www.aec.at  
Ars Electronica 1998
Festival-Website 1998
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Alle Macht geht vom Bild aus


'Ernst Schmiederer Ernst Schmiederer

Corbis. Oder wie einer das Schlagwort von der New Economy mit Sinn füllt und sich die Geschichte aneignet, indem er die richtigen Fragen stellt. Etwa: Wofür braucht man ein Original, wenn sich mit Kopien mehr Geld verdienen läßt? Eine Lektion aus der Schule des Informationsproduzenten, -händlers und -kriegers Bill Gates.
Angefangen hat die Sache vergleichsweise unspektakulär mit dem Wunsch nach einer standesgemäßen Behausung: 1989, da war Bill Gates zwar noch ledig, aber schon steinreich, gründete er die Firma Interactive Home Systems. Das in Bellevue im amerikanischen Bundesstaat Washington angesiedelte Unternehmen sollte Kunstwerke und Rechte an Kunstwerken erwerben, um aus Originalen digitale Kopien fertigen zu können. Die wiederum wollte Gates – wenn sein Haus denn je fertig werden sollte – auf nahtlos in die Wände eingelassenen Bildschirmen präsentieren. Weil aber die Entwicklung der dafür nötigen Technologie mehr Zeit in Anspruch nahm als erwartet, mußte Gates den Unternehmenszweck bald zurechtbiegen. Nicht mehr nur er selbst, sondern auch Amerikas Schulkinder sollten künftig von seiner Idee und seiner Sammlung profitieren: Bei Corbis – so heißt das Unternehmen seither – sollten sie digitale Kopien von Bildern finden, die via Internet direkt in Schulaufgaben, Referate und Projektarbeiten geladen werden können. Inzwischen ist fast ein Jahrzehnt vergangen, und Corbis – Latein für Korb – bietet über das Internet so viel digitales Bildmaterial an wie niemand sonst. Das Unternehmen verfügt über 23 Millionen Abbildungen – Kunst, Pressefotos, Portraits, Gemälde. Schon 1,3 Millionen davon sind in qualitativ äußerst hochwertiger Form digitalisiert. Monat für Monat werden weitere 30.000 Bilder gescannt und der ebenso gut sortierten wie organisierten Schatzkammer hinzugefügt. Bald, so läßt sich gut fundiert spekulieren, wird Corbis wirklich ein “digitales Alexandria” sein: Wie die im dritten vorchristlichen Jahrhundert vom Herrschergeschlecht der Ptolemäer in Alexandria geschaffene Bibliothek, die das gesamte Wissen der menschlichen Rasse repräsentieren sollte, will Corbis eines nicht zu fernen Tages unserer kollektiven Lebenserfahrung – soweit die in Form von Bildern dokumentiert ist – ein virtuelles Heim bieten. Ob Aquarell oder Ölbild, ob Zeichnung oder Plan, ob Schnappschuß oder Kunstfoto – bei Corbis wird alles unter einem Dach versammelt. Oder treffender: auf einer Batterie von Festplatten gespeichert. Die Liste der Fotografen, die heute für Corbis arbeiten oder deren Lebenswerk zur Gänze oder wenigstens teilweise von Corbis angekauft wurde, ist so umfangreich, daß sie in den Anhang verbannt werden muß (1) . Ähnlich verhält es sich mit der Auflistung der Museen (2) und Archive (3) , deren Sammlungen sich Corbis über eine Vielzahl unterschiedlicher Verträge (4) gesichert hat. Dennoch lohnt es, ein paar Beispiele näher zu betrachten.

Doch erst ein kleiner Exkurs. Wer den Wert von Gates’ digitalem Schatz – Corbis steht als Privatunternehmen in seinem Besitz – ermessen will, wird auf die Grundlagen der New Economy verwiesen, da er sich gleich auf den ersten Blick einem Paradox gegenübersieht: Über Corbis macht Bill Gates, dem Neider unterstellen, daß er “absolut keinen Geschmack” hat, Geschäfte mit Bildern, die ihm – das ist im Zeitalter der Kopie möglich – zum großen Teil nicht einmal wirklich gehören.

Gates setzt darauf, daß die alte Welt im Untergang begriffen und nur mit den Mitteln einer neuen zu bewahren (und abzuschöpfen) ist. Folgerichtig interessieren ihn nicht Atome, sondern Bits. Warum sollte er viel Geld für Originale ausgeben, wenn er mit – digitalen – Kopien noch mehr verdienen kann? So hat er sich die Sammlungen von einigen der wichtigsten Museen dieser Welt nur in digitaler Form angeeignet: Die auf Rahmen gezogenen Bilder bleiben, wo sie sind, Gates verfügt über die elektronischen Verwertungsrechte. Ob die Londoner National Gallery, die Eremitage in St. Petersburg oder das Detroit Institute of Arts – sie alle lassen den Tycoon an ihr Wertvollstes. Ob Goya oder Cézanne – die Bilder bleiben im Museum, Gates verkauft sie in Form von Bits in alle Welt. Besondere Freude machen ihm obendrein die einschlägigen Gesetze: In den USA zum Beispiel gehen Arbeiten, die vor mehr als 75 Jahren erstmals veröffentlicht wurden, direkt in die Public Domain über, sind also von jedermann ohne Copyright-Einschränkungen zu verwenden. Auf dieser Basis besuchen Bildrechercheure von Corbis die großen Sammlungen – etwa die Washingtoner Library of Congress – und digitalisieren frei zugängliches Bildmaterial, um es den Corbis-Archiven zur späteren gewinnbringenden Verwendung einzuverleiben. (5)

Das heißt natürlich nicht, daß Gates beim Ausbau von Corbisland knausert. Es wird zwar nicht bekannt gegeben, wieviel das Unternehmen bis heute für den Ankauf von Bildern und Rechten bezahlt hat. Doch schätzten Branchenkenner schon im Jahr 1997, daß es bis dahin wohl mindestens 100 Millionen Dollar gewesen sein dürften. Dementsprechend wird in Bellevue auch rhetorisch geklotzt und nicht gekleckert: Corbis, so das ehrgeizig formulierte Unternehmensziel, will “visuelle Inhalte für das digitale Zeitalter neu definieren”, will “im digitalen Zeitalter der Welt führender Anbieter von außergewöhnlichem Bildmaterial” sein und will schließlich “die Adresse für Bilder im Internet” werden.

Bislang hat man Bildmaterial und Bildrechte aus mehr als 600 verschiedenen Quellen angehäuft. Wie breit das unter dem Motto “CORBIS – Create Opportunity – Realize Beauty – Inspire Success” präsentierte Angebot heute schon ist (dabei sind gerade erst fünf oder sechs Prozent des Gesamtbestandes digitalisiert und entsprechend katalogisiert), zeigt ein Blick in den über das Internet verfügbaren (http://www.corbis.com) und auch noch als Old Media in gedruckter Form vorliegenden Corbis-Katalog. In Kategorien unterteilt wird da von “Accidents”, “Acrobatics”, “Acrobats”, “Actors” bis “Zebras”, “Zoo”, “Zookeeper”, “Zoology” alles an Bildmaterial geboten, was Bildredakteure und Einkäufer bei Corbis für verkaufbar halten. Wenn der Kundschaft das Leben in diesem “Subject Index” zu konkret ist, dann kann sie sich auf der Suche nach der passenden Optik auch in einem “Concept Index” inspirieren lassen: Von “Abundance”, “Accuracy”, “Achievement” geht es bis “Violence”, “Wealth”, “Weariness”.

Gefüllt werden all die Schlagworte mit Bildern, Bildern, Bildern. Unter C-11 streckt einem Uncle Sam den Zeigefinder entgegen (“I Want You for the US Army”), bei C-19 steigt ein Atompilz über das Bikini-Atoll (Quellenangabe: US Department of Energy/Corbis). Wer das Schwarz-Weiss-Foto von dem mit 3D-Brillen ausgestatteten Kinopublikum drucken will, geht zu BE048012. Wer für die Illustration eines Kochbuchs, für den Newsletter eines Küchenausstatters oder zur Dekoration eines Marktstands spektakuläre Spargelspitzen braucht, holt sich zum Beispiel SX002045. Corbis hat den Straßenkehrer von Alfred Stieglitz (Quelle: Library of Congress/Corbis) und die hoch über Manhattan auf einem Eisenträger pausierenden Bauarbeiter im Programm. Corbis verfügt über die Bildrechte zur Geschichte des amerikanischen Westens (“Panning for Gold”, “Masked Gunfighter”, “Nuns with Guns”, “Farm in Dustbowl”). Corbis zeigt die Fratze von Natur- und Umweltkatastrophen (“Passing Three Mile Island Plant”, “Mount St. Helens Eruption”). Corbis präsentiert die Schönheiten der Welt – ob “Stonehenge” oder “Moai on Easter Island”, ob “North Section at Chichen Itza” oder “Machu Picchu in the Andes”. Und natürlich kommt auch die Politik nicht zu kurz: Von Winston Churchills Victory- Zeichen, über Rasputin (“Pulling at His Beard”) bis zu Josef Stalin, von “Khrushchev and Nixon” bis “Nikita Khrushchev and Fidel Castro Embracing”. Bei Corbis zeigt Albert Einstein seine Zunge, Sigmund Freud seine Zigarre und Marilyn Monroe ihre Unterwäsche. Das nackt vor den Napalmbomben fliehende Mädchen in Vietnam, der im spanischen Bürgerkrieg fallende Republikaner, die im Himmel über New Jersey explodierende Hindenburg – Geschichte im Besitz von Corbis.

Das Unternehmen hat die historisch wertvolle Sammlung des legendären Fotografen Horace Bristol – seine Bilder prägten die Optik der Magazine Life und Time – unter Vertrag und verweist stolz darauf, daß ein Großteil der Aufnahmen seit 40 Jahren nicht mehr zu sehen waren. Von manchen Fotografen kauft Corbis nur die digitalen Rechte, wie etwa bei den 2.500 Landschafts-Portraits des amerikanischen Großmeisters Ansel Adams. Bei passender Gelegenheit greift man sich auch “hardcopies” – allerdings nur, um sie in die Computer einzulesen und in Form digitaler Kopien unters Volk zu bringen. 1996 haben etwa die Brüder Peter und David Turnley – der eine mit dem “Overseas Press Club Award for Best Photographic Reporting from Abroad”, der andere mit dem Pulitzer-Preis geadelt – ihre Sammlung an Corbis verkauft. Die nun über Corbis zu beziehenden Turnley-Reportagen zeigen den Alltag im postkommunistischen Rußland, die Protestbewegung in China, die Zerstörung Kuwaits im Golfkrieg, das Vermächtnis der Apartheid in Südafrika.

Die bislang umfangreichste – und auf Dauer wohl einträglichste – Abteilung der Corbis-Sammlung besteht aus dem Lebenswerk von Otto L. Bettmann: ein Bestand von 16 Millionen Bildern aus allen Bereichen der Fotografie. Inkludiert sind das Werk von Alfred Eizenstadt und jenes von Robert Capa. Auch das eindrucksvolle Archiv der Fotoagentur United Press International (UPI) – ein Schatz im Schatz – gehört dazu. Bettmann, der 1935 auf der Flucht vor den Nazis mit zwei Schiffskoffern voll Fotonegativen nach Amerika gekommen ist, hat im Ruhestand einmal gesagt, daß seine Sammlung “die komplette Geschichte der Zivilisation” repräsentiere. Weil in der – einst zur Reproduktion in Zeitungen, Büchern und Magazinen angelegten – Kollektion von Jesus bis Stalin kaum ein Name fehlt, ist das auch nur ganz leicht übertrieben.

Corbis kann heute aus praktisch allen Bereichen des Lebens, der Welt, der Vergangenheit und der Gegenwart Fotomaterial anbieten. Man hat eine Abteilung “Science & Technology” eingerichtet und unter anderem mit den vielfach gelobten Bildern des Roger Ressmeyer bestückt, dessen Wissenschaftsfotografie von den siebziger bis in die neunziger Jahre in National Geographic, Life, Newsweek und Smithsonian gedruckt wurde. Für “Celebrities & Entertainment” hat man sich Lynn Goldsmith und ihre Sammlung geangelt: Im Namen ihrer Agentur LGI wurde seit Mitte der siebziger Jahre von Bob Dylan zu Mel Gibson, von Sting zu Michael Jackson bald jeder namhafte Rock- und Filmstar fotografiert; etwa 200 Fotografen werden von LGI repräsentiert; gut eine Million Bilder gehören zum Inventar. 20 Jahre Hollywood zeigt das Werk des amerikanischen Sternchen-Fotografen Neal Preston. David Muench hat jeden amerikanischen Nationalpark mit seiner Großbild-Kamera fotografiert. Paul Souders hat seit den frühen achtziger Jahren fast jede Art von Industrie- und Arbeitsplatzfoto geschossen. Galen Rowells Werk bereichert die Sektion “Sports & Recreation” mit Action-Bildern von Bergsteigern. Adam Woolfitt hat Großbritannien durchfotografiert, Michael Yamashita Asien – beider Werk gehört heute zur Corbis-Abteilung “Travel & Culture”.

Allein schon die Verträge und Ankäufe der vergangenen Monate lassen den Beobachter sprachlos staunen:

– Im November 1997 wird ein Kontrakt mit der französischen Agentur Sipa geschlossen, der Corbis nicht nur den Zugang zu einem der weltbesten News-Archive sichert, sondern obendrein auch noch Sipas Fotografennetz in die Corbis-Struktur integriert. Das stelle sicher, so die Pressemeldung damals, daß man “vor Ort sein kann, wo immer Geschichte gemacht wird”.

– Im Februar 1998 kauft Corbis die Firma Digital Stock Corp., die über CDs und Internet digitalisiertes Bildmaterial gegen eine einmalige Gebühr verkauft und weite Teile der Optik-Industrie (“graphic design, advertising, publishing and multimedia”) mit “markterprobten kommerziellen Inhalten” aus den Bereichen “business and technology, concepts and effects, history and culture, nature, people and lifestyles, and places” versorgt.

– Im April 1998 wird ein nicht-exklusiver Lizenzvertrag für das Werk des Fotojournalisten John G. “Jack” Moebes abgeschlossen. Moebes hat seit den 40er Jahren bis 1978 für die Zeitung North Carolina News & Record den amerikanischen Süden und die Bürgerrechtsbewegung dokumentiert.

– Im Mai 1998 schließlich kommt die vor 20 Jahren vom National Geographic-Fotografen Craig Aurness gegründete Agentur Westlight ins Körbchen, eine der weltbesten und mit drei Millionen Bildern auch eine der umfangreichsten “commercial image collections”.

Angesichts dieser immer noch weiter wachsenden Sammlung läßt sich für die nähere Zukunft leicht prophezeien: Was immer wir sehen, Bill schneidet mit. Die Behauptung, der Informationsproduzent, -händler und -krieger Gates hätte sich die Geschichte angeeignet, ist keineswegs mehr übertrieben. An ihm könnte es – so ein plattes, aber wegen seiner hypothetischen Tragweite eindrucksvolles Gedankenexperiment – eines Tages liegen, ob sich Schulkindern ein längst vergangener Krieg als Fratze oder Farce ins Gedächtnis prägt. Ob sie ihre Umwelt als Chance oder Katastrophe sehen. Ob sie die Eroberer des amerikanischen Westens als Heroen oder Clowns kennenlernen. Ob die Welt ihren gegenwärtigen Zustand (oder ihre jüngere Vergangenheit) so oder so – schwarz oder weiß, unrettbar oder rettenswert – sieht.

Gates selbst kann heute schon die Früchte seines Sammeltriebs ernten. “Mein Haus ist so konstruiert, daß es der Wirklichkeit ein bißchen vorgreift”, erklärte er im vergangenen Sommer den ersten staunenden Besuchern des High-Tech-Palastes. Die Anspielung galt jenen allgegenwärtigen, in die Wände eingelassenen Video-Tafeln, die einst Anlaß zur Gründung von Interactive Home Systems waren und heute auf Knopfdruck ein beliebiges Werk aus der Sammlung Corbis zeigen. Ob Mona Lisa, die Venus von Willendorf oder ein Foto von Raquel Welch in schwarzer Wäsche, ob Matisse oder Hitler – alles eins.

Selbstverständlich hat sich der Abnehmerkreis längst über Schulkinder und Bill Gates selbst hinausentwickelt. Eine Testsuche nach “Corbis” in einem elektronischen Archiv amerikanischer Magazine zeigt, daß kaum ein Heft mehr ohne Corbis-Material auskommt. In einem Zeitraum von wenigen Monaten taucht der Name als Credit neben Fotos in Time und Forbes, im American Scientist und in der Columbia Journalism Review, in People Weekly und Entertainment Weekly, im Sports Illustrated und in Fortune auf. Kaum ein Bildredakteur kann dem Angebot widerstehen. Was einst mühselig recherchiert, erhandelt und anschließend über die Weltmeere geschickt werden mußte, nur um zuletzt an einem mürrischen Zollbeamten hängenzubleiben, kommt nun in Sekunden auf den Bildschirm. Jeder technisch halbwegs versierte Kunde – ob Profi oder Laie – kann in wenigen Augenblicken finden, kaufen und abholen, was einst weit außerhalb seiner Reichweite lag.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Bildagenturen setzt Corbis nicht mehr nur auf die traditionelle Medien-Industrie, sondern immer stärker auch auf den Privatkunden, der seine E-mail mit Ansichtskarten-Motiven verzieren, seine Wände mit Bildern aus dem Bill-Netz schmücken will oder sonstigen Bildbedarf verspürt. Zuletzt hat Corbis einen eigenen “Online Print & Poster Shop” (http://www.corbistore.com) im Internet eingerichtet. Aus 500 Bildern (“from Degas to Dorothea Lange”) kann da die passende “Dekoration fürs Heim oder Büro” ausgewählt und geordert werden. Geliefert werden dann frisch ausgedruckte “hardcopies”. Man wählt zwischen fünf verschiedenen Größen. Dann bleibt nur noch zu entscheiden, ob die Bilder ungerahmt oder gerahmt (“English walnut, pecan hazel, classic black, classic white, and ebony and gold”) kommen sollen.

Der Corbis-Kunde, so verspricht eine Werbeschrift des Unternehmens, “wird die Welt in neuem Licht sehen”. In welchem Ausmaß dieser hohe Anspruch wirklich eingelöst wird, entscheidet schlußendlich Bill Gates. Denn nicht allein die Möglichkeit der Bild-Auswahl gibt ihm Macht. Selbstverständlich wird bei Corbis auch über die optische Qualität des angebotenen Materials – und damit eben auch über die optische Qualität der abgebildeten Sache selbst – entschieden. Bilder, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, werden im Zuge der Digitalisierung entsprechend restauriert. “Möglicherweise finden wir es notwendig, das Bild farblich zu korrigieren, damit die digitale Reproduktion der ursprünglichen Fotoqualität entspricht”, heißt es freimütig in einem Aufsatz zur Frage von “Rights and Responsibilities in the Digital Age.” (5)

In der Corbis-Rechtsabteilung weiß man, daß für manchen Kritiker “diese Form der Manipulation, die nur den Zweck hat, die Kopie näher an das Original heranzubringen, den Geist des Kunstwerks verletzen” könnte. Doch dieses Risiko muß auf sich nehmen, wer dem Unternehmensziel näherkommen will: Ganz anders als in einem Museum, wo Kunst präsentiert werden soll, will sie bei Corbis nämlich obendrein verkauft werden. Und zwar massenhaft und in alle Welt.

Dabei macht Gates die Schwächen der Museen zu seiner Stärke. Die meisten Museumsdirektoren meiden die digitale Welt des Internet, weil sie den sogenannten Cybercide fürchten: Wer digitale Kopien seiner Bilder im Internet präsentiert, riskiert, daß die dort gestohlen und illegal auf T-Shirts oder Ansichtskarten gedruckt werden; er riskiert, wegen einer Copyright-Verletzung geklagt zu werden. All diese Ängste macht Gates mit Corbis zu Geld: Wer den Raphael nicht nur in der National Gallery sehen, sondern anschließend zu Hause in Ruhe studieren will, der wird in Corbisland ebenso gut bedient wie jener Bildredakteur, der den Raphael zur Illustration einer Geschichte braucht und sich Dutzende Telefonate mit Museen spart, weil er weiß, daß es in Bills digitaler Welt alles gibt.

Um die attraktiv zu halten, müssen ständig neue Ideen her. So hat man zuletzt etwa Corbis Trip (http://trip.corbis.com) gegründet, einen virtuellen Reiseladen, der eine stattliche Auswahl an Reisefotografie bietet. Über die Website sind 8.000 Bilder zugänglich, die den Betrachter in “Hunderte exotische Destinationen” entführen sollen und zugleich als Motive für eine als Postkarte verkleidete E-mail verwendet werden können. Im Trip Store kann man einkaufen und auch gleich eine Reise buchen. Links führen zu BarnesandNoble.com, wo der passende Reiseführer bestellt werden kann, zum Reiseveranstalter Mountain Travel-Sobek, zu Microsofts Enzyklopädie Expedia, wo zu Reisezielen recherchiert werden kann, und zum Reiseführer-Verlag Arthur Frommers’, dessen Outspoken Encyclopedia of Travel online bereitsteht. Das Beste an all dem: Corbis Trip ist immer nur einen Mausklick entfernt, weil es bei Microsofts Webbrowser Internet Explorer 4.0 als “premier channel” läuft, also in Form eines Buttons vorprogrammiert ist.

Aus dem Beispiel Corbis Trip läßt sich gleich zweierlei lernen. Zum einen zeigt diese Neugründung, daß Gates die Regeln der New Economy im Schlaf beherrscht und also verstanden hat, daß in einem als “attention economy” organisierten Markt – jene Form, in der sich die Medienindustrie im Kapitalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts nun mal präsentiert – Information ein im wesentlichen unbegrenztes Gut ist. Somit ist die Nachfrage nicht mehr durchs Angebot, sondern einzig durch die Anzahl der Wachstunden eines Konsumenten-Tages begrenzt. Auf dieser Basis setzt Corbis seinen Fotoschatz – nur scheinbar zweckentfremdet – ein, um das Kostbarste überhaupt zu produzieren: Publikum. Oder in den Worten der Wired Encyclopedia of the New Economy: “eyeballs for advertisers”.

Es ist nicht bekannt, wieviel BarnesandNobel.com an Corbis zahlt, um bei Corbis Trip der Konkurrenz vorgezogen zu werden. Allerdings kursiert eine Zahl, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden kann: Dem Buchhandels- Konkurrenten Amazon.com soll die Positionierung bei America Online zehn Millionen Dollar wert gewesen sein. Klar ist somit, daß sich Gates folgenreich Gedanken macht, wie seine Bilder eine neue, erst im digitalen Zeitalter mögliche Form von “Mehrwert” produzieren können.

Interessant ist das Beispiel von Corbis Trip andererseits aber auch als Fußnote zur laufenden Debatte um das gegen Microsoft angestrengte Antitrust-Verfahren. Dort wird bekanntlich ja auch darum gestritten, ob Microsoft sein Betriebssystem Windows 98 mit dem firmeneigenen Browser Internet Explorer koppeln darf. Daß die Entscheidung darüber nicht nur für Bill Gates wesentliche Auswirkungen haben wird, zeigt ein Blick auf dessen unternehmerische Bandbreite: Im Imperium Microsoft werden nicht nur Computerprogramme hergestellt, sondern eben auch Inhalte produziert und Internet-Geschäfte angeleiert. Obendrein wird – siehe oben – Anzeigenpublikum gebunden. Mit dem TV-Unternehmen NBC produziert man das Internet-News-Network MSNBC. Unter dem Namen Expedia betreibt man ein Internet-Reisebüro. Beim Microsoft- Ableger Carpoint verkauft man Autos. Unter der Microsoft-Marke Sidewalk hat man diverse Stadtführer und -magazine im Internet plaziert. Und nun kommt eben noch Corbis in all seinen Ausprägungen dazu.

Bekanntlich bestimmt Microsoft über sein Betriebssystem, mit welchem ersten Bild der Computer den Nutzer nach dem Einschalten begrüßt. Wenn auf diesem “first screen” automatisch auch die Absprungbasen (“premier channels”) für MSNBC, Expedia, Carpoint, Sidewalk und Corbis Trip (“a one-way digital ticket to exotic desktop destinations”) eingebaut sind, dann stehen zwischen dem Heute und der totalen Bill-Welt nur mehr Amerikas Kartellwächter. Ohne ihr Einschreiten wird Gates mitschneiden, wenn Flüge gebucht werden, wenn Autos ge- oder Aktien verkauft werden. Weil er mit seinem Windows am Eingang dieser virtuellen Shopping Mall steht, kann er darüber entscheiden, wer welche Produkte zu welchen Bedingungen anbieten darf.

Um aber bei Corbis zu bleiben: Natürlich ist Bills Photoshop nicht konkurrenzlos. Im Gegenteil. Mark Getty, ein Erbe der legendären Getty Oil, kämpft mit seiner Getty Images (http://www.getty-images.com) direkt gegen Gates’ Corbis. In den Getty-Archiven lagern gar 30 Millionen Bilder. Als Gegenstück zu Gates’ Bettmann Collection hat sich Getty die europäische Hulton Deutsch Collection mit 16 Millionen Bildern geangelt und in “Hulton Getty” umbenannt. Selbstverständlich will Getty den Weltmarkt für digitale Bildrechte, dessen Volumen Schätzungen zufolge im Jahr 2000 auf 20 Milliarden Dollar anschwellen könnte, nicht kampflos an Gates abgeben. Doch Corbis hat in diesem Rennen um die totale Bildmacht einen ganz wesentlichen Startvorteil. Nicht nur, daß Getty noch viel stärker in der analogen Welt verhaftet ist (folgerichtig ist erst eine vergleichsweise kleine Tranche seiner Bilder digitalisiert und über das Internet zugänglich). Es fehlt ihm – und damit ist der Bogen zum Kartellverfahren geschlagen – vor allem die bei Corbis so wesentliche Rückendeckung.

Es ist wohl nicht mehr als eine treffende Ironie, daß in dieser Schlacht ein im nun zu Ende gehenden Industrie-Zeitalter angehäuftes Vermögen gegen ein schon im Informations-Zeitalter geschaffenes antritt. Dennoch ist im Vergleich zwischen den beiden Bild-Giganten gut zu erkennen, wie sich Gates seinen Ehrenplatz an der Sonne der New Economy sichert. Da zeigt der reichste Mann der Welt dieser einmal mehr, wie er sich den Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft vorstellt. Nun ist es an der Welt, ihm zu zeigen, wie sie sich denselben vorstellt: In der Gestalt des Leiters der Antitrust-Abteilung im amerikanischen Justizministerium, Joel Klein, ist Gates ein Gegner erwachsen, der seinerseits über die Rahmenbedingungen der New Economy nachdenkt. Was sollen Monopole heutzutage dürfen? Wie kontrolliert man – und wer kontrolliert – Märkte unter den geänderten Bedingungen einer Informationsgesellschaft? Absehbar ist dabei, daß sich das Regelwerk der Vergangenheit – etwa der 100 Jahre alte “Sherman Antitrust Act” – als zu grobschlächtig erweisen wird. Was im Industriezeitalter zur Zerschlagung von Rockefellers Standard Oil und in den 70er Jahren noch zum Zerteilen des Telefonmonopols Bell gut war, muß nun – neben Microsoft interessieren sich die Kartellwächter mittlerweile ja auch für den Chipgiganten Intel – für die neue Zeit adaptiert werden.

“Information ist einfacher zu produzieren und schwerer zu kontrollieren als Dinge, die einem auf den Fuß fallen können”, sagt die Wired Encyclopedia of the New Economy über den Unterschied zwischen jenen Waren und Produkten, die einst die Rockefellers und die Gettys reich gemacht haben, und jenen, um die sich heute beispielsweise Bill Gates und Getty-Enkel Mark schlagen. Am allerbesten verstanden hat das natürlich Bill Gates selbst, der mit Corbis ja auch gleich jenen kulturphilosophischen Beitrag leistet, der die Theorien des Walter Benjamin ins Informationszeitalter heraufholt. Der hatte in den dreißiger Jahren darauf aufmerksam gemacht, daß Kunstwerke durch die Reproduktionstechnologien ihrer Aura beraubt werden. Gates zeigt noch im selben Jahrhundert, daß Originale gänzlich belanglos geworden sind und im Zeitalter der Bits nur noch deren Reproduktion zählt.

Ausgerechnet jener Mann, dessen pekuniäre Situation früher zwingend zur Anschaffung von Originalen geführt hätte, umgibt sich natürlich auch in der Privatheit seines Heims vorzugsweise mit Kopien. Als kleine Erinnerung an die untergehende Zeit bewahrt er in der Bibliothek seiner Casa Digitalis allerdings das Original von jenem Leonardo-Notizbuch auf, das er für 31 Millionen Dollar erworben hat.

Im schon erwähnten Aufsatz über Rechte und Pflichten im digitalen Zeitalter nimmt Corbis-Abteilungsleiter Akiyama eine Anleihe beim Film Il Postino: Der Dorfpostler Mario erklärt dem chilenischen Poeten Pablo Neruda, daß er nichts Unrechtes getan habe, indem er Nerudas Gedichte als seine eigenen ausgegeben hat. Poesie, sagt Mario, gehört dem Volk. Akiyamas Kommentar dazu: “Wir in der Rechtsabteilung von Corbis wünschen uns manchmal, daß die Dinge so einfach wären.” Die diesem Wunsch offenkundig zugrundeliegende Idee würde freilich gar den eifrigsten Monopolwächter sprachlos machen: Bill Gates ist das Volk.

(1)
Von Corbis zur Verfügung gestellte “Source List of Photographers”:
Lucien Aigner, Ansel Adams, Roger Antrobus, Peter Aprahamian, Adrian Arbib, Tony Arruza, Yann Arthus- Bertrand, Dave Bartruff, Morton Beebe, Annie Griffiths Belt, Joel Bennett, Richard Bikel, Jonathan Blair, Marilyn Bridges, Horace Bristol, Brandon Cole, Jan Butchofsky-Houser, Pierre Colombel, Perry Conway, Gianni Dagli Orti, Henry Diltz, Sergio Dorantes, Rick Doyle, Laura Dwight, Ric Ergenbright, Macduff Everton, Sandy Felsenthal, Marc Garanger, Kevin Fleming, Owen Franken, Stephen Frink, Arvind Garg, Mitchell Gerber, Lynn Goldsmith, Phillip Gould, Darrell Gulin, Dan Gurevich, Peter Guttman, Chris Hellier, Jeremy Horner, Kit Houghton, Liz Hymans, Peter Johnson, Wolfgang Kähler, Layne Kennedy, Dan Lamont, Charles Mauzy, Richard Nowitz, Pat O'Hara, Tim Page, Douglas Peebles, Neal Preston, The Purcell Team, Steve Raymer, Roger Ressmeyer, David Samuel Robbins, Charles Rotkin, Neil Rabinowitz, Galen Rowell, David Rubinger, Phil Schermeister, Flip Schulke, Sean Sexton, Richard Hamilton Smith, Joe Sohm, Paul Souders, Michael St. Maur Sheil, Leif Skoogfors, Keren Su, Roger Tidman, David; Peter Turnley, Brian Vikander, Manfred Vollmer, Kennan Ward, Patrick Ward, Karl Weatherly, Stuart Westmorland, Nik Wheeler, Ralph White, Lawson Wood, Roger Wood, Adam Woolfit, Alison Wright, Tim Wright, Michael Yamashita, Robert Yin.zurück

(2)
Von Corbis zur Verfügung gestellte “Source List of Museum Collections”:
Academy of Natural Sciences, The Barnes Foundation, Bass Museum of Art, Bowers Museum of Cultural Art, Canadian Museum of Civilization, Contemporary African Art Collection Ltd., Corcoran Gallery of Art, Detroit Institute of Arts, Kimbell Art Museum, Lake County Museum, London Aerial Photo Library, The Mariners' Museum, Medford Historical Society, The Military Picture Library, Minnesota Historical Society, Museum of Flight, Museum of History and Industry, Museum of the City of New York, National Gallery London, North Carolina Museum of Art, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia Academy of Natural Sciences, Royal Ontario Museum, Seattle Art Museum, State Hermitage Museum, State Russian Museum.zurück

(3)
Von Corbis zur Verfügung gestellte “Source List of Archive Collections”:
AISA, Almasy Phototheque, Archivo Iconografico, Austrian Archives, The Bergman Collection, The Bettmann Collection, Boys Syndication, E.O. Hoppé, Ecoscene, Edimédia, Historical Picture Archive, Empire State Plaza Art Coll., Frank Lane Picture Library, Hall of Electrical History, Historical Picture Archive, Hulton Deutsch, Library of Congress, Francis G. Mayer Art Slides, Medford Historical Society, Military Picture Library, MIT Architecture Dept, Oxford Picture Library, Pach Brothers, Pittsburgh Courier Photographic Archives, Profiles in History, Sakamoto, Science Pictures Ltd., Starlight Photo Agency, Vanni Archive, Werner Forman Archive Ltd., Brett Weston.zurück

(4)
Es gibt im wesentlichen vier Wege auf denen Bilder zu Corbis kommen (siehe auch Fußnote 5):
– Nicht-exklusive Lizenzvereinbarungen mit Museen, Fotografen, historischen Sammlungen und anderen Privatarchiven (Beispiel: die Eremitage von St. Petersburg). Das Copyright für das Original bleibt beim ursprünglichen Eigentümer, Corbis hat nur das Lizenzrecht.
– Kaufverträge über die komplette Sammlungen – etwa das Bettmann Archive oder das fotografische Werk von Roger Ressmeyer – erworben werden.
– Auftrags-Fotografie: Corbis beauftragt und bezahlt namhafte Fotografen für konkrete Fotoarbeiten. Corbis besitzt dann das Copyright der Bilder.
– Public Domain: Bild-Rechercheure durchstöbern alle wesentlichen Sammlungen (etwa die Library of Congress und die National Archives in Washington) nach brauchbarem Bildmaterial, das nicht durch Copyrights geschützt ist.zurück

(5)
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Copyright-Problemen und -Erfahrungen des Unternehmens Corbis findet sich in der Presseabteilung der Corbis-Website (http://www. corbis.com/press/point.asp) (Karen A. Akiyama: Rights and Responsibilities in the Digital Age. Akiyama ist “Manager of Business and Legal Affairs” bei der Corbis Corp.)zurück