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Wirtschaft, Computer und die Kriegsmaschine


'Manuel DeLanda Manuel DeLanda

Wenn wir “Zivilisten” uns mit militärischen Fragen beschäftigen, neigen wir dazu, das Thema als eine sehr spezifische Angelegenheit zu betrachten, bei der es ausschließlich um den Krieg und seine furchtbaren Folgen geht. Man kann durchaus behaupten, daß Zivilisten in Zeiten ohne kriegerische Auseinandersetzung (oder zumindest in Zeiten, in denen kein Krieg droht, wie beispielsweise im Falle von Regierungsdebatten über das Verteidigungsbudget) kaum jemals über militärische Belange nachdenken. Das Problem besteht darin, daß sich – von einem objektiveren historischen Blickwinkel aus gesehen – die wichtigsten Auswirkungen des Militärs auf die zivile Welt in den vergangenen vierhundert Jahren während Friedenszeiten vollzogen haben und uns spezifisch militärische Fragen wie beispielsweise Taktik oder Strategie nur wenig beschäftigt haben. Ich möchte die Behauptung aufstellen, daß die westliche Geschichte ab dem 16. Jahrhundert eine langsame Militarisierung der Zivilgesellschaft erlebt hat, d. h. einen Prozeß, in dessen Verlauf Schulen, Krankenhäuser und Strafanstalten eine Form erhielten, die ursprünglich für Militärlager und Kasernen charakteristisch war, und Fabriken das Schicksal von Waffenschmieden und Waffenlagern teilten. Dieser Aussage möchte ich allerdings sofort hinzufügen, daß es sich bei dem genannten Einfluß keineswegs um einen unidirektionalen gehandelt hat, sondern daß es sich bei dem Phänomen, das wir noch im Detail betrachten müssen, um die Dynamik komplexer “institutioneller Ökologien” handelt, in denen eine Vielzahl von Institutionen sich gegenseitig beeinflussen. Dennoch wurde der genannte Prozeß in überwiegendem Ausmaß von militärischen Institutionen in Bewegung gehalten, weshalb die Verwendung des Begriffs der “Militarisierung” durchaus gerechtfertigt erscheint.

All das überrascht uns nicht besonders. Seit Napoleon die Kriegsführung von den dynastischen Duellen des 18. Jahrhunderts in jenen totalen Krieg verwandelt hat, mit dem wir heute vertraut sind, ist der Krieg selbst in zunehmendem Maße von der vollständigen Mobilisierung der gesamten industriellen und menschlichen Ressourcen der kriegsführenden Gesellschaften abhängig geworden. Während die Armeen Friedrichs des Großen hauptsächlich aus teuren Söldnern bestanden, die man auf dem Schlachtfeld vorsichtig einsetzen mußte, profitierten die Armeen Napoleons von der Erfindung einer neuen institutionellen Methode, die gesamte Bevölkerung eines Landes in ein riesiges Reservoir an menschlichen Ressourcen zu verwandeln. Die Erfindung der Wehrpflicht ist zwar rein technisch gesehen nicht der Französischen Revolution zu verdanken, doch erlaubten die mit der letzteren einhergehenden institutionellen Innovationen es den Revolutionsführern, die erste Masseneinberufung der modernen Zeit durchzuführen, wobei die gesamte männliche Bevölkerung zu Soldaten und alle Frauen zu Billigarbeitskräften erklärt wurden. Dies geht aus der berühmten Proklamation aus dem Jahre 1793 hervor. Diese verfügt über

… alle Franzosen die ständige Einberufung zum Heeresdienst. Die jungen Männer gehen an die Front, die Verheirateten schmieden Waffen und übernehmen den Verpflegungstransport; die Frauen nähen Zelte, Uniformen und tun in den Spitälern Dienst; die Kinder zupfen aus dem altem Linnenzeug Werg, die Greise lassen sich auf öffentliche Plätze tragen, um den Soldaten Mut und Haß gegen die Könige zu predigen und ihnen die Einheit der Republik einzuschärfen. (1)
Diese Proklamation und die riesige bürokratische Maschinerie, die erforderlich war, um sie durchzusetzen, wandelten die Zivilbevölkerung Frankreichs wirksam in eine Ressource (für Krieg, Produktion, Motivation) um, die vom militärischen Oberkommando nach Belieben in Anspruch genommen werden konnte. Ähnliches gilt auch für die Bodenschätze, Industrie- und Agrarressourcen Frankreichs und vieler anderer Nationalstaaten. Angesichts der vollständigen Mobilisierung der Ressourcen einer Gesellschaft, die sich im Zustand des totalen Krieges befindet, überrascht es uns nicht, daß sich der Einfluß des Militärs auf die zivile Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrhunderten verstärkt hat. Ich möchte jedoch behaupten, daß zusätzlich zu den Verbindungen, die durch die Mobilisierung in Kriegszeiten zwischen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Institutionen entstanden sind, noch andere Verbindungen existieren, die älter und subtiler und deshalb umso heimtückischer sind und eine wirkliche Militarisierung der Gesellschaft in Friedenszeiten bedeuten. Lassen Sie mich aber wieder zu unserem französischen Beispiel zurückkehren: Einige der Waffen, die die napoleonischen Armeen verwendeten, waren das Ergebnis einer Revolution der Produktionsverfahren, die sich in den französischen Waffenschmieden im späten 18. Jahrhundert vollzogen hatte. In den französischen Waffenschmieden wurden erstmals die grundlegenden Konzepte und Techniken dafür entwickelt, was später als Fließband- bzw. Massenproduktionsmethoden Verbreitung finden sollte. Im frühen 19. Jahrhundert wurde diese Entwicklung – d. h. das Streben, Waffen mit beliebig austauschbaren Komponenten zu produzieren, was ohne Standardisierung und Rationalisierung der Produktion nicht möglich war – in den amerikanischen Rüstungsfabriken noch weiter vorangetrieben. Dort erkannten die Militäringenieure auch erstmals, daß in der Praxis Standardisierung Hand in Hand mit der Ersetzung der flexiblen Fertigkeiten des einzelnen durch rigide kollektive Routinen geht, was natürlich Disziplin und entsprechende Überwachung erfordert.

Dieser Prozeß hatte jedoch bereits zuvor in den holländischen Armeen des 16. Jahrhunderts begonnen. Zivilisten betrachten Frederick Taylor, der im späten 19. Jahrhundert die sogenannten “wissenschaftlichen Managementmethoden” entwickelt hat, gern als Pionier der Arbeitsprozeßanalyse (d. h. der Zerlegung eines gegebenen Fabrikationsprozesses in Mikrobewegungen und das Optimieren dieser Bewegungen im Hinblick auf eine Effizienzsteigerung und zentralisierte Verwaltung und Steuerung). In Wirklichkeit hatte der holländische Kommandant Moritz von Nassau diese Methoden jedoch bereits ab den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts bei der Ausbildung seiner Soldaten angewandt. Moritz analysierte die Bewegung, die ausgeführt werden muß, um eine Waffe zu laden, damit zu zielen und sie abzufeuern, zerlegte sie in ihre Mikrobewegungen, modifizierte diese, um maximale Effizienz zu erzielen, und brachte den neuen Bewegungsablauf seinen Soldaten mittels permanenter Drills und Disziplin bei. (2) Doch während die Soldaten als Kollektiv eine gewaltige Effizienzsteigerung erzielten, verlor der einzelne Soldat vollkommen die Kontrolle über sein Tun und Lassen auf dem Schlachtfeld. Ähnliches gilt für die Anwendung dieser Idee auf Fabriksarbeiter vor und nach dem Taylorismus. Als Kollektiv gesehen, steigerten sie ihre Effizienz und erzielten jene Economies of Scale, d. h. jene Größenvorteile, die für das Big Business des 20. Jahrhunderts so charakteristisch sind, verloren aber gleichzeitig völlig die Kontrolle über ihr individuelles Handeln.

Dies ist jedoch nur ein Beispiel für die angesprochene Militarisierung der Gesellschaft. Unlängst haben Historiker verschiedene andere Beispiele für den militärischen Ursprung von Neuerungen wiederentdeckt, die zuvor als “zivile” Errungenschaften gehandelt wurden. In letzter Zeit war Michel Foucault derjenige, der diesen Standpunkt am vehementesten vertreten hat. Für ihn ist diese Verflechtung der militärischen und zivilen Institutionen ein konstituierender Faktor des modernen europäischen Nationalstaats. Einerseits war der Aufbau der Nationen eine integrative Bewegung, die mit der Schaffung von Verbindungen über die primordialen Bande innerhalb von Familien und lokalen Gemeinschaften hinaus sowie mit einer neuen Verbindung der städtischen und der ländlichen Bevölkerung auf der Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages einherging. Andererseits jedoch vollzog sich zusätzlich zu diesem Einigungsprozeß ein weniger bewußter Vereinheitlichungsprozeß, und die neue, aus freien Bürgern bestehende Bevölkerung wurde einem intensiven und andauernden Prozeß von Unterweisung, Prüfung und Ausübung unterworfen, dessen Ziel im Erhalt einer mehr oder weniger einheitlichen Masse gehorsamer Individuen bestand. Foucault beschreibt dies wie folgt:
Der Traum von einer vollkommenen Gesellschaft wird von den Ideenhistorikern gern den Philosophen und Rechtsdenkern des 18. Jahrhunderts zugeschrieben. Es gab aber auch ein militärisches Träumen von der Gesellschaft; dieses berief sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf die sorgfältig montierten Räder einer Maschine; nicht auf einen ursprünglichen Vertrag, sondern auf dauernde Zwangsverhältnisse; nicht auf grundlegende Rechte, sondern auf endlos fortschreitende Abrichtungen; nicht auf den allgemeinen Willen, sondern auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit. […] Das Regime Napoleons ist nicht fern und mit ihm jene Staatsform, die es überlebt hat und von Rechtsdenkern, aber auch von Soldaten, von Staatsmännern und Unteroffizieren, von Männern des Gesetzes und von Männern des Lagers vorbereitet worden war. Das römische Vorbild enthält ja beides: die Bürger und die Legionäre, das Gesetz und das Manöver. Während die Rechtsgelehrten und Philosophen im Vertrag ein ursprüngliches Modell für den Aufbau oder Wiederaufbau des Gesellschaftskörpers suchten, erarbeiteten die Militärs und mit ihnen die Techniker der Disziplin Verfahren zur individuellen und kollektiven Bezwingung der Körper. (3)
Angesichts der Tatsache, daß sich die moderne Technologie in einer solchen Welt zusammenwirkender wirtschaftlicher, politischer und militärischer Institutionen entwickelt hat, sollte es uns nicht überraschen, daß die Geschichte der Computer, der Computernetzwerke, der künstlichen Intelligenz und vieler sonstiger Komponenten unserer zeitgenössischen Technologie so eng mit der militärischen Geschichte verknüpft ist. Auch in diesem Zusammenhang müssen wir wieder sorgfältig zwischen Einflüssen in Kriegszeiten und solchen in Friedensperioden unterscheiden, da die ersteren ansonsten nur zu leicht mit der Begründung von der Hand gewiesen werden könnten, das Militär habe lediglich als Katalysator oder Stimulans, d. h. als Beschleunigungsfaktor in einem Prozeß gedient, der in jedem Fall – wenn auch etwas langsamer – auch ohne den direkten Einfluß des Militärs eingetreten wäre. Als Beispiel für einen indirekten Einfluß ließe sich der Computer selbst nennen. Das grundlegende Konzept entstand, wie wir alle wissen, im esoterischsten Bereich der zivilen Welt. In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts entwickelte der britische Mathematiker Alan Turing in seinem Bestreben, einige sehr abstrakte metamathematische Fragen zu lösen, das Grundkonzept für den Computer. Aus diesem Grunde aber war die Turing-Maschine – denn diesen Namen gab man der Neuentwicklung Turings – noch weit davon entfernt, ein tatsächlich funktionierender Prototyp zu sein. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Turing im Rahmen der Anstrengungen, den Enigma-Code der Nazis zu knacken, mobilisiert, und im Laufe seiner intensiven Beteiligung an dieser Operation stieß er auf einige der praktischen Hindernisse, die den Weg zur Schaffung einer wirklichen Turing-Maschine blockierten. Auf der anderen Seite des Atlantiks entwickelte John von Neumann im Rahmen seiner Beteiligung am Manhattan-Projekt und anderen kriegsbezogenen Operationen seine eigenen praktischen Ansichten darüber, wie man der Turing-Maschine Leben einhauchen könnte.

In diesem Fall können wir die Rolle, die das Militär spielte, einfach vernachlässigen, indem wir argumentieren, daß sich der Computer ohne die Intensivierung und Konzentrierung der einschlägigen Anstrengungen durch den Krieg ohnehin – wenn auch etwas langsamer – von selbst entwickelt hätte. Ich bin der Meinung, daß dies tatsächlich zutrifft. Andererseits jedoch illustrieren viele der Anwendungen, für die Computer nach dem Krieg eingesetzt wurden, die Kehrseite der Medaille: eine direkte Beteiligung der militärischen Institutionen an der Entwicklung von Technologien, d. h. eine Beteiligung, die die gegenständlichen Technologien tatsächlich in Richtung einer Vereinheitlichung, Rationalisierung und Konzentrierung der Steuerung beeinflußte. Das beste Beispiel für diese andere Beziehung zwischen Militär und Technologie sind vielleicht die numerischen Steuerungssysteme für die Produktion von Maschinenteilen. Während die in den Rüstungsbetrieben des 19. Jahrhunderts entwickelten und später auch in zivilen Unternehmen angewandten Methoden im Zusammenhang mit der Produktion größerer Stückzahlen ein und desselben Produktes (d. h. Massenproduktion) bereits eine verstärkte Vereinheitlichung und zentralisierte Steuerung mit sich gebracht hatten, blieben jene Bereiche der Produktion, in denen relativ kleine Stückzahlen komplexer Maschinenbestandteile produziert werden, von den Neuerungen unberührt. In diesen Bereichen der Produktion waren die Fertigkeiten des Ingenieurs auch im Zweiten Weltkrieg noch unersetzbar. Während der fünfziger Jahre verschrieb sich die Air Force nicht nur der Forschung und Entwicklung eines neuen Systems, das diese Fertigkeiten der Ingenieure ersetzen sollte, sondern auch der Entwicklung von Software, dem Kauf dieser Geräte durch Auftragnehmer sowie der Ausbildung von Bedienungspersonal und Programmierern. In einem zeitgenössischen numerischen Steuersystem werden, nachdem ein Ingenieur die zu produzierenden Teile gezeichnet hat, die Zeichnungen selbst in Daten umgewandelt und auf Karten oder elektronischen Speichermedien gespeichert. Von diesem Punkt an werden alle erforderlichen Arbeitsschritte, d. h. das Bohren, Fräsen, Drehen etc. automatisch von computergesteuerten Maschinen ausgeführt. Im Gegensatz zu den Massenproduktionstechniken, wo diese Automatisierung auf Kosten der Flexibilität erzielt wurde, reicht bei numerischen Steuersystemen eine relativ einfache Veränderung der Software (nicht der Hardware) aus, um das System für die Produktion einer neuen Serie von Komponenten zu adaptieren. Dennoch waren die Auswirkungen auf die Arbeiterschaft in beiden Fällen sehr ähnlich: Flexible Fertigkeiten wurden durch rigide, in Software oder Hardware enthaltene Befehle ersetzt, und im Laufe der Zeit führte dieser Verlust an Fertigkeiten zu einer generellen Verringerung des Spezialisierungsgrads der Arbeiterschaft und in der Folge zum Verlust der individuellen Kontrolle über den Produktionsprozeß.

In beiden Fällen stellt sich nicht die Frage nach dem Einfluß, den die in militarisierten Fabriken hergestellten Objekte auf die zivile Welt haben könnten. Man könnte beispielsweise argumentieren, daß die Förderung der Konservenindustrie durch Napoleon positive Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte, und auf weitere ähnliche Fälle verweisen, in denen unter militärischem Einfluß entwickelte Produkte positive Auswirkungen hatten. Es geht jedoch nicht um den Transfer von Objekten, sondern um den Transfer der diesen Objekten zugrundeliegenden Produktionsprozesse, denn diese Prozesse sind es, die ausschlaggebend sind, da sie die gesamte Steuerungs- und Befehlsstruktur des Militärs nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang sei der Historiker David Noble zitiert:
Derartige Befehle zogen eine direkte Kontrolle der Produktionsabläufe nach sich, nicht nur an einer einzelnen Maschine oder in einer einzelnen Produktionsanlage, sondern – über Datenverbindungen – auch weltweit. Die Vision der Architekten der Revolution (der numerischen Steuerung) bewirkte weit mehr als die automatische Bearbeitung komplexer Komponenten. Sie bedeutete gleichzeitig die Eliminierung der menschlichen Intervention, eine Verkürzung der Befehlskette sowie die Reduktion der verbleibenden, von menschlichen Arbeitskräften auszuübenden Produktionsschritte auf unspezialisierte, routinemäßige und streng regulierte Aufgaben. (4)
Er fügt hinzu, die numerische Steuerung sei
ein riesiger Schritt in dieselbe Richtung [wie das Streben nach ereinheitlichung im 19. Jahrhundert]. Hier ist das Management in der Lage, den Arbeiter zu umgehen und über Bänder oder direkte Computerverbindung unmittelbar mit der Maschine zu kommunizieren. Die Maschine selbst kann danach das Schrittempo für den Arbeiter vorgeben und diesen zur Disziplin zwingen.
Halten wir aber nun einen Moment inne und denken wir darüber nach, welchen Einwand man möglicherweise gegen diese Analyse erheben könnte. Man könnte argumentieren, daß das Ziel, der Arbeiterschaft die Kontrolle aus der Hand zu nehmen und sie statt dessen den Maschinen anzuvertrauen, die Quintessenz des kapitalistischen Systems darstelle und daß militärische Institutionen, falls sie zufällig in diese Entwicklungen involviert waren, lediglich jene Rolle spielten, die ihnen vom kapitalistischen System zugewiesen wurde. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dieser Antwort stellt, besteht darin, daß sie vielleicht einen hartgesottenen Marxisten überzeugen wird, ansonsten jedoch im Gegensatz zu einer Fülle historischer Daten steht, die die besten Wirtschaftshistoriker unseres Jahrhunderts zusammengetragen haben. Diese Daten belegen, daß die europäischen Gesellschaften keinesfalls eine unilineare Serie von “Produktionsweisen” (Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus) durchlaufen haben, sondern statt dessen durch eine wesentlich komplexere, heterogenere Koexistenz verschiedener Prozesse gekennzeichnet waren. Mit anderen Worten bestanden, wie der Historiker Fernand Braudel nachgewiesen hat, bereits im 14. und 15. Jahrhundert Institutionen, die die Macht besaßen, wirtschaftliche Macht auszuüben (große Banken, Großhändler, Überseehandelsgesellschaften) in Koexistenz mit feudalen Institutionen sowie wirtschaftlichen Institutionen wie Einzelhändlern und den Produzenten bescheidenerer Güter, die keine wirtschaftliche Macht besaßen. Braudel zeigt, daß diese komplexe Koexistenz unterschiedlicher Typen von Institutionen vor wie auch nach der industriellen Revolution bestand und vertritt die Ansicht, der Begriff eines “kapitalistischen Systems” (in dem alle Aspekte der Gesellschaft zu einem funktionalen Ganzen verbunden sind) vermittle ein irreführendes Bild von den tatsächlichen Prozessen. Ich meine, wir sollten Braudel ernst nehmen und unsere Vorstellung von einer Geschichte, die in sauber getrennte, in sich homogene Abschnitte oder Zeitalter unterteilt ist, aufgeben und uns statt dessen mit jenen komplexen Kombinationen von Institutionen befassen, die an den tatsächlichen historischen Prozessen beteiligt waren.

Die Modelle, die wir von diesen komplexen “institutionellen Ökologien” anfertigen, sollten berücksichtigen, daß die militärischen Organisationen eine große und relativ unabhängige Rolle spielten, damit sie auch jenen historischen Daten gerecht werden, die wir über verschiedene wichtige historische Beispiele – wie das Venedig des 15. Jahrhunderts, dessen berühmte Waffenschmiede zur damaligen Zeit der größte Industriekomplex Europas war, oder die militärische Standardisierung der Waffenproduktion im Frankreich des 18. und Amerika des 19. Jahrhunderts – besitzen. Ein weiteres wichtiges Beispiel betrifft die Entwicklung des modernen Unternehmens insbesondere in den Vereinigten Staaten des letzten Jahrhunderts. Das erste Big Business Amerikas war die Eisenbahnindustrie, die jene Managementmethoden entwickelte, die viele andere Großunternehmen später übernehmen sollten. Dies ist hinreichend bekannt. Weniger bekannt ist allerdings, daß Militäringenieure intensiv an der Konstruktion der ersten Eisenbahnlinien beteiligt waren und viele der charakteristischen Managementmethoden entwickelt haben, die später zu einem typischen Kennzeichen praktisch jedes Großunternehmens in den USA, in Europa oder anderswo wurden.

Der Historiker Charles O’Connell beschrieb dies wie folgt:
Während sich die Eisenbahnlinien entwickelten und ausdehnten, begannen sie in bezug auf ihre Struktur und Prozesse Merkmale anzunehmen, die jenen der Armee in bemerkenswerter Weise ähnelten. Beide Organisationen schufen komplizierte Managementhierarchien, um eine Vielzahl funktionell unterschiedlicher, geographisch voneinander getrennter Aktivitäten zu koordinieren und zu steuern. Beide richteten spezielle Stabsbüros ein, um eine umfangreiche Palette an technischen und logistischen Hilfsleistungen zu erbringen. Beide teilten die Autorität und Verantwortung für die jeweilige Unternehmung zwischen den Einheiten vor Ort und den Stabsbüros und ihren Offizieren bzw. Funktionären auf und erließen umfangreiche schriftliche Regelwerke, um die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Instanzen festzulegen. Beide erließen formale Richtlinien für Routineaktivitäten und führten eine standardisierte Verfahrensweise für die Berichterstattung sowie spezielle Formulare ein, mit deren Hilfe das jeweilige Hauptquartier mit Informationen über finanzielle und sonstige Belange versorgt wurde, wobei bei der Übermittlung derartiger Informationen ein sorgfältig definierter Instanzenweg eingehalten werden mußte. Mit der Ausbildung dieser Eigenschaften wurden die Eisenbahnlinien zum ersten Big Business Amerikas. (5)
So beeinflußte die Übernahme militärischer Vorgehensweisen in den zivilen Bereich nicht nur das Leben der Arbeiterschaft, sondern auch jenes der Manager selbst. Und die Beeinflussung reichte über die Konstruktion der Eisenbahnlinien hinaus. Die “Managementtheorie”, die heute in den Wirtschaftsakademien gelehrt wird, ist eine Entwicklung der militärischen Operations Research, einer Disziplin, die während des Zweiten Weltkriegs entwickelt wurde, um eine Vielfalt taktischer, strategischer und logistischer Probleme zu lösen. Die Kombination dieser “Zentralisierungswissenschaft” und der Verfügbarkeit großer Computer wiederum ermöglichte die rasche Entwicklung transnationaler Unternehmen und die dementsprechende Internationalisierung der Standardisierung und Rationalisierung der Produktionsprozesse. So wie Fertigkeiten und Fähigkeiten im Werkstattbereich durch Befehle ersetzt wurden, wurden auf der Managementebene auch Preise durch Befehle ersetzt. (Dies ist einer der Gründe dafür, daß man den Begriff “Märkte” nicht verwenden sollte, wenn man sich mit dem Big Business beschäftigt. Sie beruhen nämlich nicht nur auf Befehlen statt Preisen, sondern manipulieren auch Angebot und Nachfrage, anstatt sich selbst der Regulierung durch die beiden letzteren zu unterwerfen. Deshalb hat Braudel für das Big Business den Begriff des “Gegen-Marktes” vorgeschlagen. (6) )

Man muß sich die Komplexität der historischen Prozesse vor Augen halten, anstatt alles durch die “Gesetze der kapitalistischen Entwicklung” zu erklären, denn nur dann wird es gelingen, nicht nur die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch in der Gegenwart tätig zu werden und Spekulationen über die Zukunft anzustellen. Dies wird besonders deutlich, wenn man jene Rolle analysiert, die Computer und Computernetzwerke im Zusammenhang mit der Gestaltung der Wirtschaftswelt im nächsten Jahrhundert spielen könnten. Es ist einfach, einen Großteil unserer heutigen Probleme – insbesondere jene im Zusammenhang mit der zentralisierten Überwachung und Steuerung – der Computertechnologie in die Schuhe zu schieben. Dies würde jedoch nicht nur die Geschichte der Computer künstlich homogenisieren (es gibt große Unterschiede zwischen der Entwicklung der Mainframes und der Minicomputer einerseits und des Personalcomputers andererseits), sondern zusätzlich auch über die Tatsache hinweg- täuschen, daß die Computer, wenn sie die “disziplinierende” Rolle spielen, die ihnen heute zukommt, dies nur als Teil eines historischen Prozesses tun, der mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit reicht und den die Computer lediglich intensiviert haben.

Wenn wir die tatsächliche Heterogenität der historischen Prozesse akzeptieren und das Konzept des “kapitalistischen Systems” über Bord werfen, können wir uns noch eines weiteren Vorteils gewiß sein: Wir werden größere Freiheit gewinnen, um nach Kombinationen ökonomischer Institutionen Ausschau zu halten, die mit den disziplinierenden Antimärkten koexistieren, ohne jedoch nach denselben Regeln zu funktionieren. Historisch gesehen, war wirtschaftliche Macht, wie Braudel es erläutert hat, seit dem 14. Jahrhundert immer mit Großunternehmen und deren Economies of Scale verbunden. Dieser Begriff bezieht sich rein technisch gesehen nur auf massenproduzierte Güter und bedeutet die Aufteilung von Produktionskosten auf eine Vielzahl identischer Produkte. Er kann allerdings im weiteren Sinne auch verwendet werden, um sämtliche wirtschaftlichen Vorteile zu beschreiben, die Manager, Händler oder Financiers aufgrund der Größenordnung jeder wirtschaftlichen Ressource genießen. Neben den Economies of Scale gibt es aber auch die sogenannten Economies of Agglomeration. Dabei handelt es sich um Vorteile, die Kleinbetriebe genießen, wenn viele von ihnen in einer großen Stadt konzentriert sind. Diese Vorteile erwachsen ihnen aus fachlicher Kommunikation, aus außerplanmäßigen Verbindungen und gegenseitiger Förderung sowie aus den Dienstleistungen, die rund um diese Konzentrationen wachsen und die kleine Unternehmen sich nicht allein leisten könnten. Abschließend möchte ich noch ein Beispiel aus dem Computerbereich nennen. Es geht um zwei industrielle Hinterlandregionen in Amerika, die den Unterschied zwischen den Economies of Scale und den Economies of Agglomeration deutlich belegen: Silicon Valley in Nordkalifornien und die Route 128 in der Nähe von Boston:
Silicon Valley besitzt ein dezentralisiertes industrielles System, das rund um regionale Netze organisiert ist. Wie Firmen in Japan und Teilen Deutschlands und Italiens neigen die Unternehmen in Silicon Valley dazu, lokales Wissen und lokale Beziehungen heranzuziehen, um neue Märkte, Produkte und Anwendungen zu schaffen. Diese spezialisierten Firmen konkurrieren sehr intensiv, während sie gleichzeitig voneinander über sich ändernde Märkte und Technologien lernen. Die dichten sozialen Netze und die offenen Arbeitsmärkte der Region ermutigen zu Experimenten und Unternehmertum. Die Grenzen innerhalb der Firmen sind ebenso durchlässig wie jene zwischen den Firmen selbst und den Firmen und den lokalen Institutionen wie beispielsweise den Gewerkschaften und den Universitäten. (7)
Der Aufstieg dieser Region ist nur zu einem geringen Grad umfangreicheren Geldflüssen von Regierungs- oder militärischen Institutionen zu verdanken. Silicon Valley verdankt seine Entwicklung nicht so sehr den Economies of Scale, sondern vielmehr den Vorteilen, die eine Agglomeration von visionären Ingenieuren, spezialisierten Konsulenten und Finanzunternehmern mit sich brachte. Die Techniker wechselten häufig von einer Firma zur anderen und entwickelten eine Loyalität nicht zu einer einzelnen Firma, sondern zu ihrem Handwerk und zu den Netzwerken der Region. Diese konstante Migration in Kombination mit einer ungewöhnlichen Praxis des Informationsaustausches zwischen den lokalen Produzenten stellte sicher, daß neues formelles wie auch informelles Wissen sich rasch über die gesamte Region verbreitete. Unternehmensverbände förderten die Zusammenarbeit zwischen Klein- und Mittelbetrieben. Risikobereitschaft und Innovation wurde gegenüber Stabilität und Rationalisierung der Vorzug gegeben. Dies bedeutet natürlich nicht, daß es in Silicon Valley keine großen Firmen mit rationalisierten Arbeitsabläufen gab. Derartige Unternehmen existierten natürlich, dominierten allerdings nicht den Mix vor Ort.

Ganz anders war es um die Route 128 bestellt:
Während die Produzenten in Silicon Valley in den siebziger Jahren in komplizierte soziale und technische Netzwerke eingebettet waren, mit denen sie untrennbar verbunden waren, wurde die Route 128 von einer kleinen Anzahl hochgradig eigenständiger Gesellschaften dominiert. Im Einklang mit der zweihundert Jahre alten Produktionstradition Neu-Englands trachteten die Firmen der Route 128 danach, ihre Unabhängigkeit zu wahren, indem sie eine Vielzahl von Prozessen von nun an intern abwickelten. Als Ergebnis davon werden die Beziehungen zwischen den Unternehmen und ihren Kunden, Lieferanten und Konkurrenten von Geheimhaltung und Firmen- treue bestimmt, wodurch eine regionale Kultur der Stabilität und Selbständigkeit gefördert wird. Firmenhierarchien stellten sicher, daß die Autorität zentralisiert und die Informationsflüsse vertikal bleiben. Die Grenzen zwischen und innerhalb der Firmen sowie die Grenzen zwischen den Firmen und den lokalen Institutionen bleiben deshalb wesentlich deutlicher. (8)
Während sich vor der Rezession der achtziger Jahre beide Regionen kontinuierlich ausdehnten – die eine aufgrund von Economies of Scale und die andere aufgrund von Economies of Agglomeration (bzw. jeweils aufgrund einer Mischung beider, die jedoch jeweils von einem der beiden Faktoren bestimmt wurde) – bekamen beide die Auswirkungen des Abschwungs in voller Härte zu spüren. Zu jener Zeit begannen einige der großen Firmen im Silicon Valley, die sich der dem Erfolg der Region zugrundeliegenden Dynamik nicht bewußt waren, auf Economies of Scale zu setzen. Sie verlegten Teile ihrer Produktion an andere Standorte und übernahmen Produktionsprozesse, die zuvor von kleineren Firmen verrichtet worden waren. Im Gegensatz zur Route 128 war die Intensivierung von Rationalisierung und Internalisierung in Silicon Valley kein integraler Bestandteil der Region, was bedeutete, daß das alte Netzwerksystem revitalisiert werden konnte. Und genau dies geschah auch. Die regionalen Netzwerke Silicon Valleys lebten durch die Entstehung neuer Firmen nach dem alten Muster wieder auf, und heute hat die Region wieder ihren ehemaligen dynamischen Zustand erreicht, während die befehlslastige Route 128 immer noch stagniert. Dies zeigt, daß sowohl Economies of Scale als auch Economies of Agglomeration als Formen positiven Feedbacks das Wachstum fördern, wobei letztere jedoch den Firmen jene Flexibilität verleihen, die sie benötigen, um mit negativen wirtschaftlichen Bedingungen zu Rande zu kommen.

Zusammenfassend möchte ich meinen Aufruf nach realistischeren wirtschaftsgeschichtlichen Modellen wiederholen. Wir benötigen Modelle, die die Komplexität der involvierten institutionellen Ökologien einschließlich der Märkte, Antimärkte, militärischen und bürokratischen Institutionen und, wenn wir Michel Foucault Glauben schenken möchten, auch einschließlich der Schulen, Krankenhäuser, Strafanstalten und vieler anderer Institutionen berücksichtigen. Nur eine ehrliche philosophische Auseinandersetzung mit unserer komplexen Vergangenheit wird es uns erlauben, letztere zu verstehen und daraus jene Lehren zu ziehen, die uns nützlich sein könnten, wenn wir in die Gegenwart eingreifen und Spekulationen für die Zukunft anstellen möchten.

(1)
Auszug aus dem Text über die levée en masse aus dem Jahre 1793, zitiert nach McNeill, William H.: Krieg und Macht: Militär, Wirtschaft und Gesellschaft vom Altertum bis heute. A. d. Engl. v. C. Spiel, Beck, München 1984, 173zurück

(2)
Ibid., 119fzurück

(3)
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. A. d. Franz. v. W. Seitter, Suhrkamp, Frankfurt/M 1977, 218–19zurück

(4)
Noble, David: “Command Performance: A Perspective on Military Enterprise and Technological Change”. In: Smith, Merrit Roe (Hg.): Military Enterprise. MIT Press, Cambridge/MA 1987, 341, 342zurück

(5)
O'Connell, Charles F. Jr.: “The Corps of Engineers and the Rise of Modern Management”, ibid., 88zurück

(6)
Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Bd. 2, “Der Handel”. A. d. Franz. v. S. Summerer u. G. Kurz, Kindler, München 1986, 246zurück

(7)
Saxenian, Annalee: “Lessons from Silicon Valley”. In: Technology Review. Vol 97, Nr. 5, 44zurück

(8)
Ibid., 47zurück