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Ars Electronica 1997
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Festival 1979-2007
 

 

FleshFactor


'Gerfried Stocker Gerfried Stocker

Das Tiefste, was der Mensch besitzt, ist seine Haut.

Paul Valéry
Dem Erscheinen einer neuen Maschine, der Informationsmaschine Computer, auf der Bildfläche der westlichen Welt ist unterdessen die Entwicklung einer Dynamik gefolgt, die alle Lebensbereiche erfaßt hat. Begleitet wird diese Invasion einer neuen Technologie nicht nur von den Marketingstrategen der darin involvierten Konzerne, sondern auch mit großer Anteilnahme und Begeisterung von Künstlern. Die informationelle Revolution war – in wesentlich stärkerem und tiefgreifenderem Ausmaß als die vorausgegangene industrielle – von Anbeginn ein Anliegen der Kunst und Kultur, wurde von diesen nicht nur widergespiegelt, sondern hat sie in ihren Konzepten verändert und neu definiert.

Nicht der Computer und seine ihm abgewonnenen gerätetechnischen Derivate sind Gegenstand der künstlerischen Faszination, sondern seine Eignung als Vehikel der Überschreitung unserer Vorstellungswelt. Die Vision technischer Möglichkeiten ist in den Händen/Köpfen der Künstler vor allem ein geeignetes Mittel zur Beschreibung der Welt, für Erklärungsmodelle von Vorgängen, die außerhalb unseres Wissens bzw. unserer unmittelbaren Erfahrungsgrenzen liegen.

In der nunmehr schon fast zwei Jahrzehnte langen Geschichte der Ars Electronica standen die daraus erwachsenen Zukunftsvisionen stets im thematischen Mittelpunkt, neue Wissenschaftszweige und Innovationen wurden in den kulturellen Diskurs eingeführt. In weit ausholenden Schritten wurden Themen besetzt und Sichtweisen geprägt. Doch der Großteil jener Utopien und Zukunftsvisionen, auf die hin die Auseinandersetzung [das Kokettieren] mit den neuen Informationstechnologien durch Künstler, Kunsttheoretiker und Philosophen mehrheitlich orientiert war/ist, wird mittlerweile vom Status quo der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung überholt. Wenngleich noch oft von einer breiten Integration oder ihrer industriellen Umsetzung entfernt, so sind die großen Entwürfe mittlerweile Teil unserer Realität, einige allerdings mit negativem Vorzeichen, insofern als sie sich im Wissen um ihre Abwegigkeit erledigt haben.

Die Zukunft hat gewissermaßen ihre Richtung geändert, kommt auf uns zu bzw. bricht über uns herein, über eine Gesellschaft, die auf diese Begegnung [noch immer] nicht vorbereitet ist.

Dies hat sich vor allem an den mittlerweile als "Dolly-Effekt" oder "Dolly-Trauma" bezeichneten Geschehnissen im Anschluß an die Veröffentlichung des Erfolgs von Ian Wilmuth und seinem Team gezeigt, als vielenorts erkannt werden mußte, daß man übersehen hatte, in den gesetzlichen Regelungen zur Gentechnologie das Klonen von Säugetieren, insbesondere des Menschen, mitzudenken [weder patentrechlich und sowohl als auch von seiner ethischen Dimension]. Allenorts eilig zusammengerufene Expertenkomissionen, bemüht um mediale Schadensbegrenzung, beteuerten sich gegenseitig, daß man doch nie und nimmer ...

Zum ersten Mal seit dem Mittelalter soll dem technisch, wissenschaftlich Möglichen nicht bloß in der Form seiner Anwendung, sondern in der Erforschung selbst gesetzlicher Einhalt geboten werden.

Doch zurück zur digitalen Revolution, als Motor avancierter Zukunftsmodelle unserer Gesellschaft und des Menschen selbst, als "ars electronica". Die durch sie möglich gewordene Beherrschung der biologischen Grundlagen des Lebens, die auf digitaler Technologie basierenden neurowissenschaftlichen Methoden wie z. B. die Beobachtung der Funktionsabläufe unseres Gehirns durch PET [Positronen Emmisions Tomographie]- bzw. MRT [Magnet Resonanz Tomographie]-ähnliche Techniken, mit denen die Funktion einzelner Gene in unserem Gehirn in Echtzeit beobachtet und bestimmt werden kann, lenken unsere Aufmerksamkeit zunehmend von der Maschine auf den Menschen. Die Vorstellung, den Körper nicht nur auf der Ebene der Fleisch-Maschine formen, sondern in seinen Anlagen und Talenten konstruieren zu können, erzwingt eine neue Perspektive der Reflexion über dessen Grenzen, seine soziale und metaphysische Konstitution.

Die technologische Verbindung von menschlichem Gehirn und Computer – Grundbaustein aller Cyborgphantasien – ist nach wie vor weit entfernt, ist, wie der Wissenschaftler Peter Fromherz in seinem Beitrag zum diesjährigen Symposion darlegt, bestenfalls in spekulativer Reichweite. Dennoch hat die theoretische Imagination einer technischen Aufrüstung und Verbesserung des Menschen durch biomechanische und neurobionische Prothesen einen nachhaltigen Diskurs einer Dekonstruktion unserer Gesellschaftsordnung als eine auf naturgesetzlichen Hierachien aufbauende eingeleitet.

Die Informationsgesellschaft ist eine reale Organisationsform der westlichen Zivilisation geworden, ihre Auswirkungen im Gefolge einer globalen Vernetzung, z. B. der Kapitalmärkte, sind eine Realität, die längst auch all jene Menschen in ihren Lebensumständen bestimmt, die selbst nicht an Computern oder Netzwerken sitzen. Die Informationsgesellschaft ist in ihrer sozioökonomischen Struktur, ihren Arbeits- und Lebensbedingungen, Normen- und Wertesystem durch die Erosion zentraler Kontrollsysteme in der Verschiebung von Öffentlichem und Privatem geprägt, durch die Ablöse eines organisch, naturgesetzlich legitimierten hierachischen Ordungsbegriffs. Das klassische abendländische Modell des Individuums als autonome, nach innen gewandte Entität wird zugunsten einer hybriden, vernetzten Subjektivität aufgegeben, in der wir uns als dynamische Knoten in einem sozialen Kommunikationsnetz begreifen.

1996 standen mit Memesis – unter Bezugnahme auf die von Richard Dawkins geprägte Idee der Meme [als kulturelle Informationseinheiten in Analogie zu den Genen] – Modelle der Ereignisse und Theorien kultureller Transformationsprozesse im Zentrum, ihre Beschreibung und die Analyse etwaiger Gesetzmäßigkeiten. Dabei wurde sehr schnell die Notwendigkeit einer fortgesetzten Beschäftigung mit diesem Thema – in Form einer Präzisierung – evident. FleshFactor widmet sich mithin dem Versuch, die globale kulturelle Perspektive, wie sie durch Memesis eingenommen wurde, vom Kollekiv auf das Individuum zu fokussieren.

Zum Ausgangspunkt der Betrachtungen werden dabei Beziehungs- und Orientierungsstrategien der Antipoden Mensch und Maschine im wechselseitigen Prozeß von Adaption und Assimilation, in dem der Mensch ebenso wie die Elemente des ihn umgebenden technischen Systems sich gegenseitig beeinflussende Variablen sind.

Die Umwelt, an der wir Menschen uns orientieren, ist zunehmend ein artifizielles, vollständig vernetztes und [wenngleich der Begriff mit Vorsicht zum Einsatz kommen muß] intelligentes System von hoher Dichte und Komplexität, als dessen Konsequenz wir unsere Beziehung zu dieser Umwelt nur mehr mit Unterstützung einer ebenso intelligenten Maschinen- und Medienumgebung als Teilmenge dieses Systems betreiben können.

In dem Ausmaß, in dem die Membranen unseres Körpers und Denkens von den Elementen einer vernetzten intelligenten Umwelt durchdrungen werden, erwächst diese zu einer realen Größe, zu der wir uns in derart intensiv-intimer Beziehung finden, daß eine klare Trennung im Sinne einer Subjekt-Objekt-Differenzierung nicht länger möglich ist. Die Qualifizierung unserer Beziehungspartner hinsichtlich ihrer natürlichen oder technologischen/ künstlichen Merkmale tritt dabei in den Hintergrund.

Es gibt das Modell, nach dem wissenschaftliche Revolutionen in zwei Phasen vor sich gehen: erst die Entdeckung bzw. Erfindung, dann deren kulturelle Einführung in unsere Welt und die daraus erwachsenden Veränderungen.

Dem ist eine dritte hinzuzufügen: die ihrer kulturellen Assimilation durch die Gesellschaft, in der die Apparate ihre Natur als eine kulturelle etablieren. Dieser Moment ist der eigentlich evolutionäre einer technologischen Revolution. Natürlich handelt es sich dabei aber um keine inhärente Eigenkraft der Geräte, dies entsteht durch den simplen Gebrauch, eben jene wechselseitige Adaption und Assimilation, in der die morphologische Fremdheit neuer Komponenten in die Gestaltung unserer Lebensräume, unseres Alltags integriert werden. In ubiquitärer Präsenz werden sie transparent, zu einer selbstverständlichen, weil gewohnt empfundenen, alltäglichen Größe, unserer Lebenswelt [so geschehen bei elektrischem Strom,Telefon, Radio und TV].

In zunehmendem Maße verschwindet dabei die Wahrnehmbarkeit der Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Natur und Technik. Die maßgeblichen Unterscheidungskriterien fußten bislang auf einer "Technomorphologie", in der sich Technik als eine um uns bzw. außerhalb von uns liegende Apparatewelt zu erkennen gibt. In der Camouflage und Mimikry industrieller Forschungsoffensiven für "wearable computing" "things that think" etc. verlieren diese Unterscheidungsmerkmale ihre Schärfe. "Seamless, unencumbered Interfaces" sollen die Manuale ablösen. Ohne vom Wissen um Funktion, Handhabung und Bedienung geplagt zu sein, so die Hoffnung, wird der Mensch künftig mit einer technologischen Umwelt interagieren, deren intelligente Agenten, trainiert an der algorithmischen und empirischen Interpretation unseres individuellen Handelns, erraten werden, was wir wollen, noch bevor wir selbst es wissen.

Nun ist die Befreiung von der feststofflichen Last der Hardware nur zu begrüßen [wieso auch soll es nur dem menschlichen Körper so ergehen, daß er als Last empfunden wird, hat doch auch in punkto Intelligenz die Apparatewelt noch viel aufzuholen, wenn sie den durch sie entstandenen Hoffnungen auch nur annähernd entsprechen will], doch ist die Sinnhaftigkeit innovatorischen Engagements hinsichtlich einer Verschmelzung des Menschen mit seiner technologischen Umwelt zweifelhaft, wenn nicht sinnliche Wahrnehmung als entscheidende Qualität angestrebt wird, wenn nicht Geräte und Strategien entwickelt werden, deren Zielsetzung es ist, die Wechselwirkung zwischen realkörperlichen und virtuellen, telepräsenten Manifestationen unseres Handelns als einen Prozeß der Kommunikation und Beziehung mit dem technologischen, apparativen Ambiente bewußt zu machen bzw. bewußt erlebbar zu machen.

Die gängige Vorstellung von der Ergonomie eines Interface bezieht sich auf Benutzerfreundlichkeit, bei der die Funktionsweise versteckt und der Bedienungsvorgang transparent werden soll – unmerkliche, unsichtbare Interfaces, die sich nahtlos an uns anpassen und uns so das Leben erleichtern. Das mag in vielerlei Hinsicht durchaus sinnvoll sein, z. B. beim Verlassen eines Supermarkts, dessen Türen sich automatisch öffnen und schließen. Dann wäre wohl auch noch ein intelligentes Auto wünschenswert, das erkennt, wenn sich sein rechtmäßiger Besitzer vollbepackt mit Einkaufstaschen nähert und ihm sofort automatisch den Kofferraum öffnet [und ihn vielleicht noch daran erinnert, daß er vergessen hat, Milch einzukaufen]. Es wird egal sein, ob die verborgenen Mechanismen durchschaubar und erkennbar sind.

Wenn solche Vorgänge jedoch innerhalb komplexerer Systeme erfolgen und der Übergang von der realen Handlung und Präsenz einer Person zu einer virtuellen Handlung bzw. Auswirkung oder Präsenz nicht bewußt erlebbar und nachvollziehbar ist, dann wird das unmittelbar in entscheidende Defizite bei der Ausnutzung der Potentiale dieser Technologien münden.

Wenn es darum geht, den Menschen in die Lage zu versetzen, besser, effizienter mit seiner Umwelt umzugehen, bedarf es Interfaces, die es erlauben, diesen Kommunikationsprozeß, diesen Übergang zwischen der realen und der virtuellen Welt, zwischen dem physikalischen und dem digitalen Aggregatzustand von Information sinnlich wahrzunehmen. Das ist einer der möglichen FleshFactoren – die Fähigkeit des Menschen, aus sinnlicher Wahrnehmung durch sein gesamtes sensorisches Spektrum Assoziationen und Interpretationen auf der Basis eines großen Bestandes an Erfahrungsdaten abzuleiten – etwas, das oft auch als Charakteristikum menschlicher Kreativität definiert wird.

Seit langem spricht man von neuen, den geänderten Bedingungen angepaßten Kulturtechniken. Die Fähigkeit, mit Phänomenen wie Telepräsenz, virtuellen Identitäten im Sinne einer kognitiven Gestaltung dieser Aktions- und Wirkungsräume umgehen zu können, wird dabei zu einem entscheidenden Faktor erwachsen – nicht zuletzt aus der Perspektive veränderter sozialer Normierungen und der Verlagerung ökonomischer und politischer Macht in einer Gesellschaft, die als soziales Gefüge selbst zu einem Cyborg mutiert, wenn sie sich zu ihrer Etablierung und Organisation zunehmends Strukturen vernetzter digitaler Informationstechnologien bedient.

Doch nicht nur unsere Umwelt ist von der Durchdringung durch immer engmaschigere Netze technologischer Strukturen gekennzeichnet. Auch unser Körper ist zum Schauplatz dieser zweiten Natur geworden.

Die Apparate nähern sich immer stärker an unseren Körper an, der Bildschirm kommt als Datenhelm bzw. -brille vom Schreibtisch in unsere unmittelbare Nähe, als Datenhandschuh bzw. -anzug schmiegen sich Tastatur und Maus an unsere Haut. In der Technologie eines Retina-Scanners wird unsere Netzhaut selbst zur Projektionsfläche des elektronischen Bildes, der direkte Kurzschluß mit den Nervenzellen ist in Cochlear-Implantaten vollzogen. In Experimenten mit elektrischer Stimulation der visuellen Cortex kann Blinden der Eindruck sehr einfacher Lichtmuster vermittelt werden.

Die damit einhergehende Angst und Bekümmertheit, das Konzept der Virtualität würde den Körper zurücklassen, ist Ausdruck einer vor allem westliche Kulturen befallenden Verunsicherung, hervorgerufen durch den Vorstoß gegen die Integrität des Körpers, die Souveränität des Intellekts, gegen "die menschliche Identität durch die Entscheidungsprozesse des Computers". (1)

Letztlich sind es aber die Ergebnisse der Gentechnologie, die unsere Sicherheit hinsichtlich einer methodischen Unterscheidung von Mensch und Maschine, Biologie und Technologie ins Wanken bringen, indem die Grundlagen des Lebens einem maschinellen, industriellen Prozeß erschlossen werden. Die letzte Rückzugsstellung in diesem Diskurs, der das Biologische als Gewachsenes im Gegensatz zu gebauter und konstruierter Technologie definiert, wird brüchig – eine gentechnisch manipulierte Tomate wäre dann eine Maschine [weil in ihrer grundlegenden Substanz planvoll konstruiert] und eine mit Hilfe genetischer Algorithmen evolvierte Software innerhalb eines Computers etwas Biologisches [weil nicht mehr programmiert sondern tatsächlich gewachsen].

Doch vielleicht sollten wir es mit dem Vatikan halten, der sich damit abgefunden zu haben scheint, daß die Schöpfung letztendlich Gegenstand industrieller Konstruktion geworden ist, und nun bemüht ist, wenigstens noch die Seele als letzte Bastion Gottes zu retten.

"Human cloning would not result in identical souls because only God can create a soul, a panel set up by the Pope has concluded. The Pontifical Academy of Life said the spiritual soul, "the constitutive kernel" of every human created by God, cannot be produced through cloning." (2)

Welcome to the fleshfactor, welcome to the happy cloning party!

(1)
"Ich beobachte mit großem Vergnügen, wie traditionelle, weiße, westliche, männliche Philosophen sich plötzlich mit dem Körper, dem Animalischen, identifizieren, wenn sie ihre menschliche Identität durch die Entscheidungsprozesse des Computers bedroht sehen." [Donna Haraway: Lieber Kyborg als Göttin! Für eine sozialistisch-feministische Unterwanderung der Gentechnologie, 1984]zurück

(2)
"Human cloning would not result in identical souls because only God can create a soul, a panel set up by the Pope has concluded. The Pontifical Academy of Life said the spiritual soul, "the constitutive kernel" of every human created by God, cannot be produced through cloning. The panel's reflections were released yesterday by the Vatican, which has long forbidden any kind of artificial fertilization or human cloning to create new beings. The panel expressed concern that cloned humans would pay the price psychically for being aware of the "real, or even only 'virtual' presence of his 'other.'" The academy called for cultural, social and legislative efforts to stop any human-cloning project." – Associated Presszurück