausschließlich das Ziel verfolgte, das Gebäude des World Trade Center zu zerstören, mit anderen Worten, den Tod Tausender unschuldiger Menschen zu verursachen. Genauso wie ein schwerer Luftbombenangriff sollte diese eine, direkt an den Grundmauern plazierte Bombe mit mehreren hundert Kilo Sprengstoff den Einsturz des vierhundert Meter hohen Gebäudes herbeiführen. Es handelt sich also keinesfalls, wie von den um Vergleiche bemühten Medien gerne behauptet wurde, um ein einfaches Remake des Films Flammendes Inferno, sondern vielmehr um ein strategisches Ereignis, das der ganzen Welt die Veränderung der militärischen Ordnung zum Ende unseres Jahrhunderts vor Augen führt.

So wie die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki seinerzeit einen Epochenwandel des Krieges bedeutet hatten, steht der mit Sprengstoff beladene Lieferwagen vor dem World Trade Center in New York auf seine Weise für den Wandel des Terrorismus.

Das durch den “Fall der Berliner Mauer” und insbesondere den Golfkrieg eingeleitete Ende des Zeitalters der atomaren Abschreckung zeigt heute mit dem Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien, aber auch mit dem glücklicherweise gescheiterten Versuch, das New Yorker World Trade Center in die Luft zu sprengen, sein wahres Gesicht.

Die Feinde der Politik des Westens, haben sich, angeregt von einer mangelnden Klarheit der amerikanischen Außenpolitik und vor allem von der Ungewißheit, welche Linie der junge Präsident Clinton einschlagen wird – tendiert er eher zu einer Politik im Sinne Kennedys oder Carters? –, in eine gefährliche Schleife der Gewalt begeben und fordern den Gegner heraus! Viel zu lange ist nicht genügend berücksichtigt worden, daß die Politik der militärischen Einmischung schon lange vor den jüngsten Entscheidungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und deren “humanitärer” Dimensionen existierte. Schon seit langem hat die “Kanonenbootpolitik” des Kolonialismus früherer Tage ihre Fortsetzung in terroristischen Unternehmungen, in aktiven Interventionen von Kommandos, die mehr oder weniger von bestimmten Staaten kontrolliert worden sind, oder in der entstehenden Macht des Narkokapitalismus gefunden.

Die Bombe von New York ist also nichts anderes als die extreme Ausprägung einer Form des militärisch-politischen Handelns, das einerseits auf einer beschränkten Zahl von Tätern gründet und dem andererseits eine bestimmte Medienpräsenz sicher ist. Wenn wir nicht acht geben, ist es ohne weiteres vorstellbar, daß eines Tages ein einziger Mensch eine genauso große Katastrophe zu verursachen imstande ist, für die es früher eines Luft- oder Seegeschwaders bedurfte.

Die Miniaturisierung der Sprengladungen sowie die chemischen Fortschritte bei der Zündung der Sprengstoffe schaffen seit kurzem in der Tat die Voraussetzungen für die Aufstellung einer früher unvorstellbaren Gleichung: EIN MENSCH – EIN TOTALER KRIEG.

In dem Moment, wo die Vereinten Nationen für Kriegsverbrecher wieder eine Art Nürnberger Kriegsverbrechertribunal einrichten möchten, wäre es genauso dringend notwendig, jede Form der terroristischen Praxis, unabhängig von ihrer Herkunft, streng zu ahnden. Andernfalls werden wir machtlos mit ansehen müssen, wie es auf einmal immer häufiger zu solchen zwar “ökonomischen” Unternehmungen kommt, die gleichwohl nicht nur den unschuldigen Opfern, sondern auch der Demokratie erheblichen Schaden zufügen können.

Nach dem Zeitalter des Gleichgewichts des Schreckens , das ungefähr vierzig Jahre lang dauerte, hat jetzt das Zeitalter seines Ungleichgewichts begonnen.

Der historische Anschlag auf das World Trade Center kennzeichnet seinen Anfang. Auch die Sorge um eine Verängstigung der Bewohner der großen Metropolen vermag die Dimension dieser verbrecherischen Tat, die einem wahrhaften BIG BANG gleichkommt, nicht zu verbergen. Angesichts der Tatsache, daß die verantwortlichen Staaten bzw. einige mehr oder weniger zu kontrollierende Organisationen einen Anschlag durchführen konnten, bei dem eines der höchsten Gebäude der Erde, auch auf die Gefahr hin, 20.000 oder 30.000 Menschen zu töten, in die Luft gesprengt werden sollte, um ihren Ansichten oder ihrem persönlichen Widerspruch Gehör zu verschaffen, ist es tatsächlich vollkommen überflüssig geworden, noch länger auf die ersten Hinweise eines “atomaren Terrorismus” zu warten. In einer Zeit, in der die amerikanischen Medien die Einführung eines Military Channel vorbereiten, d.h. eines Fernsehkanals, der 24 Stunden am Tag Dokumentationen oder Serien über den Krieg, Waffen und Sprengstoffe ausstrahlen soll, ist es notwendiger denn je geworden, sich wirksam dagegen zu schützen.

Nach dem Anschlag in New York am 2. Februar sollten am 13. März 1993 in Bombay und vier Tage später in Kalkutta weitere Bomben explodieren, deren Ziel es war, die Börse von Indiens Wirtschaftszentrum und drei Gebäude im unweit vom Zentrum der ehemaligen Kolonialhauptstadt des Landes entfernt liegenden Geschäftsviertel Bow-Bazar zu zerstören.

Wenn man noch den jüngsten IRA-Anschlag in der City von London mit berücksichtigt, dann läßt sich feststellen, daß wir es mit einer großangelegten Offensive des Terrorismus zu tun haben. Auch wenn diese Anschläge offensichtlich unterschiedliche Ursachen haben und mit ihnen unterschiedliche Ziele verfolgt wurden und sie zudem in Gegenden stattfanden, die in keiner ersichtlichen Beziehung zueinander stehen, läßt sich doch die schwarze Serie, die gegenwärtig die großen strategischen Zentren der Welt trifft, nicht von der Hand weisen.

Es dürfte allgemein bekannt sein, daß in den Vereinigten Staaten das World Trade Center eines der wichtigsten Telekommunikationszentren für die Wirtschaft des Landes ist, und gleiches gilt für die Börse von Bombay oder die City von London. Auch Bow-Bazar in Kalkutta ist eines der indischen Handelszentren. 300 Tote und fast 1.000 Schwerverletzte in Bombay, 50 Tote und nahezu 100 Verletzte in Kalkutta … , und auch wenn es in New York nur fünf Tote und etwas mehr als zehn Schwerverletzte gab, hat die terroristische Dimension dieser Anschläge nichts mehr gemeinsam mit der politischen “Kleinkriminalität” der letzten Jahre. Die Attentäter wollen nicht mehr nur “die Bomben sprechen lassen”, sondern sie verfolgen die Absicht, die wichtigsten Städte des großen Weltmarktes zu verwüsten.

Wir sind nunmehr mit einem Modell des “schweren Terrorismus” konfrontiert, und genauso wie man heute hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit im Gegensatz zur Kleinkriminalität von “Schwerkriminalität” spricht, müssen wir uns daran gewöhnen, zwischen dem “unerheblichen Terrorismus” des Zeitalters der atomaren Abschreckung und demjenigen Terrorismus zu unterscheiden, der mit dem Ende des Kalten Krieges das Zeitalter des atomaren Auswuchses eröffnet.

Gleichwohl müssen wir nochmals auf die neueste Entwicklung der Waffensysteme zu sprechen kommen, um eine nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Veränderung angemessen zu interpretieren. Seit den neunziger Jahren und dem Golfkrieg konnten wir die zunehmende strategische Bedeutung der “Kommunikationswaffen” auf Kosten des althergebrachten Übergewichts der “Vernichtungs- und Abwehrwaffen”, anders gesagt, des Duells zwischen Waffe und Rüstung beobachten.

Nach der Boden-, der See- und der Luftfront erleben wir nun wahrhaftig die schrittweise Errichtung einer vierten Front, und zwar derjenigen der Informationsmacht.

Wir sollten nicht vergessen, daß der internationale Terrorismus unlöslich mit dieser Medienfront verknüpft ist und daß die Anschläge nur aufgrund der Fernsehpräsenz, die ihnen unweigerlich zugestanden wird, einen politischen Sinn und Wert haben. Da das “Telegenie” der Greueltaten permanent irgendwelche Nachahmer auf den Plan ruft, haben sich Länder wie die Sowjetunion oder Italien dazu entschlossen, Berichte über terroristische Anschläge und ihre Folgen zu zensieren …

Wenn es dank der Miniaturisierung von Vernichtungswaffen möglich geworden ist, daß ein einzelner Mensch oder ein kleines Kommando einen Schaden verursacht, der genauso groß ist wie derjenige einer großangelegten militärischen Aktion, dann versteht es sich geradezu von selbst, daß an die Stelle des früher von ganzen Armeen geführten Massenvernichtungskrieges in Zukunft ein einzelner “Massenmörder” tritt, der den Einfluß der Massenmedien nutzt, um einen größtmöglichen Druck auf die internationale öffentliche Meinung auszuüben.

An dieser Stelle muß jedoch angemerkt werden, daß die plötzliche Zunahme des “molekularen” Schreckens – bis es dann zu derjenigen des “atomaren” Schreckens kommt – der herkömmlichen Sprengstoffe mit einer zunehmenden Verelendung des Krieges einhergeht. Wir kehren zu den kriegerischen Auseinandersetzungen des 15. Jahrhunderts zurück, zu den Condottieri und den großen Räuberregimenten, die im Zeitalter der Privatfehden die europäischen Landstriche ausplünderten. Es bedarf schließlich nur einer kleinen Menge Geld und eines großen religiösen oder wie auch immer gearteten Charismas, um sich innerhalb kurzer Zeit mit einer “paramilitärischen” Mörderbande zu umgeben.

Dieses Phänomen ist heute sowohl auf dem Balkan als auch in Medellin oder im goldenen Drogendreieck von Birma zu beobachten, ganz zu schweigen von den Mafias in Rußland und andernorts.

Abschließend möchte ich noch anmerken, daß der Anschlag auf das World Trade Center auf sehr geschickte Art und Weise die Verbindung hergestellt hat zwischen einer ausgesprochen symbolischen Dimension einerseits und einer realen urbanen Zerstörungskraft andererseits, die sich dadurch auszeichnet, daß schon ein paar wenige Täter und der Einsatz eines kleinen Lieferwagens genügen, um Schrecken zu verbreiten. Man muß zugeben, daß es sich im Zeitalter von Cruise Missiles und technisch hochentwickelten Trägerraketen mit Atomsprengköpfen hierbei um ein bemerkenswertes Beispiel politischer Ökonomie handelt!
30. März 1993

*Zwei Auszüge aus: Paul Virilio, Ereignislandschaft (aus dem Französischen von Bernd Wilczek),©1998 edition
Akzente im Carl Hanser Verlag, München-Wien.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages


(1)
So lautet der Titel des zweiten Kapitels von Virilio, Paul: Die Eroberung des Körpers. Hanser, München 1994zurück