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Strategien eines radikalen Medienpragmatismus
für techno-soziale Bewegungen

'Geert Lovink Geert Lovink

Die Architektur der globalen Ökonomie geht Hand in Hand mit der Entwicklung eines Netzwerkes der medialen Globalisierung. Dementsprechend ist auch der Aufstieg eines globalen Medienmarktes in den späten 80er Jahren erfolgt. Die neuen Missionare des Kapitals erkannten zunehmend die Bedeutung einer globalen Medienkultur für den liberalen ökonomischen Markt. Globale Telekommunikationssysteme und das weltweite Internet dienen daher nicht den bisherigen kulturellen und aufklärerischen Zwecken öffentlicher Medienanstalten. Umso wichtiger wird es sein, über die sozialen Konstruktionsmechanismen von Medien und die medialen Konstruktionsmechanism von Sozietät informiert zu sein. Daher sind Medienkritik und Gesellschaftskritik nicht mehr von einander zu trennen.

Peter Weibel
Vor kurzem fand ich in einem Secondhand-Buchladen in Amsterdam das 1970 erschienene Buch The Information War des amerikanischen Journalisten Dale Minor. Unter diesem Begriff versteht Minor den “selten physischen, aber oft erbitterten Konflikt zwischen Reportern und Regierungsbeamten”, die in Vietnam im Einsatz waren. Noch genauer gesagt ist der Zusammenstoß zwischen Journalisten und Behörden für ihn Teil eines umfassenderen und tiefergehenden Konflikts “zwischen dem demokratischen Imperativ, der Öffentlichkeit nichts vorzuenthalten, und jenen Kräften und Tendenzen, welche daran arbeiten, die für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen einzuschränken, zu kontrollieren und zu manipulieren.” Die “Massenmedien” – die heute in den Theorien über Information Warfare eine maßgebliche Rolle spielen – weist er einfach von der Hand, denn seiner Ansicht nach haben sie nur in den wenigsten Fällen irgendetwas mit dem Zusammentragen von Nachrichten und mit Berichterstattung zu tun. Er verurteilt diese Medien nicht wegen ihres Top-down/One-to-many-Modells als solches, sondern vielmehr wegen des Fehlens kritischer Inhalte. Für Minor ist die “Presse” mehr als die Summe ihrer Teile, sie verkörpert eine Idee: “Die Institution der Presse ist das Zentralnervensystem der Demokratie.”

Heute, in den späten neunziger Jahren, klingt eine derartige Formulierung schon relativ hohl. Die “Medien”, denen Minor so kritisch gegenüberstand, haben das Konzept der “Presse” als organisierendes Prinzip gänzlich beiseite gedrängt und mit ihm jeden Imperativ der Zentralität und der Verantwortung. Dementsprechend hat sich auch die Zensur, mit der Minors Presse noch konfrontiert war, verändert: Zensur als solche mag in Diktaturen existieren, anderswo aber gehören ihre Folgen genaugenommen zum Geschäftsalltag. Sicher, gelegentlich werden Journalisten ermordet, aber im allgemeinen haben sich die Medien weltweit in ein Infotainment-Geschäft verwandelt. Für die Generationen, die nicht mehr miterlebt haben, wie während der Vietnam-Ära um mediale Offenheit gerungen wurde, mag die Vorstellung von einer inneren Beziehung zwischen Medien und Demokratie eigenartig wirken – ja, sogar neu.

Für inhaltsbezogene Arbeiten von Künstlern, Aktivisten und Journalisten wird das zu einem immer größeren Problem. Die Informationsindustrie braucht Berichte (und vor allem Bildmaterial), aber die Vorstellung, was einen herausragenden Bericht ausmacht, hat sich im Zuge des Kommodifizierungprozesses und des technischen/redaktionellen Wandels dramatisch verändert. Seit der technische Fortschritt “hochaktuelle” Reportagen, Live-Berichterstattung und Filmsequenzen “aus dem täglichen Leben” möglich gemacht hat, haben sich Aufgabe und Form der Synthese verlagert; die synthetische, systematische Analyse – vormals Daseinszweck der Presse schlechthin – ist heute Aufgabe des mit Informationen übersättigten Zusehers, und die Ethik – vormals treibende Kraft – ist nur noch eine Frage des Einhaltens von Spielregeln. Je mehr Nachrichten, umso mehr Gleichgültigkeit. Für uns ist Information zur neo-natürlichen Umgebung geworden. Datenwolken jagen über den Himmel; manchmal machen sie uns Angst, aber meistens passen wir uns an dieses seltsame neue Wetter an.

So sieht die unerträgliche Leichtigkeit des explodierenden Medienuniversums aus: mehr Kanäle, weniger Inhalt, weniger Wirkung. Der digitale Urknall droht allen Sinn zu zertrümmern (oder “zu befreien”), jeden Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit aus den Sendefrequenzen und -gebieten hinauszudrängen. Das zumindest ist die tagtägliche Sorge einer – wahrscheinlich immer kleiner werdenden – Gruppe von Personen, die in den “Medien” mehr sehen als einen Job, bei dem die Daten anderer Leute verarbeitet werden. Aber durch diesen Datensmog und EDV-Nebel wurden die Lektionen des Kalten Kriegs gelernt und verallgemeinert; durch den Dunstschleier der Medien sehen wir vage Umrisse und Spuren einer unsichtbaren psychologischen Kriegsführung, ohne klare Fronten, mit einigen Low-Intensity-Konflikten an der Peripherie. Der Informationskrieg schließt die Unterscheidung zwischen Freund und Feind aus, welche nach Carl Schmitt die Grundlage jeglicher Politik bildet. Wir aber sollten uns fragen, wie lange das so weitergehen wird. Wann werden die Schutzschilde von Baudrillards “schweigender Mehrheit” nachgeben, wann wird es zum allgemeinen Aufstand gegen den organisierten Schund kommen? Die moderne Gleichgültigkeit gegenüber dem Populären kann man als Ergebnis einer spezifischen historischen Konstellation (Konsumdenken, Demokratisierung) interpretieren. Sie ist nicht der “natürliche Zustand” der Massen. “Rage against the machine” wird letztendlich die Mächte hinter der Desinformation zerstören, keine Frage. Wollen wir also einfach abwarten und darauf spekulieren, daß die wachsende Entfremdung sich letztendlich in eine friedliche Implosion der Medien entwickelt? Sollten wir jetzt, 1998, auf die Wiederkehr von “1989” warten? Dieses Szenario wird sich wohl nicht wiederholen.

Also suchen wir besser nach Mustern und Konzepten, die den Aufstieg potentiell tragfähiger techno-sozialer Bewegungen verstärken und verkörpern. Zu diesem Anlaß möchte ich einen Bezugsrahmen für eine radikale pragmatische Koalition intellektueller und künstlerischer Kräfte formulieren – Kräfte, die bislang in verschiedene Richtungen gearbeitet haben. Die Zeit ist reif für einen Dialog und eine Konfrontation zwischen Medienaktivisten, Vertretern der elektronischen Kunst, Kulturwissenschaftlern, Designern und Programmierern, Medientheoretikern, Journalisten und all jenen, die in der Modebranche, Pop-Kultur, bildenden Kunst, am Theater und in der Architektur tätig sind. All diese Branchen, Diskurse und Traditionen sind nun demselben Digitalisierungsprozeß unterworfen. Vorteile und Probleme der Computer-Vernetzung und Medialisierung sind je nach Branche verschieden, aber ihre Integration in die mediale “Synergie” ist überall erkennbar. Sogar die Skeptiker von gestern (im wahrsten Sinn des Wortes “von gestern”) sind jetzt online – und umgekehrt beginnen nun die “frühen Anwender” in der allgemeinen Computerisierung noch neuere, noch subtilere Bedrohungen zu erkennen.

Es ist an der Zeit, die derzeit herrschenden “Kulturkriege” zwischen Disziplinen, Plattformen und Generationen zu überwinden. Das bedeutet nicht, eine politische Partei oder eine vereinheitlichende Ideologie einzuführen – beides brauchen wir nicht, und tatsächlich wären solche Bemühungen aller Wahrscheinlichkeit nach kontraproduktiv. Wir können uns auf etwas Praktischeres einigen: Gegenseitiges Verständnis sowie Koordination der verschiedenen Ausdrucksformen würde an sich schon einen großen Schritt – oder viele, viele kleine Schritte – darstellen. Für die Zwecke des Informationskriegs bedeutet das neue Gruppierungen, neuen Austausch: zwischen Künstlern und Technikern, die angestrengt daran arbeiten, Prinzipien für interaktives Design zu formulieren, einerseits, und den Kritikern der alten Schule, die den Inhalt der Massenmedien bemängeln, andererseits. Früher war das Internet “neu”, während die Medien, die man als “alt” zu bezeichnen begann – die Massenpropaganda -, dem Establishment dienten. Aber die Situation hat sich vor unseren Augen umgkehrt: Mit dem Aufstieg der “Push”-Medien, mit der “Digitalen Revolution” von Informationsgiganten wie Time Warner, News Corp. und Bertelsmann und dem nahezu allumfassenden Monopol von Microsoft und WorldCom ist dieser mutmaßliche Gegensatz zwischen alten und neuen Medien bestenfalls fragwürdig.

Wir brauchen weder Netz-Idealisten noch Maschinenstürmer. Wie Michael Heim in seinem Buch Virtual Realism betont:
Der Maschinenstürmer läuft nicht mehr synchron mit den starken menschlichen Energien, die sich seit drei Jahrhunderten für die Vernunft einsetzen und nun ins nächste Jahrtausend hinüberstrahlen. Der Idealist wiederum fällt auf einen Fortschritt herein, der inhaltslose Instrumente und Produktivität ohne körperliche Disziplin hervorbringt.
Heims Anleitungen zur Bewältigung der Gegenreaktion auf den Cyberspace können in diesem Kontext vonnutzen sein (auch wenn streng genommen die virtuelle Realität [VR] sein Thema ist). So unterscheidet er z. B. zwischen Virtualität im engeren und im weiteren, populären Sinne und warnt davor, daß “schlampige Semantik falsche Panik und Verwirrung erzeugt.” Andererseits könne rigorose oder methodische Kritik mithelfen, die destruktiven Mythologien, derer sich beide Seiten bedienen, aus dem Weg zu räumen. Und er gibt uns noch einen weiteren nützlichen Rat: Wir sollten leichtfertige Übertreibungen wie “Jetzt sind wir alle Cyborgs” oder “Alles ist virtuelle Realität” vermeiden, die monolithische Angst vor einem alles durchdringenden Technologiemonster zurückweisen, wir sollten nicht vorgeben, die erste Welt zu repräsentieren, und genau auf die Schnittpunkte von VR und realen Anwendungen achten. “Künstliche Welten als Ablenkungen zu verurteilen ist genauso abwegig wie der Wunsch, die erste Welt im Cyberspace aufzulösen.” Laut Heim wird Realismus in der VR durch pragmatisches Bewohnen, Bewohnbarkeit und Verweilen entstehen. “Der Eintritt unserer Gesellschaft in den Cyberspace ist genauso wichtig wie die technische Forschung.” Mag sein, daß es schon genug von diesen sanften New-Age-Predigten gibt. Aber die vormals “linken” Kräfte, die sich dem Neoliberalismus und dem globalen Kapitalismus widersetzen, können bestimmt ein bißchen “Besänftigung” und Harmonie gebrauchen, wenn sie Babylon besiegen möchten. In letzter Zeit – seit Mitte der achtziger Jahre – ist es im Westen aus der Mode gekommen, von “Propaganda” und “Medienmanipulation” zu sprechen. Die “Produktion von Einverständnis” (ein Begriff, den Noam Chomsky von Walter Lippmann übernimmt) ist zu einem abstrakten, unsichtbaren Vorgang geworden, ohne erkennbare Agenten oder deren Kritiker. Es gibt immer weniger gesellschaftliche Bewegungen und Organisationen, die “der Presse auf die Finger klopfen”. Die Symbiose zwischen Enthüllungsjournalismus, alternativer Presse und den echten Intellektuellen im Staat oder in den politischen Parteien wird von Tag zu Tag lockerer und wird sich bald völlig auflösen. Initiativen an der Basis haben sich in Gruppen von Ngo-Netzen zersplittert, während sie zugleich in ihrer Orientierung immer professioneller und in den Medien immer sichtbarer werden. Die Gegeninformation, die sowohl die Politik der Großkonzerne als auch der Regierungen herausfordern würde, ist noch nicht ganz von der Bildfläche verschwunden, geht aber rasch ihrer Instrumente und Botschafter verlustig. Das kann man deutlich daran erkennen, daß die Zahl alternativer Buchläden, Verleihfirmen sowie alternativer Buch- und Zeitschriftenverlage mehr und mehr abnimmt. Neuere Medien – Video, Lokalradio, Public-Access-Kanäle und Internet – konnten die Krise der alternativen Öffentlichkeit bisher nicht kompensieren, was zum Teil auch daran liegt, daß es den Aktivisten bis dato nicht gelungen ist, diese Technologien in gewohnter Weise als “Medien” zu erfassen.

Andererseits jedoch haben die Aktivisten begonnen, den Viruscharakter von Information zu erfassen. So läßt sich etwa im Laufe der Zeit das Image multinationaler Konzerne unterminieren, indem man in kleinen Dosen Do-it-yourself-Recherchen in Umlauf setzt; großangelegte Demonstrationen, Boykotte, Blockaden – allesamt organisatorische Alpträume – sind nicht mehr notwendig. Hinter diesem Übergang von Massen- und Klassenphänomenen hin zu Bemühungen in kleinerem Maßstab liegt eine historische Logik: Es schadet nie, korrekte, berechtigte, klare Argumente, wie man sie aus den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts kennt, zur Verfügung zu haben, aber das allein reicht nicht aus. Man braucht erst gar nicht diese Flut von Bildern, Ideen und Argumenten: ein kleiner negativer Info-Virus kann ebenso verheerende Auswirkungen haben wie die Firmen, die immer stärker von “Public Relations” abhängig sind.

Diese strategische Verlagerung von den Straßen in subtilere, weniger eindeutige Räume – u. a. in den Cyberspace – hat das Critical Art Ensemble im Rahmen von “Electronic Civil Disobedience and Other Unpopular Ideas” untersucht.
Wie die Macht muß sich auch der Widerstand von der Straße zurückziehen. Der Cyberspace muß erst als Standort und Instrument des Widerstandes realisiert werden. Nun ist es an der Zeit, ein neues Modell der Widerstandspraxis zum Einsatz zu bringen.
Die politisch-kollektive Identität “Luther Blissett” stellt eine solche Form der kulturellen Sabotage bzw. des “semiotischen Terrorismus” dar. Die Autonome Gruppe a.f.r.i.k.a. aus Deutschland hat diese Strategien in einem Handbuch der “Kommunikationsguerilla” zusammengefaßt – sie reichen von Klassikern wie fingierten Briefen und dem Bewerfen mit Torten bis zu ironischen Unterstützungserklärungen und “Kampagnen zur Imagezerstörung”.

Politisierte Computerhacker tauchen in solchen Geschichten immer wieder auf, aber noch stellen sie eine schwer faßbare Gattung dar, deren Potential großteils im Reich der Spekulation und Science-fiction liegt. Die informationsgestützte Gegenstrategie des Guerillakrieges hat in den letzten Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Es gab Versuche, sie in Deleuze’sche Strömungen zu integrieren, und im Bereich der Popkultur und der bildenden Künste (im Neoismus) konnte sie definitiv Fuß fassen. Aber zum Teil waren dies nur künstliche Konstrukte, die den Verlust lebendiger sozialer Bewegungen kompensieren sollten. Blitzaktionen müssen von der Masse getragen werden, um zu funktionieren; ohne Kontext sind diese semiotischen Sabotagen nichts weiter als Überlebenstaktiken, mit denen kleine Gruppen lange Perioden der Langeweile und Richtungslosigkeit überbrücken. Bis dann plötzlich etwas passiert: ein Rave, ein plötzlicher Arbeitslosenaufstand, eine Kundgebung gegen den wachsenden Faschismus, Straßenbauvorhaben, Atomtransporte, Europolitik, Flughäfen, soziale Ausgrenzung, Einwanderungsgesetze, eine Boykottaktion gegen Hennes & Mauritz, die Räumung eines besetzten Hauses. All diese Dinge kommen vor. Für die meisten von uns sind diese Formen des Widerstandes jedoch unsichtbar und daher inexistent. Wir sehen höchstens ein Bild von ein paar durch ihre Kleidung als Post-Punks/Neo-Hippies definierten Jugendlichen, die gegen die bereits geschwächte Infrastruktur randalieren; und wir sehen diese Bilder normalerweise in einem Kontext, der Forderungen nach mehr “Kontrolle” Raum gibt.

Das ist die Falle der Identitätspolitik. Einige Stränge dieses Protests führten in die Gänge und Büros unsichtbarer Abteilungen im NGO-Netzwerk; andere Stränge führten in die Straßen der Städte, wo einige “Splittergruppen” sich in Schale warfen und Teil der Modeszene wurden. In beiden Fällen handelt es sich nicht um “Meme”, welche sich auf klare und eindeutige Weise vermehren.

Die Diversifikation der Oppositionspolitik hat nicht zu einer “Regenbogenkoalition” geführt. Im Gegenteil, sie regte zu gegenseitigem Mißtrauen an und wurde selbst durch gegenseitiges Mißtrauen angeregt: “Wer ist der Verräter?” “Wer hat sich was angeeignet? Wer ist schuld?” “Wer ist auf unserer Seite und wer nicht? Wer gehört zu unserem Kreis und wer nicht?” In diesem paranoischen PC-System ist es nahezu unmöglich geworden, mit Journalisten und anderen Medienprofis im Fluge oder in temporärer Koalition zusammenzuarbeiten. Es hat sich herausgestellt, daß sie “auf der anderen Seite” stehen und nicht mehr die Vermittler sind, die sie einmal waren. Dieser Wandel, dieser Mechanismus wird in Adilknos Cracking the Movement beschrieben, wo es um Aufstieg und Fall der Amsterdamer Hausbesetzerbewegung und die Änderungen in ihrer Medientaktik geht. Aber die daraus resultierende “medienfeindliche” Haltung, die durch die Lügen des Golfkrieges erst die richtige Sprengkraft erhielt, hat keinesfalls zu einem tieferen Verständnis für den “Datenentzug” (Herbert Schiller) geführt. Auch jüngere Alternativen – etwa die radikale “Netzkritik” der Nettime Mailing List (seit 1995) – konnten diese Situation nicht korrigieren. Über die Diversifikation hinaus erheben sich jene Stimmen, die vor Ammenmärchen und Diagrammen nur so strotzen: wissenschaftliche Experten, Künstler und “Visionäre”, die noch immer den Untergang des Top-down-Fernsehens vorhersagen (wie George Gilder in Life after Television).

Was wir brauchen, sind autonome Forschungskollektive, die die sozialen, wirtschaftlichen und sogar ökologischen Aspekte des IT- (Informationstechnologie) Geschäfts kritisch untersuchen (gelobt seien Adbusters!). Der militärisch-industrielle Komplex, die multinationalen Nuklear- und Chemiekonzerne und in letzter Zeit vermehrt auch die Bekleidungsindustrie – sie alle sehen sich einer hochentwickelten Opposition gegenüber, ehemaligen Aktivisten, die nun einen “Informationskrieg” führen. Nicht aber das IT-Geschäft. Um diese Netzwerke und Kollektive aufzubauen, um diese Anstrengungen zu unternehmen, müssen wir auf klassische Autoren wie Noam Chomsky, Herbert Schiller oder Edward Herman zurückgreifen – auf die entscheidenden Werke, die sich mit dem manipulativen Aspekt der globalen Medien auseinandersetzen. Für sie ist der “Informationskrieg” nicht an die neuesten Militärstrategien geknüpft; er besteht vielmehr in der Fähigkeit der herrschenden Klasse, mediale Kanäle ideologisch zu dominieren und zu manipulieren, um die Weltmärkte zu beherrschen. Ihre Verbindung zum Pentagon ist nicht technischer Natur.

Das soll nicht heißen, daß diese notwendigen Untersuchungen eine simple Angelegenheit sein werden oder daß diese grundlegenden Fragen nicht zutreffen (werden). Nehmen wir die Arbeiten von Friedrich Kittler und seiner Schule, die in ihren Untersuchungen den “militärischen Determinismus” in der Mediengeschichte hervorheben und die Vorrangstellung der US-Außenpolitik über die globalen Medien betonen. Von diesem Standpunkt aus passen technologische Entwicklungen in die Strategie eines von den USA dominierten westlichen Imperialismus. Man sollte darauf hinweisen, daß die Schulen Chomskys und Kittlers in ihren Analysen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen, obwohl sich beide auf US-Angelegenheiten vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrieren. Dennoch sollten wir uns nicht zu sehr mit diesen alten Debatten aufhalten, denn es ist relativ klar, daß die Medien, und insbesondere ihre technologischen Bereiche, noch tief im Kalten Krieg verwurzelt sind. Und das gilt auch für jene, die sie kritisieren. “1989” hatte keinen großen Einfluß auf den Diskurs dieser Denkergeneration; vielleicht hat sich der Fall der Berliner Mauer auf mögliche Massenmanipulationspraktiken im Zuge des Informationskrieges nur dahingehend ausgewirkt, daß neue Betätigungsfelder und ein neues “Publikum” erschlossen wurden.

Ein aktuelles Beispiel Chomsky’scher Kritik am Populärjournalismus liefert der australisch-britische Korrespondent John Pilger in Hidden Agendas. Er beschreibt Tony Blairs “Verrat” an der Labour-Regierung und die ständigen Angriffe auf die Unterschicht, den jüngsten Gegenschlag gegen die australischen Aborigines, gigantische Waffengeschäfte mit Indonesien, Burma und dem Irak (auch unter Blair), die brutale, aber versteckte Unterdrückung in Ost-Timor, die “unsichtbaren” Bombenangriffe während des Golfkriegs. Pilgers Stil ist leicht zugänglich – moralistisch, aber nicht nörglerisch. Er ist bei weitem nicht akademisch oder gar “subversiv”, greift aber die Nachrichtenindustrie von innen heraus an – von der Branche aus, aus der er kommt und in der er noch immer arbeitet, nämlich der Produktion von Dokumentarfilmen. Für Pilger ist “Manipulation” kein abstraktes Wort; er besucht die Opfer der englischen Boulevard-Presse wie die streikenden Dockarbeiter in Liverpool usw. Zur Beschreibung der hier verbreiteten Desinformation verwendet er den Begriff “kulturelles Tschernobyl” – newzak, wie Bob Franklin es analog zu muzak nennt.

Pilger zitiert hier George Orwell, der beschreibt, wie die Zensur in freien Gesellschaften unendlich raffinierter und gründlicher ist, weil “unbeliebte Ideen zum Schweigen gebracht und unbequeme Fakten geheimgehalten werden können, ohne daß ein offizielles Verbot nötig ist.”

Für Pilger gibt es nur eine Strategie: deutlich seine Meinung sagen. Er nennt keine Alternativmodelle für regimekritischen Medienaktivismus. Das Internet ist keine ernsthafte Option für Enthüllungsreporter und Kritiker vom Kaliber eines Chomsky, die es (trotz ihrer radikalen Kritik) gewohnt sind, auf “Medien für die Millionen” im herkömmlichen Stil zuzugreifen. Pilger schreibt: “Technologie und die Illusion einer ‘Informationsgesellschaft’ heißt, daß immer weniger Konglomerate immer mehr Medien besitzen. […] Trotz all seiner Vielfalt und seines Potentials ist das Internet im wesentlichen eine Anwendung für die Elite, da die meisten Menschen auf der Welt kein Telefon besitzen, geschweige denn einen Computer.” Das ist ein Klischee, wie es viele aus seiner Generation verwenden, die den Kampf um die Kommunikationsbedingungen künftiger Generationen nicht sehen können oder wollen – einen Kampf um gleiche Bandbreite, öffentlichen Zugang und um Inhalte, die nicht von Großkonzernen oder Regierungen kontrolliert werden. Pilger und viele, die so denken wie er, sollten auf die “Nachfolgergeneration” achten (ein Begriff, den die “Atlantiker” verwenden, um die Diskrepanz zwischen der alten Elite Großbritanniens und der Vereinigten Staaten einerseits und dem neuen Clinton-Blair-Modell andererseits zu überbrücken). Pilger zitiert Edward Said: “Die neue Elektronik des späten 20. Jahrhunderts könnte eine größere Bedrohung für die Unabhängigkeit darstellen als der Kolonialismus. Die neuen Medien sind stark genug, um tiefer in ,Empfänger,-Kulturen einzudringen, als es bisher irgendeiner Erscheinungsform der westlichen Technologie möglich war.” Es ist verblüffend, wie die Möglichkeit zurückzureden systematisch nicht erwähnt wird. Die Geschichte wird ihr Urteil fällen, soviel ist sicher – aber nicht, bevor wir zumindest versucht haben, offene Plattformen, eigene Browser, interaktive Systeme und öffentliche Terminals einzurichten sowie Netzblockaden zu organisieren, um die Diktatur der Identität und die Kontrolle der Konzerne über die Medien zu untergraben.

Minor, Dale: The Information War. Hawthorn Books, New York 1970

Heim, Michael: Virtual Realism. Oxford University Press, New York/Oxford 1998

Critical Art Ensemble: Electronic Civil Disobedience. Autonomedia, Brooklyn 1996

Adilkno: Cracking the Movement. Autonomedia, Brooklyn 1994

Home, Stewart (Hg.): Mind Invaders. Serpent's Tail, London/New York 1997

Autonome a.f.r.i.k.a Gruppe: Handbuch der Kommunikationsguerilla. Hamburg 1997 (vgl.: http://www.contrast.org/KG)

Nettime. Mailingliste für Netz-Kritik, http://www.desk.nl/~nettime

John Pilger: Hidden Agendas. Vintage, London 1998

Schiller, Herbert I.: Information Inequality. Routledge, New York/London 1996