www.aec.at  
Ars Electronica 1998
Festival-Website 1998
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Elektronische Todesarten


'Michael Geyer Michael Geyer

Die Idee des historischen Bruchs, früher auf esoterische französische Theoretiker der Postmoderne und ihre akademischen Gefolgsleute in den Vereinigten Staaten beschränkt, ist heute zum Grundbestand allen Denkens und Redens über den Krieg geworden. Das Schlagwort, mit dem dieses Gefühl historischer Diskontinuität und manchmal auch eines millennaristischen Neubeginns zum Ausdruck gebracht wird, heißt InfoWar. Der Informationskrieg wird immer mehr zu einer Utopie des 21. Jahrhunderts. Und sollten noch irgendwelche Zweifel bestehen – für seine Propheten ist er eher eine verheißungsvolle als eine unheilbringende Utopie.

Der Glaube an die Effektivität der neuen informationsbasierten Gewalttechnologien – kurz InfoWar – geht weit über die Pragmatik ihrer Entwicklung und ihres Einsatzes hinaus. Der InfoWar ist mittlerweile zu einer diskursiven, institutionellen Realität geworden. Zwar ist er noch in vielen Punkten umstritten, aber die allgemeine Vorstellung vom InfoWar ist etwas, das sich von der Art, wie Kriege im kollektiven Gedächtnis der USA erinnert und vom US-Militär geführt werden, radikal unterscheidet. Er wird als eine “Revolution im militärischen Bereich” bezeichnet und – sogar noch emphatischer – als eine Neuerfindung des Krieges in seinem ganzen Wesen.

Die Auswirkungen dieser neuen Art der Kriegsführung werden sehr unterschiedlich beurteilt. Wenn Paul Virilio feststellt, daß “jede militärische Technologie die Welt auf ein Nichts reduziert”, sieht er den InfoWar als ein Mittel der totalen Unterwerfung in einer langen Tradition der imperialen Homogenisierung der Welt. (1) Andere sehen dies gelassener und glauben, daß “offene Himmel”, selbstzerstörende Prozessoren in an Dritte verkauften Waffen sowie massive Propaganda im Fernsehen im Verbund mit einem speziellen Waffensortiment aus streng geheimen Labors den Frieden sichern und den Krieg letztendlich zu einer nichtletalen Angelegenheit machen werden. (2) Wo Virilio die radikale Vernichtung historisch gewachsener Einrichtungen und Gemeinwesen beschwört, erwarten die Tofflers eine globale Zukunft für den (amerikanischen) Individualismus und ein Leben in Frieden und Wohlstand. Wo ersterer die Verwüstung unseres Planeten fürchtet, glauben letztere, daß “militärische, ökonomische und informationelle Macht” auf höchster Ebene “die Gewalt eindämmen wird, die so häufig mit Veränderungen auf der Weltbühne einhergeht.” (3) Sie versprechen eine Revolution ohne Schrecken – eine amerikanische Revolution.

Die Idee einer grundlegenden Veränderung der Kriegsführung hat etwas Verlockendes. Die Versuche, diese Veränderung als eine Zeitenwende darzustellen, die eine neue tausendjährige Herrschaft der Information einleitet, wirken allerdings eher komisch. Zumindest solange man sie als Slapstick betrachtet – mehr Charlie Chaplin als Adolf Hitler (Der große Diktator). Wenn, wie Arquilla und Ronfeldt behaupten, Athene wirklich die Göttin des InfoWar ist, und Sunzi der Theoretiker und die Mongolen die Praktiker dieser Art der Kriegsführung waren; wenn ferner zutrifft, daß letztere nur “anfangs Vergewaltigungen und Plünderungen” begingen, sich dann aber mit einer passiven Herrschaft begnügten – dann gehört George Washington, wie die Tofflers nahelegen, tatsächlich derselben Zeit und demselben Raum an wie Conan der Barbar. (4) Es wäre reizvoll, Betrachtungen zur Mythensehnsucht und Allegorienseligkeit in einer ansonsten doch eher hartgesottenen militärischen Intelligenz anzustellen. Aber in Wahrheit verstellen diese mythischen Geschichtsdarstellungen doch nur den Blick auf die Schlüsselfrage, um die es bei jedem Versuch, den Krieg zu verstehen, geht: Welche Art von Gewalt, wenn überhaupt, übt Information aus? Oder anders gefragt: Wie und was droht der InfoWar wirklich zu töten?

Athene erweist sich als die genau richtige Göttin für das Informationszeitalter. Man kannte sie als die Grauäugige, als Zerstörerin der Städte und Göttin des Verderbens. Sie ist eine todbringende Kopfgeburt, genauso wie der InfoWar.

DIE AMERIKANISCHE REVOLUTION DER KRIEGSFÜHRUNG
Innerhalb des zivil-militärischen US-Establishments besteht ein überwältigender Konsens, daß sich die Regeln militärischen Engagements fundamental ändern werden. Das militärische Establishment – wer seine Hauptakteure sind, ist ohne Insiderwissen schwer zu sagen – hat eine Prämie auf das Vorantreiben der technologischen Erneuerung und, etwas zögerlicher, der organisatorischen Umgestaltung ausgesetzt. Dieser Prozeß schließt auch eine Neuorientierung der Militärpolitik ein, mit enormen Folgen dafür, wie die USA ihre Militärmacht betrachten und einzusetzen gedenken. Die oft ziemlich haarsträubenden Aussagen über Göttinnen (Arquilla) und “Wellen” der menschlichen Entwicklung (Toffler) laufen im Endeffekt darauf hinaus, daß das US-Militär im Begriff ist, sich neu zu erfinden.

Trotz des nicht unerheblichen institutionellen Widerstands ist die Bereitschaft zu einer umfassenden Neukonzeption dessen, wozu das Militär da ist und was aus ihm werden soll, ebenso frappierend wie überwältigend. Zum Teil ist die Mythenproduktion der militärischen Intelligenz ein Zeichen für die allgemeine Bereitschaft, ja, Begierigkeit, die Geschichte – die Kriegsführungstechniken, die das Militär dieses ganze Jahrhundert hindurch geleitet haben – über Bord zu werfen. Zwar gibt es beträchtliche Infights, aber der Innovationsgeist in den zentralen militärischen und zivilen Institutionen (und das Budget zur Stützung der jeweiligen Entscheidungen) hat in der Militärgeschichte kaum ihresgleichen. Wenn überhaupt, so ist er höchstens mit der technischen Begeisterung in der Ära der Progressiven Bewegung vergleichbar. Aber dabei hatten wir es mit einer zivilen, heute hingegen mit einer eindeutig militärischen Begeisterung zu tun.

Der zentrale Begriff dieser ganzen Initiativen lautet “Information Warfare”. Entstanden ist das Konzept des InfoWar aus einer Reihe mehr oder weniger brauchbarer Systemprogramme rund um die elektronischen Kommando- und Kontrollstrukturen (C2W) auf dem Schlachtfeld und einen elektronisch integrierten Gefechtsraum im weiteren Sinne. Daraus entwickelte sich das Versprechen auf einen Masterplan und eine Masterdoktrin – ein “System der Systeme” – für den künftigen Einsatz militärischer Kräfte. Der InfoWar ist weder Waffen (System) noch reiner C2-Krieg, sondern erscheint zunehmend als Doktrin und Organistationsform künftiger US-Kriege. Er stellt eine Revolution des Konzepts von Krieg dar, die als “amerikanische Militärrevolution” (5) begrüßt wurde.

Wie rapide die Entwicklung ist, sieht man am besten anhand von zwei Momentaufnahmen. In Insiderkreisen gilt das Memorandum of Policy 30 (MOP 30) des Vorsitzenden der “Joint Chiefs of Staff” vom 8. März 1993 als Beginn des Ganzen. Dieses Memorandum faßt die Erfahrungen des Golfkriegs zusammen und definiert Information Warfare als “Command and Controll Warfare”:
C2W meint jene militärische Strategie, die den Informationskrieg unter Einbeziehung physischer Zerstörung auf dem Schlachtfeld anwendet. Ihr Ziel besteht darin, die Kommandostruktur des Feindes von der kämpfenden Truppe abzuschneiden.
Selbst vom engen Horizont des “elektronischen Schlachtfelds” aus gesehen, ist dies eine äußerst zurückhaltende Auslegung der Golfkriegserfahrung, da damit lediglich eine alte operationale Doktrin bekräftigt wird – nämlich das, was etwa Lidell Hart als “indirekte Strategie” bezeichnet hat. Der Unterschied ist nur, daß das elektronische Kommando über die eigenen Truppen und die Kontrolle und mögliche Störung der Feind-“Information” die physische “Mobilität” als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks ersetzen.

Die zweite Momentaufnahme ist die Anweisung 3210.01 des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff vom Jänner 1996:
Information Warfare sind zur Erringung von Informationsüberlegenheit unternommene Aktionen, die die Informationen, informationsbasierten Prozesse, Informationssysteme und Computernetzwerke des Gegners stören und die eigenen Informationen, informationsbasierten Prozesse, Informationssysteme und Computernetzwerke schützen.
Dies ist nicht nur eine wesentlich umfassendere Definition des InfoWar, sondern läßt auch auf eine neue Auffassung von Krieg schließen. Der Krieg geht vom elektronischen Schlachtfeld in die Infosphäre über, die neben Land, See, Luft und Weltraum zu einer fünften Domäne der Kriegsführung avanciert. Diese Form der Kriegsführung umfaßt nach einer eher nüchternen Definition das Bluffen und Verwirren von Sensoren (nachrichtendienstgestützte Kriegsführung), das Stören und Verstümmeln von Nachrichten (elektronischer Krieg), das Zersetzen und Gegen-sich-selbst-Wenden von Prozessoren (Hackerkrieg), das Auschalten von Kommandozentralen (elektronischer Krieg); die Entmutigung, Besänftigung und Verwirrung gegnerischer Truppen und Entscheidungsträger (Psycho-Operationen). (6) Vor allem diese letzte Aufgabe ist im Militär weniger gut verankert, wiewohl bereits beträchtliche Fortschritte zu verzeichnen sind. Es ist aber das Steckenpferd einer neuen Generation von intellektuellen, hauptsächlich mit den Militärhochschulen verbundenen Verteidigungsexperten.

Ihr Markenzeichen ist die Synergie von technologischem Radikalismus und Utopismus in bezug auf Wissen und Information. Wer weiß, was Foucault mit ihnen angestellt hätte, aber beim InfoWar ist “Wissen mehr denn je Macht”. (7) Der feine Unterschied besteht nur darin, daß diese Intellektuellen meinen, was sie sagen. Kontrolle von Information bringt die Macht zu töten. Das ist wirklich eine militärische Revolution.
KAMPFEINSATZ
Je mehr die wissens- und machtorientierte militärische Intelligenz die Anwendung physischer Gewalt herabspielt, umso dramatischer hat der InfoWar die Fähigkeit zum Einsatz letaler Kräfte erhöht. Obwohl das amerikanische Militärestablishment vor Einsätzen zurückschreckt, gibt es nichts am InfoWar, das die tatsächliche Gewaltanwendung verhindert, wenn es einmal dazu kommt. Egal, was für Versprechungen sonst mit dem InfoWar einhergehen mögen, er ermöglicht kampfbereite Zwangsausübung in bisher ungekanntem Ausmaß.

Seinen Durchbruch erlebte der InfoWar im Rahmen der theoretischen und praktischen Ausarbeitung des “elektronischen Schlachtfelds”. Dieses wurde hauptsächlich für NATO-Einsätze in Mitteleuropa entwickelt und erlebte seine kurze Blütezeit im Golfkrieg. Heute ist es Geschichte, weil sich mittlerweile das Bild der Schlacht verändert hat. Diese elektronisch gelenkte Gewalt erscheint zum einen in Form einer neuen Zerstörungssynergie zwischen den Teilstreitkräften, die sich auf der ganzen Linie, von subnationalen (Low-Intensity-) Konflikten über regionale staats- oder machtpolitische Brandherde bis hin zu großen Kriegen, bemerkbar macht. Zum anderen transformiert sie das Schlachtfeld in einen elektronischen Gefechtsraum. Der InfoWar ermöglicht die flexible Anwendung von Gewalt bei immer geringerer Einschränkung durch geographische Gegebenheiten. (8)

Zentrale Elemente der elektronischen Kriegsführung sind – erstens – der rasche “Strom” von Einsatzkräften entlang der Linien eines globalen Stationierungsrasters. Während das globale Informationsnetz ständig in Fluß ist, müssen die Einsatzkräfte gemäß dem Input von nahe am Geschehen befindlichen Überwachungseinrichungen erst zusammengezogen werden. Diese Kräfte kommen – zweitens – je nach Aufgabenstellung in Form gemischter und unterschiedlich großer Kampfeinheiten zum Einsatz. Das Pentagon denkt dabei an Brigaden, die militärische Intelligenz hingegen stellt sich eher so etwas wie die Jagdkommandos der deutschen Wehrmacht vor. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, als Sensoren und Relays für ein Arsenal von Fernlenkwaffen zu fungieren.

InfoWar bedeutet in erster Linie, daß sehr kleine Bodeneinheiten große Menschenmengen töten (oder mit dem Tod bedrohen) können, ohne jemals direkt mit ihnen in Kontakt zu kommen. Es wurde eine Menge Aufhebens um Präzisionslenkwaffen und deren angeblich gewaltmindernde Wirkung gemacht. Der wahre Fortschritt, den die Informationslenkung mit sich bringt, ist aber die erhöhte Fähigkeit zur Gewaltanwendung und deren Tödlichkeit. Eine weitere Folge ist, daß die Information die Kommunikation reduziert. Informationsbasiertes Wissen verdrängt und stört die Interaktion. Der Feind wird zu einem computergenerierten, von der Connectivity ausgeschlossenen Konstrukt. Wen schert schon die zunehmende Rolle einer Polizei- und Friedensarbeit, die zum Erreichen der selbstverständlichsten Dinge Dialog und Connectivity bemüht. Im InfoWar-Szenario gibt es nur Informationen, die dieses selbst generiert. Es ist ein in sich geschlossenes System – und solche Systeme sind oft außerordentlich gewalttätig.

Ginge es nach der InfoWar-Theorie, würde – drittens – das Einsatz-Kommando der einzelnen Kampfgruppe radikal dezentralisiert. Die Einheiten würden weitgehend unabhängig von einer hierarchischen Kommandostruktur agieren und besäßen außerordentliche Handlungsfreiheit. Dagegen wäre – viertens – die Kontrolle militärischer Einsätze wegen der Möglichkeit “totaler” elektronischer Überwachung stärker zentralisiert. Ermächtigung (Einsatzkommando) auf der einen und Entmündigung (Einsatzkontrolle) auf der anderen Seite gehen Hand in Hand. Das Resultat ist ein stark erweiterter Gefechtsraum mit diskontinuierlichen lokalen Aktionen, die zentral koordiniert werden. Mit dem Abhandenkommen kontinuierlicher Frontlinien wird enorme Gewalt mit elementarer Macht angewandt, nur um – ganz im Stil von Kommandoaktionen – mit dem Abschluß des Einsatzes plötzlich wieder zu verschwinden.

Die Echtzeit-“Gesamtübersicht” der Kommandozentrale ist ausschlaggebend für die Fähigkeit, den Clausewitz'schen “Nebel des Krieges” vom Schlachtfeld zu vertreiben. Aber abgesehen davon, daß der Nebel der Schlacht durch den elektronischen Smog ersetzt wird, schafft die Gesamtübersicht nicht die Bedingungen für eine differenzierte und dosierte Anwendung der Kräfte, sondern für das, was Graf von Schlieffen die “Gesamtschlacht” (9) nennt. Wie von Schlieffen kennt die InfoWar-Theorie des Kampfeinsatzes wenig Alternativen außer der Vernichtung und der bedingungslosen Kapitulation. Wenn das Militär einmal zum Einsatz kommt, gibt es nur Zerstörung oder Unterwerfung – oder das Fehlschlagen der Aktion.
EPISTEMISCHER KRIEG
Die militärakademische Intelligenz bewegt sich in die dem militärischen Establishment entgegengesetzte Richtung. Sie halten den InfoWar für ein Zwangsmittel, das ohne physische Gewalt auskommt. Die nichtletale Zwangsausübung ist der vielzitierte “Gipfel der Kunst”. (10) Für die militärische Intelligenz sind Störung und Verwirrung der Schlüssel zum “strategischen Informationskrieg” oder “Cyberkrieg”. (11)

In seiner einfachsten Form ist der InfoWar noch immer eng an den C2W-Krieg gebunden, erhebt aber die Information zu einer eigenen Waffe. Könnte man den “Nebel des Krieges” (z. B. mit einer perfekten “Gesamtübersicht”) von der eigenen Seite vertreiben und zugleich die gegnerische Sicht des Schlachtfeldes einnebeln, wäre das von außerordentlichem Vorteil. Könnte man ferner die Signale zwischen den feindlichen Truppenteilen sowie zwischen Hauptquartier (“Führung”) und Truppen stören, so würde man damit große Verwirrung stiften. Die Entscheidungsfindung würde stark behindert. Hierarchische Systeme würden ihre Koordination, führerlose Gruppen ihren Zusammenhalt verlieren. Einige dieser C2W-Initiativen sind weiter, andere weniger weit hergeholt, insgesamt aber begünstigen elektronische Systeme den Übergang vom passiven “Nachrichtendienst” zu aktiven Info-Operationen (IO).

Info-Operationen gehen zumeist nicht auf den Umstand ein, daß Informationen Bedeutung transportieren und daß Bedeutung innerhalb von Wissens- und Glaubenssystemen entsteht. Was aber, wenn man statt der Bits und Bytes der Information diese Systeme ins Visier nähme? Möglich wird das durch einen Angriff auf die Informationsinfrastruktur mittels einer Tiefeninfiltration, die die Schutzvorrichtungen des Netzwerks durchbricht und in einem Akt perfekter Mimikry die Informationselemente des Feindes durch die eigenen überlagert. Wenn man sich durch die Kontrolle über seine Schalttafeln in den Verstand des Feindes einschleicht, kann man vielleicht Entscheidungen herbeiführen, die sonst nicht getätigt würden. Der Feind würde zu “Entscheidungen (und Handlungen)” verleitet, “die den Intentionen oder Zielen der gegnerischen Führer konsequent zuwiderlaufen oder die Unterstützung versagen.” Im Idealfall bedeutet das, daß Täuschungsmanöver “menschliche Entscheidungsträger politischen Zielen der USA zustimmen” lassen könnten und das auch noch “aus eigenem freien Willen”. Das klingt zwar weit hergeholt, aber “ein erfolgreicher Informationsfeldzug zwingt dem menschlichen Ziel eine falsche Realität auf”. (12)

Der wahre “Gipfel der Kunst” allerdings besteht in der Unterwanderung oder Zerstörung des Wissens- und Glaubensgebäudes, d.h. des kollektiven Gedächtnisses als Sinndepot und der individuellen Sinngewißheit als Quelle der Identität. Dieses Szenario geht davon aus, daß Wissens- und Glaubensvorstellungen der Menschen eine komplexe Architektur aufweisen, die sich in Analogie zu elektronischen Lebensformen verstehen und darstellen lassen. Ist ein Wissensgebäude einmal bekannt, kann es auch geschwächt und zum Einsturz gebracht werden. Ein 30 Sekunden langer Videoclip von einem toten, hinter einem Jeep hergeschliffen amerikanischen Soldaten reichte aus, um die Militäroperation im Somalia zu beenden. Da Wissens- und Glaubenssysteme Sinn und Identität und damit Selbst-Bewußtsein stiften, kann man dieses Bewußtsein und die daraus resultierende Sinngewißheit auch attackieren – so jedenfalls die Behauptung. Die Folge wäre völlige Desorientierung, ein Verlust des Realitätssinns. Anders als die Schleifen der Entscheidungsfindung sind Wissensgebäude kollektives Eigentum von Gruppen und Verbänden, wenn nicht von ganzen Nationen. Die Unterminierung solcher Architekturen, so sie denn möglich ist, wäre demnach auch ein Angriff auf die Gesellschaft. Es ist ein Angriff auf die Gesellschaft an Stelle von leibhaftig kämpfenden Soldaten.

Das ist Cyberkrieg in seiner reinen, futuristischen Form. Er attackiert und unterhöhlt nicht nur Information, sondern das kollektive Gefüge des Wissens und der Wahrnehmung, die die Bildung menschlicher Gemeinschaften überhaupt erst möglich macht. Nach Ansicht wenigstens eines Autors ist diese Art der Kriegsführung “vielleicht weniger unrecht, als andere in Hunger und Kannibalismus zu stürzen”. (13)

Es handelt sich hier um einen Krieg, der nicht Menschen tötet, sondern ihre Sinnumgebung. Das wird dann als nichtletaler Krieg und Ende der physischen Gewalt gefeiert. Tatsächlich aber ist es ein gegen Nicht-Soldaten gerichteter Akt der Verwüstung – Verwüstung des Geistes. Gleichgültig ob Fiktion oder Phantasie, so oder so ist es ein postmoderner Genozid.
WECHSELNDE KRIEGSZUSTÄNDE
Anstrengungen zur Redefinition der nationalen Sicherheit der USA sind bereits seit einiger Zeit im Gange. Zuletzt waren sie mit der Proliferation kleiner Kriege und der Gefahr des ethnischen und religiösen Terrorismus verbunden, die Samuel Huntington zu einem “Kampf der Kulturen” (14) hochstilisiert hat. Die Tofflers dagegen haben ihre eigene Sicht von Kulturkriegen. Sie meinen, daß künftige Kriege zwischen den Wohlhabenden (die auch an der Informationswelle teilhaben) und den Armen (den Agrar- und Industrieproduzenten) stattfinden werden. (15) Wieder andere verweisen auf die Gefahren, die von transnationalen Verbrecherorganisationen, von Terrorgruppen, der Waffenproliferation und von Computerhackern ausgehen. (16) Der spezifische Charakter dieser Bedrohung besteht in der Fähigkeit dieser Gruppen, die globale Informationsinfrastruktur und ihre Kapazitäten dazu zu nutzen, die Sicherheit des amerikanischen Volkes, Staatsgebiets und Way of Life zu untergraben. Sie bilden damit eine “deutliche und greifbare Gefahr”, die – ob ein Krieg erklärt wurde oder nicht – einen Casus belli darstellt. (17)

Letzteres ist nicht unerheblich. Denn Bedrohungen, Krieg und Verbrechen werden vielfach im Munde geführt, als wären sie alle dasselbe. Das sind sie aber mitnichten. Es ist eine Sache, ein (angeklagter) Verbrecher zu sein, aber es ist etwas ganz anderes, ein feindlicher Ausländer zu sein (oder wie immer man einen InfoSoldaten nennen würde). Es ist eine Sache, eine Bank auszurauben (selbst auf elektronischem Weg und im großen Stil), aber es ist etwas ganz anderes, die Souveränität der Vereinigten Staaten zu bedrohen. Beide Male wird man vielleicht mit dem Leben bezahlen, aber im einen Fall hat man zumindest technisch das Recht auf eine Gerichtsverhandlung. Im anderen hingegen nicht. Es besteht daher Grund zur Sorge, wenn Hacker zu einer “deutlichen und greifbaren Gefahr” erklärt werden. (18) Im Fall eines Casus belli könnten Hacker das System leicht austricksen, doch am Ende wären sie tot. Und ginge es nach John Arquilla, gäbe es noch effizientere Möglichkeiten, dieses Ende herbeizuführen. (19)

Das eigentliche Problem besteht darin, daß “Netzkriege” nicht mehr reine Gedankenspiele der militärischen Intelligenz sind. Während Netzkriege noch immer als Offenbarung einer neuen Ordnung verkauft werden, sind sie schon längst in die Politik des Präsidenten eingegangen. Schwierig zu sagen, was verstörender ist: der Umstand, daß es eine solche Politik überhaupt gibt oder daß sie in einem Gutteil der InfoWar-Debate nicht als solche erkannt wird. Wie dem auch sei, das umfangreiche Dokument des Weißen Hauses A National Security Strategy of Engagement and Enlargement vom Februar 1996 verweist nicht nur auf eine Reihe konventionellerer Sicherheitsfragen, sondern auch auf eine neue “transnationale” Sorte von “einstmals scheinbar sehr fernen Problemen”.

Während “Umweltzerstörung, Ausbeutung der Rohstofflager, rapides Bevölkerungswachstum und Flüchtlingsströme” eher en passant erwähnt werden, sind die “neuen Herausforderungen […] des Informations- und Technologiezeitalters” ausführlicher ausgearbeitet. Der schnelle Informations-, Geld- und Ideenfluß begünstige “die Gewalt von Terrorismus, organisiertem Verbrechen und Drogenhandel”, wobei man dieser Trias den Waffenhandel hinzufügen könnte. Der zentrale Punkt ist allerdings, daß “nichtstaatliche und staatliche Kräfte gleichermaßen” als Gefahr identifiziert werden. Ebenso wichtig ist die im Präsidentendokument getroffene Feststellung, daß “die klare Unterscheidung zwischen Bedrohungen für die nationale Sicherheit von jenseits unserer Grenzen und Herausforderungen für sie von innerhalb unserer Grenzen langsam verschwimmt. […] Gewisse Kräfte können nun unsere Sicherheit auch innerhalb unserer Grenzen bedrohen”.

Dieses Statement des Präsidenten hat weitreichende Folgen. Wenn der Report of the Defence Science Board Task Force on Information Warfare-Defence (InfoWar-D) nahelegt, daß nichtstaatliche Akteure eine “deutliche und greifbare Gefahr” darstellen können, so wird damit festgestellt (und darin spiegelt sich die Realität des Drogenkrieges), daß Teile der Internetgesellschaft Kriegszustände geworden sind, die in ihre Zuständigkeit fallen. Sie sind Aggressoren. Falls sie gefaßt werden, sind sie de jure Kriegsgefangene. Wenn darüber hinaus der Präsidententext über die Durchlässigkeit der Grenzen überhaupt etwas zu bedeuten hat, dann daß ein Kriegszustand genauso gut zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und einigen seiner Bürger eintreten kann. Das markiert eine atemberaubenden Wende, obwohl das Präsidentendokument, anders als ein Teil der InfoWar-Literatur, sorgfältig darauf achtet, seinen Bürgern nicht den Krieg zu erklären. Dennoch entsteht eine Grauzone, in der Unterschiede verschwimmen und der Schutz für den amerikanischen Staatsbürger dünn wird.

Während der “Kreis des Wir” enger wird, erstreckt sich die amerikanische Souveränität weiter denn je. (20) Wenn, wie es im Präsidentendokument heißt, “außerhalb unserer Grenzen beginnende Probleme heute leichter zu Problemen innerhalb unserer Grenzen werden können”, dann erfordert und legitimiert das “amerikanische Führungsansprüche und amerikanisches Engagement in der Welt”. Letzteres bedeutet nicht mehr die Besetzung von Land und nicht einmal die Stationierung von Truppen rund um die Welt. Sehr wohl aber verlangt es globale Präsenz entlang der Kommunikationslinien und, als Voraussetzung dafür, die Kontrolle wichtiger Knoten. Die Chiefs of Staff sprechen von “globalen Verantwortlichkeiten der USA, [die] trotz eines regionalen Schwerpunkts in der Umsetzung der Strategie globale Kapazitäten [verlangen]”. (21) Dieses Streben nach Globalität umfaßt eine “Ausweitung der Gemeinschaft sicherer, dem freien Markt verpflichteter, demokratischer Nationen” in der Politik der wirklichen Welt. Im Cyberspace läuft es auf eine Amerikanisierung der fünften Domäne hinaus.
Souveränität und Verfassungstreue
Die Kontrolle des Cyberspace ist eine große Aufgabe. Manche würden auch sagen, eine unmögliche. Die Infosphäre hat viele und unterschiedliche Besitzer und toleriert eine Menge Hausbesetzer und Nomaden. Und doch bedeutet “Informationsvorherrschaft” als Kernbegriff der InfoWar-Großstrategie die Kontrolle über diesen Bereich. Informationsvorherrschaft meint indes keine permanente Besatzung. Vielmehr ist damit die Fähigkeit gemeint, im Fall eines Krieges sämtlichen anderen Besitzern der Infosphäre zuvorzukommen (wobei Krieg hier ein anderes Spektrum abdeckt). (22)

Souverän ist, wer die Ausnahme kontrolliert. Laut Carl Schmitt ist das die Grundlage souveräner Macht. (23) Die InfoWar-Strategie strebt die Kontrolle der Ausnahme im Cyberspace an. Sie interessiert sich nicht im geringsten für den Bau der Verfassung. Die InfoWar-Debatte macht die Vereinigten Staaten zum neuen globalen Souverän, um Schutz gegen die Verletzbarkeiten des Informationszeitalters zu bieten.

“Das Projekt der Ordnungsstiftung führt den Menschen in eine endlose Kette von Gewalt”, sagt ein Beobachter, der es wissen sollte. (24)

(1)
Virilio, Paul: “Cyberwar, God and Television”, in: Ctheory, 21. Oktober 1994 zurück

(2)
Toffler, Alvin; Toffler, Heidi: Überleben im 21. Jahrhundert, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1994zurück

(3)
ibid., 17zurück

(4)
Ersteres behaupten John Arquilla und David Ronfeldt in: “Cyberwar is Coming!” In: Arquilla, John; Ronfeldt, David (Hg.), In Athena's Camp: Preparing for Conflict in the Information Age, Santa Monica: RAND Corporation 1997 (deutsche Übersetzung siehe S. 24–56 im vorliegenden Band). Letzteres ist die bekannte “Drei-Wellen-Theorie” der Tofflers, die die menschliche Geschichte in ein Agrar-, Industrie- und Informationszeitalter einteilen.zurück

(5)
Owens, William A.: “Foreword”. In: Schwarzstein, S.J.D. (Hg.): The Information Revolution and National Security: Dimensions and Directions. The Center for Strategic and International Studies, Washington, D.C. 1996, XIzurück

(6)
Lipicki, Martin: Information Dominance, 1997. Einsehbar unter: http://www.ndu.edu/ndu/ inss/strforum/forum132.html.zurück

(7)
Nye, Joseph P.; Owens, William A.: “America's Information Edge”. In: Foreign Affairs, Nr. 75, March/April 1996, 20–36zurück

(8)
Vgl. Cooper, Jeffrey R.: “Another View of Information Warfare: Conflict in the Information Age”. In: Schwartzstein, S. J. D. (Hg.), ibid.zurück

(9)
Cooper, Jeffrey R.: “Another View of the Revolution in Military Affairs”. In: Arquilla/Ronfeldt (Hg.), ibid.zurück

(10)
Szafranski, Richard: “Neocortical Warfare? The Acme of Skill”. In: Military Review, November 1994, 41–55zurück

(11)
Stein, George; Szafranski, Richard: US Information Warfare. Jane's Information Group, Alexandria, VA 1996zurück

(12)
Szafranski, Richard: “A Theory of Information Warfare: Preparing for 2020”. In: Airpower Journal, Spring 1995, 56–65zurück

(13)
Ibid., 64zurück

(14)
Huntington, Samuel P.: Der Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. A.d.Amerik.v. H. Fliessbach, Europaverlag, München/Wien 1996zurück

(15)
Toffler/Toffler: ibid.zurück

(16)
Arquilla, John; Ronfeldt, David: The Advent of Netwar. In: In Athena's Campzurück

(17)
Andrews, Duane: Report of the Defense Science Board Task Force on Information Warfare-Defense (InfoWar-D), Office of the Undersecretary of Defense for Acquisition & Technology, Washington, D.C. 1996zurück

(18)
Ibid., 2–17. Hacker werden im Gegensatz zu den “bösen” Aggressoren als “gute” “Bedrohung” angeführt.zurück

(19)
Arquilla/Ronfeldt, ibid.zurück

(20)
Hollinger, David A.: “How Wide the Circle of the 'We'? American Intellectuals and the Problem of the Ethnos since World War II”. In: American Historical Review 98/2, 1993, 317–337zurück

(21)
Chairman Joint Chiefs of Staff: National Military Strategy of the United States of America 1995: A Strategy of Flexible and Selective Engagement, U.S. Government Printing Office, Washington, D.C. 1995zurück

(22)
Molander, Roger C.; Riddile, Andrew S.; Wilson, Peter A.: Strategic Information Warfare: A New Face of War [Abstract], 1996. Einsehbar unter: http://www.rand.org/publications/MR/ MR661/MR661.htmlzurück

(23)
Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Duncker & Humblot, München/Leipzig 1932zurück

(24)
Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, S. Fischer, Frankfurt/Main 1996, 16zurück