Der Volksinformationskrieg
'Wei Jincheng
Wei Jincheng
Die Menschheit steht an der Schwelle zur Informationsgesellschaft. Digitalfernsehen, extrem schnelle Computer, Virtual Reality, DVD, Satellitentelefonie, Fax – das sind einige der materiellen Errungenschaften, die wir den Informationstechnologien verdanken und die uns das Leben angenehmer machen. Aber bereits Laozi (ein früher chinesischer politischer Philosoph und Verfasser des Daodejing) hat geschrieben, daß “das Unglück auf das Glück lauert”. Mit den Veränderungen, die die Informationstechnologien der Gesellschaft aufzwingen, kommt auch eine neue Form der Kriegsführung auf die Menschheit zu – der Informationskrieg, der seinerseits zu revolutionären Veränderungen im militärischen Bereich führt. Wollen wir die Tragweite dieser umwälzenden Veränderungen verstehen, müssen wir uns sowohl mit der Transformation der Art und Weise, wie Kriege geführt werden, als auch mit dem Wesen des Krieges an sich auseinandersetzen und einen neuen Begriff entwickeln, nämlich den Begriff des Volksinformationskrieges, denn sonst können wir nicht verstehen, in welchen Bereichen diese Revolution genau stattfindet.DER VOLKSINFORMATIONSKRIEG – EIN KIND DER ZEIT Warum müssen wir uns über die Probleme unserer Epoche klar werden? Weil die jeweilige Epoche unseren geistigen Standpunkt formt und den Ausgangspunkt bildet, von dem aus wir die Probleme erforschen und bewältigen. Ein Schiff, das auf hoher See unterwegs ist, muß seine Position genau bestimmen, damit es überhaupt feststellen kann, wohin es fährt, und Abweichungen vom Kurs korrigieren kann. Die Titanic ist nur deswegen mit einem Eisberg kollidiert, weil das Schiff von seinem Kurs abgekommen ist. Das ist nur ein – tragisches – Beispiel in der Geschichte. Stimmt der Kurs oder kann eine Abweichung rechtzeitig korrigiert werden, so wird ein derart unglückliches Ereignis, bei dem so viele Menschen sterben müssen, erst gar nicht passieren. Im Moment befindet sich die Welt im Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft; die in hohem Maße mechanisierte und zentralisierte Produktion wird ersetzt durch eine dezentralisierte, flexible Produktion, und die materiell orientierte Industrietechnik geht langsam in eine Technologie zur Lenkung von Informationsströmen über. Eine derartige Veränderung auf technologischer Ebene ist irreversibel. Angesichts dieser Irreversibilität kann die Menschheit gar nicht anders, als sich in Richtung Informationszeitalter entwickeln.
In welchem Zeitalter leben wir aber nun eigentlich? Meine persönliche Meinung ist, daß die im Moment beginnende Entwicklung in zwei Phasen unterteilt werden muß: in eine erste Phase, die bereits begonnen hat und vielleicht die kommenden zehn bis 20 Jahre oder unter Umständen auch die nächsten Jahrzehnte umfaßt, und in die eigentliche “Zukunft”. Die Zukunft ist sicher das Informationszeitalter, die Informationsgesellschaft, daran besteht kein Zweifel. Davor jedoch müssen wir jene Phase durchlaufen, in der die Menschheit die Weichen für die Verwirklichung der eigentlichen Informationsgesellschaft stellt. In dieser Phase werden die Errungenschaften der industriellen Kultur weitestgehend informatisiert und damit die Voraussetzungen für die tatsächliche Transformation der Gesellschaft in eine Informationsgesellschaft geschaffen. Anschaulicher ausgedrückt: Diese Phase bedient sich der Technologie, des Denkens und der Methoden der Informatisierung, um die industrielle Kultur umzubauen. Diese Phase könnte man daher auch die Anfangsphase der Informationsgesellschaft oder die “Sub-Informationsgesellschaft” nennen.
Was die Gegenwart betrifft, so machen wir jetzt gerade die ersten Schritte in Richtung Informationsgesellschaft. Diesen Prozeß könnte man mit einem langen Zug vergleichen, der durch einen Tunnel fährt: Die Lokomotive ist bereits im Tunnel verschwunden, während der eigentliche Zugkörper noch weit entfernt vom Tunneleingang ist. Bis wir die totale Informationsgesellschaft verwirklicht haben, wird noch sehr viel Zeit vergehen, denn heute wird die Menschheit den Anforderungen, die eine Informationsgesellschaft stellt, noch in keinster Weise gerecht; das menschliche Denken, unser Wissen, unsere Konzepte sind noch nicht dementsprechend entwickelt, und auch die dafür notwendige materielle Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Selbst ein auf dem Weg der Informatisierung schon relativ weit fortgeschrittenes Land wie die Vereinigten Staaten verwendet z. B. noch Papiergeld parallel zum elektronischen Geld, d. h. dieser Bereich ist noch nicht vollständig digitalisiert. Regierungsangestellte oder Fabrikarbeiter müssen noch immer ihren Fuß vor die Tür setzen und zig Kilometer fahren, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Auch das soziale Leben ist noch nicht vollständig informatisiert. Selbst wenn in einem weiteren Entwicklungsschritt ein oder mehrere Staaten tatsächlich die Anforderungen einer Informationsgesellschaft erfüllen würden und damit früher als andere echte Informationsgesellschaften wären, so bliebe noch immer die Frage der Koexistenz mit anderen Staaten dieser Welt. Aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft kann sich kein Land der Welt unabhängig von anderen Staaten entwickeln oder gar überleben. Daher befindet sich die Menschheit zur Zeit im Stadium des Übergangs in Richtung Informationsgesellschaft.
Diese Phase weist einige charakteristische Merkmale auf: Erstens prallen alte und neue Konzepte aufeinander. Unser Denken ist der Wegbereiter für jedes Handeln, und ohne Veränderungen unseres Denkens können weder die existentiellen Probleme der Menschheit gelöst noch die Gefahr eines Kriegsausbruchs ausgeschaltet werden. Von der konzeptuellen Ebene aus betrachtet, kann in einer Phase des Übergangs ein grundlegender Wandel stattfinden. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob wir in einer solchen Phase überhaupt noch Panzer und Feuerwaffen benötigen und herstellen müssen. Aufgrund von unterschiedlichen Sichtweisen kann man sowohl zum Schluß kommen, daß man eine derartige Ausrüstung braucht und produzieren sollte, als auch, daß man sie nicht braucht und daher nicht produzieren sollte. Wer sagt, man brauche sie, geht davon aus, daß man in einem jetzt bzw. in naher Zukunft stattfindenden Krieg sehr wohl noch auf Panzer und Feuerwaffen angewiesen wäre. Angenommen, man würde von allen Staaten dieser Erde verlangen, ihre Panzer und Feuerwaffen zu vernichten – wahrscheinlich würde kein einziger Staat dieser Forderung nachkommen, denn dadurch wäre die nationale Sicherheit bedroht und ein Sieg in einem eventuellen Krieg unmöglich. Ist die Antwort auf die Frage jedoch nein, dann ist damit gemeint, daß man Panzer und Feuerwaffen, wie sie früher verstanden wurden, nicht mehr benötigt. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung und des rasanten technologischen Fortschritts sollten die neuen Hochtechnologien und auch die Informationstechnologie in höchst möglichem Maße für die Umgestaltung der konventionellen Panzer und Waffensysteme eingesetzt werden, die dadurch ein teilweise oder sogar völlig neues Aussehen erhielten. Es würde z. B. ihre Feuerkraft verstärkt, ihre Lebensdauer verlängert und ihr Abschreckungspotential und ihr Automatisierungsgrad erhöht. Derartige Veränderungen der Sichtweisen bilden einen Prozeß, im Zuge dessen die alten Vorstellungen den neuen weichen.
Die zweite Besonderheit dieser Phase liegt darin, daß die alten Technologien “veredelt” werden können. Da der Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft vom technologischen Fortschritt ausgelöst und vorangetrieben wird, spielen die Informationstechnologien die Rolle eines aktivierenden “Enzyms”, das dafür sorgt, daß die Lebensdauer anderer Technologien verlängert wird und die Leistungsfähigkeit der durch die Einbeziehung von Informationstechnologien entstandenen integrierten Technologien völlig neue Dimensionen erlangt. Zum Beispiel sind die amerikanischen Patriot-Raketen das Ergebnis des Zusammenspiels von Informationstechnologien mit herkömmlichen Technologien. Im allgemeinen erfolgt der technologische Fortschritt graduell und kontinuierlich, wobei in der Übergangsphase zuerst meist die neuen in die alten Technologien einfließen, bis sie sie nach und nach vollkommen ersetzen. In einem Flugzeug oder einer Werkzeugmaschine werden die unterschiedlichsten Technologien kombiniert, ständig kommen neue Elemente hinzu, wodurch die Funktion, Effizienz und das Kosten-Nutzen- Verhältnis dieser Maschine eine beträchtliche Steigerung erfahren. Daß alte und neue Technologien in einem einzigen Gegenstand nebeneinander existieren, ist also nichts Außergewöhnliches. Die alten Technologien bewahren den grundlegenden Charakter des Gegenstandes, während die neuen Technologien die Voraussetzungen für eine funktionelle Verbesserung schaffen, so daß es zu einem permanenten Upgrading kommt, bis diese Gegenstände letztlich auch eine wesenhafte Veränderung erfahren.
Das dritte Kennzeichen dieser Phase besteht in der gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung von militärischem und zivilem Bereich. Wenn man in einer Zeit, in der sich die menschliche Gesellschaft in eine Informationsgesellschaft transformiert, an der rigiden Unterscheidung zwischen militärisch genutzten und zivil genutzten Technologien festhält und künstlich zwischen Militärangehörigen und Zivilbevölkerung differenziert, dann ist das wahrlich ein Zeichen äußerster Dummheit. Wird ein Chip militärisch oder zivil genutzt? Zählt die Lasertechnologie zum militärischen oder zum zivilen Bereich? Hier ist eine Differenzierung tatsächlich fast nicht mehr möglich. Ist ein Chip in einem Jagdflugzeug eingebaut, dann wird er natürlich militärisch genutzt, befindet sich derselbe Chip jedoch in einem Passagierflugzeug, wird er zivil genutzt. Ist er Teil einer Kamera, einer digital kontrollierten Werkzeugmaschine, eines Computers oder eines anderen neutralen Gegenstands, so ist eine derartige Differenzierung noch problematischer, denn solche Gegenstände können an sich in beiden Bereichen zum Einsatz kommen. Das gleiche gilt auch für den Menschen. Einige Computerexperten, die vielleicht schon in Pension sind und die nicht einmal unbedingt beim Militär gewesen sein müssen, oder besonders begabte, in Hackermanier arbeitende Jugendliche können z. B. ihre außerordentlichen technischen Fähigkeiten rücksichtslos dazu ausnutzen, um die Computernetze ganzer Staaten lahmzulegen, um die Finanzen eines Landes ins Chaos zu stürzen oder Waffen unkontrollierbar zu machen. Archimedes hat seinerzeit gesagt: “Gebt mir einen Platz zum Stehen, und ich werde die Erde bewegen”. Heutzutage könnte er sagen: “Gebt mir einen Computer, und ich kann die Welt in die Luft jagen.” Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kommt der von der Kommunistischen Partei Chinas entwickelten Theorie des Volkskrieges und deren großartiger praktischer Umsetzung eine neue Bedeutung zu. Im Volkskrieg ist die Unterscheidung zwischen militärisch und zivil, zwischen Militärangehörigem und Zivilperson irrelevant. Auch das gesellschaftliche Leben im Informationszeitalter wird wesentlich davon geprägt sein, daß sowohl die Verwendung von Technologie als auch die Rolle des einzelnen einen immer neutraleren Charakter annehmen und die Unterscheidung zwischen militärisch und zivil verblassen wird. Unter dem Einfluß der Informationstechnologie muß sich also die Vorstellung von Krieg und von der Teilnahme am Krieg verändern. Diese Transformation mündet im Konzept des Volksinformationskrieges.DAS WESEN DES VOLKSINFORMATIONSKRIEGES Egal, als welche Kriegsform man den Informationskrieg nun einstuft, ist die Frage, welche Beziehung zwischen dem Informationskrieg und dem Volk besteht, sowohl von theoretischer als auch praktischer Bedeutung.
Der Marxismus geht davon aus, daß der Wandel der Dinge auf der Welt absolut und deren Unwandelbarkeit relativ sei; Wandel anerkennen sei eine materialistische, Wandel nicht anerkennen eine idealistische Haltung. Dies gilt auch für die Haltung gegenüber dem Krieg. Aufgrund der raschen Entwicklung der Informationstechnologie und deren Verquickung mit militärischen Zielsetzungen wird Information in einem zukünftigen Krieg nicht nur ein wesentliches Mittel in einer militärischen Konfrontation sein, sondern wird einer militärischen Auseinandersetzung auch ein völlig neues Feld eröffnen. Vergleicht man den Volkskrieg der Vergangenheit mit dem zukünftigen Volkskrieg, so kann man gravierende Veränderungen feststellen. Die Beschaffung, Verbreitung und Nutzung von Information, die Rivalität und Gegenrivalität um die Informationsvorherrschaft sowie Täuschung und Gegentäuschung in der Informationsanalyse können für die, die den Informationskrieg vorbereiten und daran teilnehmen, unerwartete Risiken bergen. Aber die bereits stattgefundenen und in Zukunft noch stattfindenden Umwälzungen bewirken – so die Hochtechnologie im Militärbereich Einzug gehalten hat – nur eine Revolution auf dem Niveau der Instrumente der Konfrontation und der Methode, am Wesen des Volkskrieges selbst ändert sich nichts.
Der Volkskrieg ist ein historisches Phänomen. Sein Wesen besteht darin, die Kraft des Menschen, des Volkes zu nutzen und dementsprechende Methoden der Kriegsführung auszuwählen, um mit einem gerechten Krieg den ungerechten Krieg auszumerzen. Die Informatisierung führt in dieser Hinsicht zu keinerlei Veränderungen im Wesen des Volkskriegs, denn auch im Informationskrieg ist der Mensch weiterhin das tragende Element, während Waffen und andere Hilfsmittel nur eine zweitrangige Stellung einnehmen. Die Richtung, in die sich der Krieg entwickelt, hängt von der Zustimmung des Volkes ab. Das Volk bleibt also auch hier die Stütze des Krieges. Aufgrund der kontinuierlichen Vertiefung der Revolution im militärischen Bereich, die erst durch die Informatisierung möglich wird, stehen dem Volk allerdings bessere, “intelligente” Werkzeuge zur Verfügung. Damit sind auch die Voraussetzungen dafür gegeben, daß das Volk am Informationskrieg teilnehmen kann, was einen Sieg beträchtlich erleichtert. Eine Theorie des Volkskrieges kommt nicht ohne die genaue Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Informationskrieges und der den Kriegsablauf bestimmenden klassischen Leitideen aus. Mit anderen Worten: Der Informationskrieg ist ein Krieg des Volkes im weitesten Sinn des Wortes, der sich, wenn die Hochtechnologie eine gewisse historische Phase erreicht hat, auf einer sehr hohen Ebene bewegt.
Der Volkskrieg als Kriegsform und theoretisches Gebäude ist unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas während der frühen Phase der chinesischen Revolution entstanden und hat da auch seine Vollendung gefunden. Er hat deutliche Spuren in der Geschichte, der politischen Kultur und den technischen Methoden hinterlassen. Mit dem Eintritt ins Informationszeitalter und aufgrund der Auswirkungen, die die technologische Revolution auf das gesellschaftliche Leben hat, gewinnt der Begriff des Volkskrieges jedoch eine völlig neue Dimension und schafft einen Sieg begünstigende Voraussetzungen. Wenn man einen Volkskrieg, der jetzt oder in Zukunft unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft stattfindet, mit Begriffen des klassischen Volkskrieges beschreibt, so kann dies unter Umständen nicht nur zu einer Verwechslung mit der Geschichte des frühen Kampfes des chinesischen Volkes führen, sondern es wird auch nicht deutlich, daß Information der wesentliche Faktor bei einer militärischen Auseinandersetzung in der neuen Zeit ist. Wenn man hingegen mit dem Begriff des Informationskrieges einen umfassenden, weiträumigen, vielgestaltigen Krieg beschreibt, an dem die Öffentlichkeit selbst teilnimmt, der sich in Abhängigkeit vom Willen des Volkes entwickelt und dessen Verlauf vom Volk kontrolliert wird, dann werden die allergrundlegendsten Charakteristika des Krieges nicht klar. Wenn ich also von “Volksinformationskrieg” spreche, dann sollen dadurch zwei Merkmale deutlich werden: daß der Krieg ein Krieg des Volkes ist und daß dieser Krieg im Zeitalter der Informationsgesellschaft stattfindet. Das Volk ist letztendlich das wesentlichste Element des Krieges und die Öffentlichkeit die treibende Kraft des Krieges; die Theorie des Volkskrieges, der auf das Volk aufbaut, bildet die Leitlinie, die die zum Einsatz kommenden Methoden bestimmt, die ihrerseits vom Menschen als zentrale Macht des Krieges ausgehen. Der Volksinformationskrieg ist ein Volkskrieg, der im Informationszeitalter stattfindet.DIE VORAUSSETZUNGEN FÜR EINEN VOLKSINFORMATIONSKRIEG Ein zukünftiger Krieg ist vielleicht ein rücksichtsloser Kampf zwischen digitalisierten Truppen auf einem digitalisierten Schlachtfeld, vielleicht wird er auch durch ein Chaos in den Netzwerken der Finanzsysteme ausgelöst, vielleicht ist er ein Doppelschauspiel, bei dem Raumfahrer (Roboter) die Bühne bevölkern, während die Spezialisten der Think Tanks im Hintergrund die Fäden ziehen. Vielleicht sind aber auch die Bereiche von Militär, Politik und Wirtschaft derart miteinander verschmolzen, daß es gar nicht klar ist, ob es sich um ein militärisches Kräftemessen, um bloße politische Polemik oder eine ökonomische Auseinandersetzung handelt. Diese Szenarien sind natürlich aufs engste mit der gegenwärtig stattfindenden technologischen Entwicklung und der Revolution im militärischen Bereich verknüpft.
Diese militärische Revolution hat vier einen Volksinformationskrieg begünstigende Rahmenbedingungen geschaffen.
Dank der allgemeinen Verbreitung von Computern gibt es auch für den einzelnen immer mehr Möglichkeiten, aktiv an einem Informationskrieg teilzunehmen. So kann man z. B. schon heute im Café sitzen, seinen Kaffee trinken und dabei via Computer mit wildfremden Menschen irgendwo auf der Welt in Kontakt treten – eine völlig neue, aufregende Erfahrung. Inzwischen gibt es unzählige derartige Cafés, denn vom Technischen her ist es keineswegs kompliziert. Man muß sich nur in den Datenhighway einklinken und ein Terminal anschließen. Dies zeigt indirekt, daß die Informationstechnologie bereits längst die Laboratorien verlassen hat und ins Leben der Menschen eingedrungen ist. Wir können ins Café gehen und dort am Computer die verschiedensten Nachrichten sammeln, genauso können wir aber auch dank spezieller Soft- und Hardware die Datenbanken und Informationsknoten des Gegners zerstören.
Die Digitalisierung des Kapitalstromes hat dem Informationskrieg ein neues Gebiet erschlossen. Der Verband der Versicherungsunternehmen in Großbritannien gibt an, daß Handel und Industrie dort aufgrund von Computerkriminalität jährliche Einbußen in der Höhe von einer Milliarde Pfund erwachsen, wobei die reinen Versicherungsansprüche allein bereits 200 Millionen Pfund ausmachen. Die von Computerkriminellen gefälschten Bankomatkarten oder Programme überfordern bereits die Spezialisten der Banken, ja, in manchen Gebieten sind dadurch bereits die industrielle Produktion und der Alltag der Menschen in Mitleidenschaft gezogen. Würden sich solche kriminelle Handlungen in Kriegszeiten innerhalb sehr kurzer Zeit in einer Region oder einem Land konzentrieren, so wäre das Ergebnis nicht abzusehen. Die Finanzkrise, die vor nicht allzu langer Zeit Südostasien erfaßt hat, sorgt heute noch bei der breiten Masse für Unbehagen. Die moderne Technologie hat der Welt des Kapitals großen Aufschwung und den Menschen eine ganze Reihe von Annehmlichkeiten beschert, gleichzeitig aber verwandeln sich diese Annehmlichkeiten in Schwächen, die ihre Schatten über das Leben der Menschen werfen. So haben z. B. in einer Stadt Studenten ihr Wissen auf dem Gebiet der Telekommunikation genutzt, um den Code der Münztelephone und die Betriebsprogramme zu entschlüsseln, und haben zahllose Ferngespräche geführt – mit einigen Münzen als Einsatz. Und bevor sie die Telefonzellen verließen, haben sie auch noch die in den Automaten befindlichen Münzen mitgehen lassen. Daraufhin sah sich die Post der betreffenden Stadt gezwungen, die Münztelephone abzuschaffen. Diese etwas übertriebene Nutzung des Wissens auf dem Gebiet der Telekommunikation war zwar ein Studentenstreich, zeigt aber, wie verwundbar Finanz- und Telekommunikationssysteme sind. Ein Resultat dieser Verwundbarkeit besteht darin, daß militärische Auseinandersetzungen im Finanzsektor unausweichlich sein werden.
Die Entwicklung des Internet eröffnet dem einzelnen neue Möglichkeiten, direkt an einem Informationskrieg teilzunehmen. Dieses größte aller internationalen Computernetzwerke soll laut Statistiken weltweit bereits über 60 Millionen User haben und umfaßt Regierungsorganisationen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen genauso wie Private. In den entwickelten Staaten des Westens steigt die Anzahl der staatlichen und nichtstaatlichen Computer mit Internetanschluß monatlich um zehn Prozent. Die Bedeutung des Internet ist nicht zu unterschätzen, denn es ermöglicht dem Nutzer, mit Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten und läßt so die Welt immer mehr schrumpfen. Als z. B. ein Student an der Qinghua-Universität in Beijing an einer mysteriösen Krankheit litt, wurde via Internet ein Hilfeschreiben verbreitet, und sehr schnell meldeten sich Spezialisten aus aller Welt, die nicht nur klären konnten, an welcher Krankheit dieser Student litt, sondern auch konkrete Behandlungsvorschläge unterbreiteten. Ende 1995 waren in Hongkong Hunderttausend Computer ans Internet angeschlossen, und mindestens 42 Prozent der Bevölkerung Hongkongs verfügten damals über einen Computer. Es gibt keinen Bereich, in den die moderne Technologie nicht eindringen würde, so daß die durch die Informationstechnologie ausgelöste Revolution fast unbemerkt das Leben eines jeden einzelnen erfaßt. Es entstehen völlig neue Formen des Informationskrieges: Zum Beispiel kann mittels E-mail Informationsbetrug begangen werden, und durch Kontrolle der Informationsknoten kann die Richtung und Geschwindigkeit des Informationsflusses beeinflußt werden. Die Domäne des Informationskrieges weitet sich also bis in den letzten Winkel des Informationsnetzes aus.
Da das Netz sowohl für militärische als auch zivile Zwecke genutzt wird, ist es möglich, daß ein Volksinformationskrieg in Friedenszeiten im geheimen gestartet wird. Die technologische Revolution liefert vorerst nur dem Volk eine Bühne für Auseinandersetzungen, wenn sich aber diese technologische Revolution mit dem militärischen Bereich verbindet, kann dies die Charakteristika einer echten Konfrontation annehmen. Einige Leute glauben, Information-Highway, Internet, Computer und Multimedia seien lediglich synonym für Handel, Profit und Kommunikation. Angesichts der tatsächlichen Entwicklung gehen derartige Auffassungen aber völlig an der Realität vorbei. In den letzten Jahren haben sich in Großbritannien und den Vereinigten Staaten Expertengruppen konstituiert, die in Versuchen Computer und Internet nutzten, um den Code der Kommandozentrale der Pazifischen Flotte zu knacken. Sie drangen in die Kommandozentrale der Flotte ein, gaben den einzelnen Schiffen Befehle und überwachten deren Ausführung. Dies zeigt, daß das “sanfte Messer” der Information, sobald es für militärische Zwecke eingesetzt wird, ebenfalls zu Blutvergießen und Verlusten führen kann.
Der durch die modernen Technologien ausgelöste revolutionäre Wandel im Bereich der Information – sei es nun die Entwicklung des Internet und anderer Informationscarrier oder der freie Informationsaustausch – ermöglicht es den Menschen, am Kampf teilzunehmen, ohne einen Fuß vor die Türe setzen zu müssen. Die Zusammenschaltung verschiedener Netzwerke und die Einbindung von Remote-Control-Systemen führt dazu, daß jedes Land, das automatisierte Systeme implementiert hat, ein potentielles Angriffsziel darstellt. Die Tatsache, daß Information auch für das Leben des Durchschnittsbürgers eine immer größere Relevanz erhält, ist ein Grund dafür, warum diejenigen, die am Informationskrieg teilnehmen, nicht unbedingt Soldaten sein müssen, und es kann durchaus sein, daß eines Tages die Zivilbevölkerung eine frische Kraft im Krieg stellt. Mit nichtstaatlichen Experten besetzte Think Tanks werden nicht nur am Entscheidungsprozeß teilnehmen, sondern sind vielleicht die erste Wahl, wenn es um die Aufstellung von Reservetruppen geht; die schnelle Mobilisierung wird sich nicht auf junge Menschen beschränken; informationsbezogene Industrien und Bereiche werden die ersten sein, die mobilisiert und in den Krieg eintreten werden, wobei es keine Rolle spielt, ob die Mobilisierten in Verbänden organisiert sind oder nicht, ob sie Angehörige des Militärs sind oder nicht. Die traditionellen Formen militärischer Operationen werden also einen grundlegenden Wandel durchmachen; auf einen Informationskrieg abgestimmte operationale Pläne erhalten Priorität, was ihre Formulierung und praktische Durchsetzung betrifft, und so weiter und so fort. Da andere Technologien erst dann von den Menschen verstanden werden, wenn sie mit der Informationstechnologie verschmolzen sind, und die Informationstechnologie immer stärker sozialisiert und ins Alltagsleben eingebunden wird und dadurch immer selbstverständlicher wird, sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, daß ein Informationskrieg nicht allein die Angelegenheit bewaffneter Kräfte ist, sondern auch die Öffentlichkeit daran teilnehmen kann und damit ein Volksinformationskrieg im Sinne der militärischen Revolution in den Bereich des Möglichen rückt.DIE CHARAKTERISTIKA EINES VOLKSINFORMATIONSKRIEGES Unter dem Einfluß der Revolution im militärischen Bereich unterscheidet sich der Volksinformationskrieg in manchen Punkten von den früheren Formen des Krieges. Dies spiegelt sich in erster Linie in Veränderungen wider, die in fünf Bereichen stattfinden.
Die Kriegsinstrumente sind nicht mehr mechanisierte, explosive Instrumente wie Gewehre, Kugeln, Panzer usw., sondern intelligente Instrumente. Da die Menschen bis jetzt in der Kultur des Industriezeitalters lebten, waren auch die im Krieg zum Einsatz kommenden Waffen vom Geist der Industriegesellschaft geprägt. Auch wenn heute neue technologische Elemente in diese Waffen einfließen und deren Geschwindigkeit, Reichweite und Letalität steigern, so entsprechen sie im wesentlichen doch noch immer dem Muster der mechanisierten Industrie. Im Informationszeitalter hingegen kann ein ganz normaler Computer oder eine ganz normale Radiostation als Mittel der Kriegsführung dienen. In einem Krieg, an dem jeder teilnehmen kann, bei dem das ganze Volk “in Waffen” steht, sind die Zeiten vorbei, in denen ein jeder sein Gewehr hält und seine Kugeln abfeuert.
Am Kriegsschauplatz wird nicht mehr “Blindekuh” gespielt, im Gegenteil: Es herrscht immer größere Transparenz. Die Armee der Vereinigten Staaten hat bereits digitalisierte Truppen aufgestellt und intensiviert ihre Anstrengungen, um ein digitalisiertes und damit transparentes “Schlachtfeld” zu errichten. Dank der Verbesserung der Informationssysteme und -technologien wird aber das Leben in allen seinen Bereichen “durchsichtig”. In Friedenszeiten gilt das Hauptaugenmerk bei der Vorbereitung eines möglichen Kriegsschauplatzes der Hardware der Informationssysteme und dem Erwerb, der Verarbeitung und dem Austausch von Information sowie der Entwicklung von Gegenmaßnahmen, während in Kriegszeiten der Schutz der Informationstransfersysteme ins Zentrum rückt. In einem zukünftigen Krieg wird es schwieriger, sich selbst zu “verstecken”, die “toten Winkel” auf dem “Informationsfeld” und in “Informationsclustern”, die “Fugen” und “Ritzen” sind schwerer zu nutzen, der Rhythmus des Krieges steigert sich, und es ist durchaus denkbar, daß es im Bereich der Kriegstechnik zu kurzfristigen Verschiebungen kommt. Außerdem bedarf es einer noch umsichtigeren Planung auf Kommandoebene, will man dem Feind zuvorkommen und seine Kalkulationen durcheinanderbringen.
Das Kriegsziel verlagert sich von der Vernichtung der aktiven Kräfte und der Aneignung möglichst vieler materieller Güter hin zur Aneignung und Nutzung von Information. Im Informationskrieg ist es nicht mehr notwendig, möglichst viele gegnerische Soldaten gefangenzunehmen und möglichst viele Waffen oder rein materielle Güter zu erbeuten. Jede kriegerische Handlung wird sich in Zukunft um die Erschließung von Informationsressourcen drehen: Der Erwerb von Information, die Menge an transportierter Information und deren Nutzungsgrad werden in Zukunft in den Mittelpunkt des militärischen Interesses rücken. Sieg oder Niederlage in einer Auseinandersetzung hängen ganz wesentlich davon ab, wieviel Information sich eine Seite aneignen kann.
Das Kriegspersonal verlagert sich vom “natürlichen” Menschen hin zum Cyborg, einer Kombination aus natürlichem Menschen und Raumfahrer oder Roboter. Da das zukünftige Gefechtsfeld alle zugänglichen Bereiche umfaßt – Erde, Luft, Meer, Weltraum –, zählen sämtliche Informationcarrier, Informationskanäle, Informationsdistributionsknoten, Modemsysteme, Informationssysteme zur Entscheidungsanalyse usw. zu den primären Angriffszielen. Wenn ein natürlicher Mensch und ein Roboter bzw. ein natürlicher Mensch und ein Raumfahrer zu einem neuen Kriegsträger kombiniert werden, können sie in jedem beliebigen Winkel des Kriegsschauplatzes auftauchen und aggressive Handlungen setzen. Je nachdem, in welchem Bereich ein kriegerischer Konflikt entsteht, können Kämpfer, die genau diesem kriegerischen Umfeld angepaßt sind, geschaffen werden.
Die Operationsmethoden verwandeln sich vom Bewegungskrieg, bei dem Kriegsoperationen mit Hilfe großer Truppenverbände durchgeführt werden, oder vom Guerillakrieg hin zum elektronischen Krieg, zur informationsgestützten taktischen Koordination, zum Täuschungskrieg mittels Information oder zum Krieg in den Informationskanälen und zu anderen unter High-Tech-Bedingungen anwendbaren informationsgestützten Methoden. Die Operationsmethoden sind unter gewissen historischen Bedingungen entstanden und den entsprechenden Kriegsformen angepaßt. Die früher praktizierte Einkreisung durch große Truppenverbände, die Entscheidungsschlachten zwischen Panzerformationen, der Großangriff von Luftverbänden, die Seeschlachten, die Explosion von Gefechtsköpfen in der Luft – derartige Operationsmethoden werden immer seltener zur Anwendung kommen, und wenn, dann als Teil des Informationskrieges. Dagegen werden sich parallel zur Verbreitung von Informationswissen und zum Fortschritt in der Informationstechnologie komplexe, vielschichtige Methoden herausbilden, die von der Öffentlichkeit getragen werden, die direkt auf die Informationsressourcen abzielen und sich intelligenter Komponenten bedienen.
Mit einem Wort: Ein Volksinformationskrieg, der alle Merkmale einer informationsgestützten Kriegsführung aufweist, bei dem der Hauptkombattant aber nach wie vor unverändert ist, manifestiert sich in einer von Grund auf verwandelten Form und kann mit keinem der bisherigen Kriege verglichen werden. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Öffentlichkeit die Initiative ergreift und je nach Umständen direkt am Krieg teilnimmt, steigt, und in vielen Fällen wird es vom einzelnen selbst abhängen, ob, wo und wann er in den Krieg eintritt. Was die Abhängigkeit von intelligenten Instrumenten, Kommunikationsnetzen und anderen modernen Technologien betrifft, so wird sie weiter steigen. Traditionelle Gestik, Gesichtsausdruck, Körpersprache, Flaggensignale, Lichtsignale und andere Zeichen werden in der modernen Technologie inkorporiert; sie verschmelzen mit den Informationswerkzeugen zu einem Ganzen und bereichern die informationelle Sprache und Transmissionstechniken. Ethnische Eigenheiten und geographische Besonderheiten werden im Informationskrieg deutlicher zutage treten. Die Anwendung von Strategien wird noch subtiler und unvorhersehbarer; die Planung einer informationsgestützten Konfrontation, das Abwarten des günstigsten Moments für eine Konfrontation, deren Durchführung und Verlagerung – alle diese Momente werden noch viel mehr vom Niveau der strategischen Planung und vom Geschick in der praktischen Umsetzung abhängen. Informationsbasierte Konfrontationen wollen einen realen Frieden mit einem immateriellen Krieg erreichen, sie wollen einen Frieden auf Hardware-Ebene durch Konfrontationen auf Software-Ebene erhalten und den Feind durch informationelle Überlegenheit abschrecken und erpressen. Der blutige Krieg wird also in immer größerem Ausmaß durch Konfrontationen in der Infosphäre ersetzt. Die Veränderungen auf dieser informationellen Ebene werden eine hautnahe Wirkung auf die Militärexperten zeitigen. Einer der wesentlichen Faktoren, der darüber entscheidet, ob ein Krieg ausbricht oder nicht, ist der Unterschied in der Menge bzw. Qualität an Information, die rivalisierende Staaten besitzen. Unter solchen Umständen kann jeder einzelne an den großen und kleinen Angelegenheiten auf dieser Welt teilhaben, und er kann auch die Welt beeinflussende große und kleine Dinge tun. Der Informationskrieg kann nicht mit althergebrachten Kriegen verglichen werden, und auch der Volksinformationskrieg darf nicht aus dem Blickwinkel der Vergangenheit betrachtet werden. Der Volksinformationskrieg, an dem dank offener Informationssysteme Hunderte Millionen Menschen teilnehmen können, wird in verschiedensten Formen die zukünftige Geschichte mitprägen.
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