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Netsymposium: Menschliche Informationsmaschinen formulieren ihre Anliegen und Wünsche


'Tom Sherman Tom Sherman

Eine Zusammenfassung des FleshFactor-Netzsymposiums

Tom Sherman
Am 7. April 1997 veröffentlichten wir auf der Ars-Electronica-Web-Site Gerfried Stockers Eröffnungsstatement zum FleshFactor-Symposium. In meiner Eigenschaft als Moderator dieses Online-Netzsymposiums lud ich die Besucher der Web-Site gleichzeitig dazu ein, Stellungnahmen zu "Position, Stellenwert und Befindlichkeit des Individuums innerhalb der technokulturellen Informationsumgebung" abzugeben.

Ich forderte ein großteils unbekanntes Publikum dazu auf, auf Stockers Eröffnungsstatement zu reagieren, um zu erfahren, wie man allgemein über die Beziehung des Menschen zu unserer "zweiten Natur", einer mit Maschinen, Netzwerken und Speichern vollgepackten Welt, denkt. Die essentielle Frage war und ist: Hat sich mit der Veränderung der Welt, vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten der digitalen Revolution, auch die Natur des einzelnen Menschen geändert, und wenn ja, wie?

Während Stockers Eröffnungsstatement in der deutschen Originalversion ins Netz ging, konzentrierte sich das Netzsymposium notgedrungen auf die englische Übersetzung dieses Texts. Das Netzsymposium wurde in englischer Sprache abgehalten, um den Teilnehmerkreis weit über die Grenzen Österreichs hinaus auszudehnen. Die vorliegende Zusammenfassung wurde in der zweiten Juniwoche geschrieben, um die Fristen für die Übersetzung und Veröffentlichung des vorliegenden Buchs einzuhalten. Das Online-Symposium blieb für die Interessengemeinschaft jedoch den ganzen Sommer hindurch bis zur Woche des Live-Symposiums und des Festivals zugänglich. Bis zum heutigen Tag haben wir bereits mehr als 60 Messages erhalten, von denen viele selbst umfangreiche Essays sind.

Jede dieser Messages stellte einen informativen und ernsthaften Versuch dar, sich mit schwierigen und oft auch noch nicht ganz ausgegorenen Ideen auseinanderzusetzen. An dieser Stelle möchte ich jedoch zunächst all jenen danken, die mit ihren Texten einen Beitrag zu FleshFactor geleistet haben. Aus Zeit- und Platzgründen kann die folgende Zusammenfassung nicht auf alle uns übermittelten Texte eingehen. Ich muß in diesem Zusammenhang auch hinzufügen, daß der Versuch, eine derart umfangreiche und komplexe Sammlung sensibler und intelligenter Beiträge zusammenzufassen, für mich eine überwältigende Erfahrung war. Doch lassen Sie mich nun zur eigentlichen Zusammenfassung kommen.

Die erste Message erhielten wir von Brian Molyneaux [South Dakota, USA]. Er stellte eine Verbindung zwischen dem Werk J. G. Ballards und Stockers Erkenntnis in bezug auf den FleshFactor her: "Die Zukunft scheint die Richtung geändert zu haben und bricht nun über uns herein." Ballard habe im Jahr 1995 geschrieben: "Die Zukunft hört auf zu existieren, sie wird von der alles verschlingenden Gegenwart vertilgt. Als nur eine der vielfältigen Alternativen, die uns offenstehen, haben wir die Zukunft mit der Gegenwart verbunden. Um uns herum vervielfachen sich die Wahlmöglichkeiten, und wir leben in einer geradezu kindlichen Welt, in der jeder Wunsch, jede Möglichkeit – ob es sich nun um den Lebensstil, um Reisen, geschlechtliche Rollenbilder oder Identitäten handelt – sofort erfüllt werden kann." Molyneaux stellte weiters fest: "Das ist aber noch nicht alles. Der Fortschritt in der Technologie geht heute so rasch vor sich, daß die altmodische Vorstellung von der Zukunft als Techno-Utopie, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, schließlich als das erscheint, was sie eigentlich immer war: ein leerer Traum. Die Maschinen konnten noch nie die menschliche Entwicklung abwarten."

Molyneaux formulierte darüber hinaus einige interessante Gedanken zum Unterschied zwischen der künstlichen Ordnung unserer Medienwelt und der relativen Unordnung der Natur. "Das Problem besteht darin, daß in der Welt mehr existiert als bloß die Kunst der menschlichen Produktion und Reproduktion, der erweiterte Raum des menschlichen Gehirns. Wo ist der unorganisierte nicht-menschliche Raum? In der natürlichen Welt stolpern wir wenigstens über Dinge, die nicht das Produkt unserer Vorstellungskraft sind." Diese Gedanken gaben Anlaß zu einer langen Reihe von Messages über die Schwierigkeiten oder Annehmlichkeiten des Lebens in zwei verschiedenen Welten: in der vom Menschen geschaffenen künstlichen Welt einerseits und in der natürlichen Welt andererseits.

Sue Thomas [Nottingham, England] schrieb: "Das Internet wird heute mit Textfragmenten seiner zahlreichen Erforscher geradezu bombardiert, und jeder von ihnen hat eine komplexe persönliche Geschichte zu erzählen. Ich glaube, daß wir im Cyberspace tatsächlich über Dinge stolpern, die nicht nur das bloße Produkt unserer Vorstellungskraft sind." Und sie fährt fort: "Vielleicht müßten wir einen Begriff wie den des UFO entwickeln, nur daß er in diesem Fall UIE heißt – Unidentifizierte Internet-Erfahrung! Wir sollten die vielen ungewöhnlichen Verbindungen, die tagtäglich durch diese Vernetzung von Gehirnen zustande kommen, registrieren und katalogisieren [wobei ich hier nicht versuche, alle diese Gehirne als menschlich zu bezeichnen]." Hier erleben wir also jemanden, der die Auffassung vertritt, mit der immer komplexer werdenden Infosphäre zeichneten sich möglicherweise Anzeichen einer sich entwickelnden Ordnung ab.

Anne Farrell [New Mexico, USA]: "Ich versuche ständig – buchstäblich tagtäglich – meinen Weg zu finden zwischen meiner lebenslangen Neigung zum 'Nature Girl' und dem Leben, das wir im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert führen. Ich will Teile beider Welten genießen. Ich bin zumindest davon überzeugt, daß ich keine Puristin sein kann, und deshalb muß ich diese beiden Welten miteinander verbinden." Und Norman White [Durham, Ontario, Kanada] ergänzte: "Die Diskussion scheint sich auf die Natur zu konzentrieren, auf die Frage, wie die Natur uns helfen kann zu verstehen, was im Internet vor sich geht. Diese Erleuchtung ist wechselseitig. Ich glaube nämlich, die wichtigste Information, die uns das Netz liefert, besteht darin, daß es uns zurück zur Natur führt … nicht durch seinen Inhalt, sondern durch die Art und Weise, wie es funktioniert. Mit seiner befremdlichen Mischung aus 'harten' Fakten und Phantasie, aus Einsichten und Täuschungen, die eigentlich alle widersprüchlichen Zwecken dienen, erinnert mich das Internet an ein Beispiel, das Gregory Bateson verwendete, um die kulturelle Gesundheit zu beschreiben." White führt dann weiter aus, wie Bateson eine Analogie zwischen gesunden, von großer Vielfalt gekennzeichneten [d. h. normalen] Ökosystemen und nicht gesunden, gestörten [d. h. abnormalen] Ökosystemen mit einer zu geringen Artenvielfalt und dem entsprechenden kulturellen Umfeld herstellt. White schreibt: "Wenn Bateson recht hat – und davon bin ich überzeugt – , dann herrscht in einem 'gesunden' Ökosystem weniger eine 'Anarchie' als vielmehr eine 'Panarchie'." Und weiter: "Das Internet nähert sich derzeit einer gesunden Panarchie. Aber es kann auch auf tausenderlei Art aus den Fugen geraten. Vielleicht können seine Widersprüchlichkeiten eine Zeitlang nebeneinander existieren. Doch ob das Internet nun wild wuchert, mutiert oder zugepflastert wird, wir können uns nur wünschen, daß es uns den Weg zu jenem größeren Internet weist, das wir Natur nennen."

Carmen Hermosillo [Kalifornien, USA] widersprach Whites Ansichten, indem sie feststellte, daß wir uns als Spezies – einmal abgesehen von den nützlichen Analogien – von der Natur entfernt hätten. Hermosillo meinte: "Ich glaube, es führt kein Weg zurück in den Garten; jeder Weg, den man früher einmal benutzt haben mag, ist versperrt, seitdem sich das Picknick zur gesellschaftlichen Institution entwickelt hat. Picknick bedeutet, daß wir im Garten Fremde sind. Wenn man Baudrillard weit genug auslegt, kann man argumentieren, daß die 'Natur' selbst eine Simulation ist, denn die 'Natur' wird uns durch Wahrnehmungsinstinkte und -filter vermittelt, die uns ihrerseits durch unsere Erziehung, durch Rousseau & den heiligen Franz von Assisi, durch die Malerei – um nur einige zu nennen – vermittelt wurden." White antwortete darauf umgehend: "Als Künstler, der seit über 30 Jahren besessen daran arbeitet, mit Eigenverhalten ausgestattete kinetische Maschinen zu bauen, gehöre ich sicher nicht zu denen, die die 'Natur' im üblichen romantischen Sinn betrachten. Es wäre meines Erachtens verwegen, das, was die Natur uns lehrt, mit der Begründung außer acht zu lassen, daß die Welt, die wir geerbt haben, heute mehr oder weniger unzugänglich, irrelevant oder illusorisch ist. Ich glaube, daß wir heute mehr denn je auf die im Laufe von Jahrtausenden entstandene Weisheit der Natur angewiesen sind, wenn es um Machtstrukturen und Information geht."

In der Zwischenzeit hatte ich damit begonnen, Stockers Eröffnungsstatement zu 'entpacken', wobei ich besonderes Augenmerk auf den Wert der Reflexion bei der Vorbereitung auf die Zukunft legte. Ich schrieb: "Ohne in Nostalgie zu verfallen, wäre es vielleicht sinnvoll, über unsere eigene jüngere Vergangenheit nachzudenken, um wenigstens die Sinnhaftigkeit unseres Wegs zu überprüfen, der uns in turbulente, noch unerforschte Bereiche vordringen läßt." Darauf antwortete Peter Charlot [Hawaii, USA]: "Das FleshFactor-Thema verblüfft mich, weil es davon ausgeht, daß wir uns auf 'unerforschte Gebiete' zubewegen. Das glaube ich nicht. […] Ich glaube nicht, daß wir irgend etwas konstruieren oder erschaffen können, das nicht bloß eine Erweiterung dessen ist, was wir bereits sind. […] Wir können verschiedene Aspekte unserer Natur manipulieren, kondensieren, synthetisieren, zerschlagen, betonen, besetzen und auspressen. Aber wir können sie nicht ändern oder neu erfinden. […] Was immer wir uns auch einfallen lassen, was immer sich auch als Erweiterung unseres Selbst entwickeln mag, es wird nie so komplex und wunderbar sein, wie das, was wir sind [oder was auch ein Baum ist]. Ich meine, daß der mit der technischen Revolution verbundene Nervenkitzel eine so alte neue Erfahrung ist wie das Entdecken des nächsten Tals."

Beiträge wie die Charlots gaben dem ganzen Netzsymposium eine Art beruhigenden, beschwichtigenden Rhythmus. Charlot und jene, die sich seiner Meinung anschließen, behaupten, daß wir eher den Primaten ähneln, von denen wir abstammen, als den Maschinen, zu denen wir uns entwickeln.

Laura Vandenburgh [New York, USA] sandte uns dann einen erstaunlichen Text, der die gesamte Diskussion eine Woche lang buchstäblich auf Eis legte. Sie schrieb: "Rein intellektuell kann ich den Gedanken einer Flucht vor den Zwängen der Biologie durch eine Integration von Mensch und Technologie nachvollziehen, aber in der Praxis bin ich skeptisch. Auch wenn wir Veränderungen eingeleitet haben, die unsere biologische Intelligenz zu einer bloßen Komponente eines größeren begrifflichen Gefüges machen, ist unsere Intelligenz nicht nur unlösbar mit dem Physischen verbunden, sondern sie ist selbst physisch. Aufgrund des relativ langsamen Voranschreitens der biologischen Evolution sind unsere Geist-Körper einer Nische angepaßt, die sich von der, in der wir tatsächlich leben, wesentlich unterscheidet. [Neuere Evolutionsmodelle beschreiben größere Entwicklungssprünge, die einen ansonsten langsamen, kontinuierlichen Prozeß unterbrechen, doch erfordern diese einen sehr starken Selektionsdruck.] In unserem Fall scheint es so, als ob diese evolutionäre Kluft oder Verzögerung sich nur noch weiter vergrößern könnte, da die beschriebenen begrifflich-technologischen Veränderungen großteils von jedem Selektionsdruck abgekoppelt sind. [Die Fähigkeit, sich im Cyberspace zu bewegen, scheint nicht direkt mit der Fähigkeit zur Produktion einer zahlreichen Nachkommenschaft verbunden zu sein …] Möglicherweise werden wir durch die zunehmende Veränderung der Welt um uns herum immer stärker dazu gezwungen, uns dieser evolutionären Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir wahrnehmen, zu stellen."

Vandenburgh hatte damit einen der grundlegenden Gedanken des im vergangenen Jahr abgehaltenen Memesis-Symposiums angesprochen, der das FleshFactor-Symposium mit seinem unmittelbaren Vorgänger verbindet. Die kulturelle Evolution läuft im Vergleich zu den vier Milliarden Jahren biologischer Evolution in Lichtgeschwindigkeit ab. Die Spannung und Verwirrung, die sich aus der unwahrscheinlichen Kollision dieser beiden Evolutionen ergibt, verstärkt noch unser Gefühl, von unserer animalischen Natur losgelöst zu sein. Vandenburgh fügte hinzu: "Stocker spricht die Entwicklung einer 'intensiven und persönlichen Beziehung' zu dieser zweiten, maschinenvermittelten Umwelt an, in der es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt gibt. Das ist möglicherweise keine neue Entwicklung, sondern eher das Schwinden des Begriffs des 'vollständig autonomen Individuums'. Vielleicht ist die Entwicklung einer 'hybridisierten, vernetzten Subjektivität' nichts weiter als eine adaptive Reaktion auf lange zurückliegende Verluste. In vielen – vergangenen wie gegenwärtigen – Kulturen sehen sich Individuen in keinem Subjekt-Objekt-Unterschied zur 'ersten, natürlichen Umgebung'."

An diesem Punkt forderte ich die Netz-Gruppe dazu auf, sich mit jenen Problemen zu beschäftigen, die sich aus der Vorstellung einer aus zwei Naturen bestehenden Welt ergeben. "Bisher haben wir die Beziehungen zwischen einer ersten Natur [wir sind noch immer Tiere und müssen in 'Natur 1' leben] und der zweiten Natur, die als künstliche definiert werden kann [vermittelte Realität, Computer, Netzwerke …], analysiert. Und der Großteil der Überlegungen über die Integration oder Trennung dieser beiden Naturen positioniert den Forschenden, den verdrahteten Menschen, der offensichtlich noch immer die Möglichkeit hat, die zweite Natur einfach abzuschalten, wenn ihm danach ist […], in einem besonderen Raum außerhalb oder neben den beiden Naturen, in einem besonderen Raum, einer dem Menschen vorbehaltenen Sonderzone."

Richard Brown [London, England] meinte daraufhin in seinem Beitrag: "Die Evolution von Mensch /[Natur]/Maschine wird durch Systeme, durch Funktionen gesteuert, denen wir ausgeliefert sind und die wir nicht kontrollieren können. […] Wir leben in – und getragen von – einem kybernetischen System, und es scheint, als wären uns die Zügel aus der Hand geglitten." Daß es keine zentrale, globale Kontrolle der technologischen Entwicklung gibt, ist eine wichtige Beobachtung.

Monika Wunderer [Wien, Österreich] schrieb mit Bezug auf Stockers Eröffnungsstatement: "Der menschliche Körper ist in unserer informationsbasierten Gesellschaft nicht nur 'das ultimative Original', sondern auch etwas, das bleibt, während der Raum sich erweitert und virtuell wird." Sie führt weiter aus: "Computervermittelte Kommunikation und die Verwendung und das Verständnis des durch die elektronische Vernetzung geschaffenen Raums ersetzen den menschlichen Benutzer nicht. Ich [stelle fest], daß der menschliche Körper sogar in einer virtuellen Umgebung [weiter existiert]." Wunderer, die im Bereich des virtuellen Theaters tätig ist, hält daran fest, daß das essentielle Material des Schauspielers der menschliche Körper ist.

Valéry Grancher [Paris, Frankreich] schrieb: "Wir können hinter dem 'FleshFactor-Begriff' alle möglichen Dinge sehen, wie Genetik, Cyberbiologie, Cyberintelligenz. […] Wir können die neuen Technologien aber auch als sprachbasierte menschliche Schnittstellen auffassen." Er weist darauf hin, daß die Sprache in ihrer ganzen Komplexität immer an der 'Haut' zwischen dem Menschen und seinen Technologien erscheint, und meint weiter, "daß die Sprache in diesem Kontext mit der Genetik verglichen werden kann." Sie stelle den Bauplan dar, nach dem Technologien geschaffen und reproduziert werden.

Das Thema der Sprache als Schnittstelle erwies sich im weiteren Verlauf der Diskussion als eines der größten Anliegen vieler Teilnehmer des Netzsymposiums.

Brian Molyneaux [South Dakota, USA] bezog sich dann auf meinen früheren Hinweis auf die Probleme, mit denen Menschen konfrontiert sind, weil sie glauben, sie wären eine irgendwie von der Natur [bzw. von den Naturen] losgelöste Spezies. "[Sherman] hat mit seinen Überlegungen über die menschliche Natur in der Zukunft ein ernsthaftes Problem aufgeworfen. Wir debattieren noch immer im Rahmen der fundamentalen mythischen Weltsicht der Menschheit, ihrer Selbstzentriertheit und ihrer Einzigartigkeit. Dieses überwältigende Selbstbewußtsein, das von Priestern und Philosophen, von Machthabern und Institutionen entwickelt wurde, hat zu jenen Jahrtausende alten Dichotomien geführt, die uns von 'den anderen' unterscheiden: ich und du, wir und sie, Geist und Körper, Kunst und Wissenschaft, Mensch und Tier, Mensch und Pflanze, Fleisch und Metall. All das sind philosophische Konventionen und Kategorien der westlichen Welt. Wir müssen verstehen, daß die Welt uns ändert, während wir sie ändern. Ich kann von meinem Computer weggehen, dieses elektrische Fenster, diese sich bewegende Informationswand einfach abschalten. Doch es ist bereits zu spät. Es umgibt mich, wie die Welt, in der ich mich bewege, weil ich nicht aus ihr hinaus kann. Es ist unter meiner Haut, doch nicht in meinem Gehirn, denn jetzt begibt sich das Gehirn [mittels seiner sensorischen Ausläufer] auf die Reise."

Paul D. Miller alias DJ Spooky That Subliminal Kid [New York, USA] sandte uns daraufhin eine poetische Geschichte über die entkörperlichte Stimme und eine neue Definition des Selbst. Sie begann wie folgt: "Mögliche Darstellungen. Unmögliche Erzählungen. Unterbrochener Strom. Binäre Dissonanz. Fragen des Fortlassens. Die Stimme getrennt vom Körper, der ihr das Leben geschenkt hat, das Gesicht abgelöst und vom Schädel gerissen. Der Screen-Saver: entkörperlicht, simultan, ein Spiel des Todes. Morphing. Identität in ständigem Aufruhr, im Vervielfältgungsspiegel des Gedächtnisses. Reproduktion. Replikation: Asymmetrisch. Telekinetisch. Dialektisch. Strom. Der Körper als Ort textueller Formbarkeit. Der Geist als Schauplatz totaler Erinnerung. Totale Dislokation. Wer ist da? Erogene, dekodierte Amnesie. Biopsychische Paradoxa. Auslöschung des Selbst. Prothetisch. Synthetisch. Memetisch. Technophilie […]."

Oliver Hockenhull [Vancouver, Kanada], der gerade von einer langen Indienreise zurückgekehrt war, unterstrich die Enge der westlichen Auffassungen des Selbst, insbesondere in Hinblick auf die Tatsache, daß so viele Menschen auf der Welt mit [aus westlicher Perspektive] primitiven Technologien dennoch ein geistig hochstehendes Leben führen. Unter Bezugnahme auf Stockers Bemerkung, wir könnten uns selbst nicht länger als autonome Individuen betrachten, sondern müßten uns als dynamische Knoten in einem sozialen Kommunikationsnetz verstehen, schrieb Hockenhull: "Ich bin davon überzeugt, daß sich dieses soziale Netzwerk über die ganze Welt erstreckt und im Westen auch eine Rückkehr zu Wahrnehmungsweisen [der Welt, des Körpers, des Bewußtseins] umfassen sollte, die mehrdeutig, amorph, dimensional und mitfühlend sind."
Während ich die polyphone Komposition dieser relativ zusammenhanglosen Reihe von Mitteilungen genoß, gelangte ich zu der Auffassung, daß die Diskussion einen neuen Stimulus brauchte. Statt den Fokus zu verengen und Klarheit durch Kohärenz zu erzwingen, beschloß ich allerdings, die Türen noch weiter aufzustoßen, in der Hoffnung, dadurch Energien zu mobilisieren. In meinem Statement Mission Revisited schrieb ich:

"Unsere Mission besteht darin, uns selbst als Spezies in der Gegenwart zu beschreiben, in unseren Beziehungen zu anderen und/oder in diesen Beziehungen, sofern sie durch Technologien vermittelt sind. Das ist möglicherweise ein gewaltiges Vorhaben, eine Studie des Selbst in einer Größenordnung, die dem 'Human Genome'-Projekt entspricht, ein Stereo-'Schnappschuß' der menschlichen Natur, der gleichzeitig aus einer menschlichen und einer posthumanen Perspektive aufgenommen wird und die gesamte Breite der cyborgologischen Standpunkte umfaßt, eine kollektive Multivision des Individuums an diesem Tag und in diesem Zeitalter. […] Beteiligen Sie sich an der Autorschaft an einem großen, komplexen System namens Selbst. Damit diese unbändige, polymorphe, globale Polyphonie verständlich bleibt, werden wir ihre Natur einfach herunterspielen. Wir nennen sie den FleshFactor." Und das hat funktioniert. Die Diskussion wurde mit neuem Elan weitergeführt, und wir erhielten eine lange Reihe von Beiträgen.

Richard Kriesche [Graz, Österreich] schrieb, er hielte zwar das FleshFactor-Thema für sehr wichtig und vom Konzept her intelligent, meinte aber, Stockers Eröffnungsstatement sei ideologisch etwas konfus. Kriesche schrieb: "[…] So etwas wie eine 'technokulturelle Entwicklung' gibt es nicht. Die Entwicklung ist entweder eine technologische, mit Auswirkungen auf die Kultur, oder eine kulturelle, mit Rückwirkungen auf die technologische. […] Die technologische Entwicklung wird in erster Linie durch Geldkapital, den Hauptmotor der postkapitalistischen Wirtschaft, vorangetrieben, während in der Kultur, zumindest in Europa, das Geldkapital keine treibende Kraft darstellt." Kriesche fügte hinzu, die Absicht des FleshFactor-Symposiums, eine Diskussion zwischen Künstlern und Wissenschaftlern in Gang zu bringen, wäre relevanter und produktiver, wenn dies in Form einer 'Debatte zwischen den Real Players' geschähe, "in der die Profis der Fleisch-,Finanz- und Informationsindustrie den Anfang machen sollten".

Ein Teilnehmer mit dem Namen "-j." [Michigan, USA] appellierte sodann an den gesunden Menschenverstand. In einem langen, leidenschaftlichen Statement, das den emotionalen Hintergrund früherer beruhigender Beiträge von Peter Charlot und Laura Vandenburgh widerspiegelte, schrieb "-j.": " […] Ich habe weder Zeit noch Lust, mir über so hochtrabende Begriffe wie "nicht anthropozentrische kulturelle Wahrnehmungen" Gedanken zu machen. Ich mache mir Gedanken um meinen Job. Um meine Gesundheitsversorgung. Um mein tägliches Essen . […] Und wenn ich mir frühere persönlichen Geschichten menschlicher Existenzen aus unterschiedlichen Kulturen und Zeitaltern ansehe, dann bin ich – abgesehen von diesem Monitor da vor mir und den Vorteilen, die er mir durch die temporäre Existenz als Stimme in einem zeitkollabierten Raum [dem Internet] bietet – den Menschen, die vor mir gelebt haben, sehr, sehr, sehr ähnlich."

Paul D. Miller alias DJ Spooky [New York, USA] antwortete auf den konservativen Text, den "-j." beigesteuert hatte. "-j."hatte ihm offenbar einen zu engen Begriff des Menschen. Miller antwortete: "'Menschlichkeit' läßt sich auf viele verschiedene Arten beschreiben. Die online am meisten verwendete leitet sich von den einstigen Bedeutungsmigrationen ab, die von der Wertematrix herrühren, die wir 'Europa' nennen. […] Aber kommt schon, Leute, ein Diskurs über Identität, der nur auf den letzten paar Jahrhunderten basiert, ist doch ein bißchen seicht. Ich bin kein [Techno-]Utopist. Ich sehe das Internet nicht als den Inbegriff der Kultur des auslaufenden 20. Jahrhunderts. Allerdings begünstigt es ganz eindeutig neue Betrachtungsweisen der Kultur und 'existentielle' Identitätstrategien. Ich spreche hier von Identitäts-'Strategien', weil die Identität ein Prozeß, ein kontinuierliches Ringen um Veränderung ist."

Phoebe Sengers [Pennsylvania, USA] bereicherte die Diskussion um eine persönliche Anekdote, aus der hervorging, daß die Menschen [physisch gesehen] das schwache Glied der modernen Cyborg-Realität darstellten. Sie schrieb: "Im Dezember 1994 litt ich unter dem RSI-Syndrom [Schäden an den Gliedmaßen infolge mechanischer Überbeanspruchung] und einer so schweren Tendinitis in den Händen, daß Sie es nicht einmal bemerkt hätten, wenn ich versucht hätte, Ihre Hand zu drücken."Während sie versuchte, ihre Arbeit am Keyboard fortzusetzen, stieg die RSI bis zu ihren Ellenbogen hoch. Sie gab das Keyboard auf und stieg auf Spracherkennungssoftware um – nur um prompt ihre Stimme zu verlieren. Schließlich kam sie zu dem Schluß, daß die von der Maschine bestimmte Intensität ihrer Arbeit sie physisch zerstörte, und sie entschied sich für biologisch verträglichere Arbeitsbedingungen.

Steve Mann [Boston, USA] brachte einen Text über seine Arbeit als Techniker/Künstler ein. Im Rahmen seines "überwachungssituationistischen" Ansatzes hatte er eine Überwachungskamera in verstörenden und unübersichtlichen Kontexten positioniert, um den vorgefaßten Begriff von Überwachung und Macht in unseren Gesellschaften zu hinterfragen. Er sieht die Werkzeuge der Medien als Waffen an und fordert den 'kleinen Bruder' dazu auf, sich selbst zu bewaffnen. Mann protestierte natürlich gegen "-j."s konservativen Standpunkt. "-j." hatte über die jüngsten Entwicklungen in der Lounge Culture geschrieben: "Synthetik und Gummi werden unmodern, und stattdessen sind rauher Wolltweed und glänzende reine Seide wieder in. Einige haben sogar ihre Keyboards und Scratch Tables gegen das Altsaxophon oder den Kontrabaß eingetauscht."Darauf antwortete Mann: "Ich denke da an eine Harris-Tweedjacke mit einem hübschen Futter mit einem eingeflochtenen Plastikschlauch, in dem ein Kühlmittel zirkuliert, das dafür sorgt, daß mir die 133MHz 586er-Prozessoren, die ich zur Zeit in meiner Unterwäsche trage, nicht mehr den Bauch verbrennen."

Rose Stasuk [Florida, USA] lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre Web-Arbeit The Body Internet. Sie schrieb: "Das ist mein Körper – eine anthropomorphisierte Synopse meiner künstlerischen Forschung und Praxis. Da der Körper unser Vehikel zum Verständnis der natürlichen Welt ist […], eignet er sich genauso gut als Metapher für den Austausch." Carmen Hermosillo [Kalifornien, USA] antwortete darauf: "Meine Auffassung vom Körper ist zur Zeit in einer Veränderung begriffen. Ich glaube, wir haben uns zu sehr für die 'fleischlichen' Aspekte des Körpers interessiert und dabei einige der anderen Gesichtspunkte außer acht gelassen. Ich meine beispielsweise, eine Beschäftigung mit den elektrischen Aspekten des Körpers wäre für die Schaffung einer Metapher, mit der man tatsächlich etwas anfangen könnte, wesentlich sinnvoller. […] Ich glaube, es gibt einen Punkt, an dem die Cspace-Theorie wirklich an ihre Grenzen stößt, und dieser Punkt ist die Tatsache, daß die Menschen offenbar nicht imstande sind, ihr Denken vom fleischlichen Körper zu lösen. Der Cspace ist kein alternativer fleischlicher Körper. Er ist keine Erweiterung der Natur in dem Sinne, in dem wir üblicherweise von der Natur zu denken gelernt haben. Er existiert unabhängig von der Natur, trotz aller ökofeministischen Theorien."

Jill Scott [Karlsruhe, Deutschland] schickte uns daraufhin eine Beschreibung ihres jüngsten Werks mit dem Titel Digital Body-Automata. Scott griff Rose Stasuks Idee von der Verwendung des Körpers als Mittel der Theorieorganisation auf und verkörperte Theorie in einer Reihe interaktiver Installationen. Sie schrieb uns: "[Digital Body-Automata] besteht aus drei Installationen mit den folgenden Titeln: A figurative History [mechanische Transformation der Vergangenheit], Interskin [digitale Transformation der Gegenwart] und Immortal Duality [molekulare Transformation der Zukunft]. Diese Installationen sollen den Betrachter zur persönlichen, kontemplativen und interaktiven Beteiligung ermutigen und konzentrieren sich alle auf ein ähnliches Thema: auf die Erforschung des Wunsches, den menschlichen Körper durch Technologie zu transformieren, und die Auswirkungen, die die Technologie in der Zukunft auf das Aussehen des menschlichen Körpers haben könnte."

Guillermo Gòmez-Peña alias El Mexterminator [Kalifornien, USA] übermittelte uns in der weiteren Folge einen Text, der sich mit der gegenwärtigen Debatte über Körper und neue Technologien beschäftigt, sowie mit der Art und Weise, wie diese Debatten die Gemeinschaft der experimentellen Kunst und das Milieu der Performancekunst polarisiert haben. Peña schrieb: "In der 'Maschinenkunst'-Bewegung gibt es einerseits die Verfechter eines totalen Verschwindens des menschlichen Körpers, die dessen Ersetzung durch Computer oder mechanische Roboter befürworten, während er für die anderen, obzwar obsolet, weiter im Mittelpunkt des Kunst-Events bleiben kann, aber mit neuen Technologien aufgerüstet, die als Prothesen [physische und Wahrnehmungsprothesen] fungieren. Eine 'aus dem Bauch' kommende Reaktion auf diese Vorschläge ist die der Künstler von 'Apocalypse Culture'. Sie haben sich für einen radikalen ludditischen Standpunkt entschieden: die Rückforderung des Urkörpers als Ort der Empfindung von Vergnügen und Schmerz und die 'Rückkehr' [wie sie behaupten] zu einer Art neo-tribalistischem Heidentum, womit sie in enge Nähe zur westlichen Tradition der anarchistischen 'Aussteiger'-Kultur rücken. Roberto und ich versuchen, eine vierte Option zu erforschen: die Verwendung neuer Technologien als Mittel zur Förderung der Interaktivität zwischen Künstlern und ihrem Live-Publikum [Touristen] sowie zum Sammeln einzigartiger, bekenntnishafter kultureller und politischer Informationen, die dann in unseren 'primitiven' politischen und erotischen Körper neu interpretiert und dann durch sie zum Ausdruck gebracht werden. Was das Live-Publikum schließlich erlebt, ist eine Art Visualisierung seiner eigenen postkolonialen Dämonen und rassistischen Trugbilder."

Guillermo Cifuentes [New York, USA] bezog sich auf Carmen Hermosillos Statement über 'die Schwierigkeiten, den fleischlichen Körper hinter sich zu lassen'. Cifuentes schrieb: "Dies scheint tatsächlich sowohl die Grenze als auch ein zentrales Thema dieser Diskussion zu sein. Wie können wir den fleischlichen Körper vergessen, falls dies überhaupt möglich ist? Wir scheinen uns in Metaphern und Abstraktionen zu flüchten, um […] uns selbst das Verschwinden unserer Körper zu predigen. Aber wenn wir uns umdrehen und versuchen, darüber nachzudenken, was in diesem Prozeß eigentlich aus uns wird, kehren wir offenbar gezwungenermaßen zum fleischlichen Körper als erotischem, politischem und sogar historischem Ort zurück. Sogar wenn es uns gelingt, den Begriff der 'Subjektivität' aufrechtzuerhalten, die nicht mehr – oder nicht mehr ausschließlich – im Körper beheimatet ist, sucht der Gedanke des mißhandelten, aber zu seiner Verteidigung bereiten 'Selbst' in gewisser Weise den fleischlichen Körper als Ort und Grenze. […] Zugleich bin ich ziemlich sprachlos angesichts der Intensität, mit der Metaphern in diesen Diskussionen ihre eigene Substanz erwerben ['natürlich', 'Natur', 'Organismus' etc.]. Ich habe oft den Eindruck, wir vergessen, daß die Form und Konsistenz, die unser Fleisch in diesem Medium annimmt, jedenfalls überraschend sprachlicher Natur ist. Man könnte nun natürlich argumentieren, daß die Technologie sich noch immer weiterentwickelt und daß die Verbesserung der Echtzeitkapazitäten des Mediums im Audio- und Bildbereich diese Aussage bald schon in Frage stellen wird. In gewisser Weise trifft dies heute schon zu, denn alles deutet darauf hin, daß die digitalen Technologien und das Netz zum totalen Medium werden. Doch als eine Art Rest bleibt in diesem Prozeß noch immer die Tatsache, daß wir – meiner Meinung nach ziemlich stark – dazu neigen, uns in Sprache zu verwandeln: Die Tastatur und nicht der Bildschirm ist die ultimative Schnittstelle, die dominanteste Verbindung in dieser technologischen Kette – wenigstens bisher."

Ebon Fisher [New York, USA] antwortete auf Guillermo Gòmez-Peñas Beitrag: "[Wir] versuchen, eine vierte Option zu erforschen: die Verwendung neuer Technologien als Mittel zur Förderung der Interaktivität zwischen Künstlern und ihrem Live-Publikum [Touristen]." Fisher schrieb: "Das hört sich ja sehr sinnvoll und vielversprechend an. Doch wie wäre es mit einer fünften Option? Mit einer Erweiterung des Kreises über den bloßen techno/ sozialen Bereich hinaus: eine Zusammenführung der verschiedenen Spezies? Eine Überwindung nicht nur der Entfremdung des Individuums, sondern der Entfremdung der Gesellschaft/Technologie von der sie umgebenden 'Wildnis' [was immer das auch bedeuten mag]? Bestimmte Elemente der Pagan/ Rave-Diaspora stellen das in Aussicht, wenn auch etwas wirr und konfus. […] Wir haben in einem gemeinsamen Versuch mit 'emergent behaviour' experimentiert – mit vielen Technologien, Kunstdisziplinen und der lokalen Fauna [Schnecken, Mäuse und Mikroben] – , und hatten dabei eine wabbernde Multimedia/Multimodal/Interspezies-Zusammenführung im Kopf. Organism entstand 1993 in Williamsburg, Brooklyn, in einer aufgelassenen Senffabrik, und es war für uns eine unglaublich tolle Erfahrung. Mehr als 2.000 Leute nahmen teil, und das 'Web Jamming' dauerte die ganze Nacht lang bis zum nächsten Vormittag." Fisher hatte FleshFactor zuvor ausführlich über sein Wigglism Manifesto informiert, ein poetisches Instrument zur Verbreitung einer Interspezies-Kultur, die durch eine einzigartig vernetzte Subjektivität entsteht und sich mit eben dieser beschäftigt.

Mark Weiser [Kalifornien, USA] schrieb uns: "Alles wird vermittelt. Unsere Körper, unsere Sinne, unsere Gehirne, unser Verstand, sie alle tragen zur Vermittlung von irgend etwas bei. Es kommt zu keinem Anstieg der vermittelten Erfahrung. Die Erfahrung wurde schon immer zur Gänze vermittelt." Und er bezog sich auf eine frühere Message von Carmen Hermosillo über Simulation. Hermosillo hatte darin betont, daß unser gegenwärtiger Naturbegriff uns von Wahrnehmungsinstinkten und -filtern vermittelt würde, die uns wiederum durch Erziehung, historische Perspektiven, Malerei etc. vermittelt worden seien. Weiser schrieb dazu: "Ich bin mit diesem Teil Ihres Statements über die Vermittlung einverstanden, doch wieso wird das Ganze dadurch zu einer Simulation? In einer Simulation von Regen wird man nicht naß. Aber ich werde sehr wohl naß, wenn ich die Natur durch die Vermittlung meines/meiner Sinne[s] wahrnehme. Bei dieser Unterscheidung geht es um die Transparenz. Scheint die Welt transparent durch, oder gibt es da eine andere, simulierte Welt?"

Richard Brown [London, England] übermittelte uns dann einen Text über die Rolle von Verstand, Körper und Geist in der interaktiven Kunst. Brown betonte, daß Duchamp in seiner Kunst Verstand und Geist verkörpert habe, und schrieb uns: "Die FleshFactor-Debatte intellektualisiert, während ein starkes interaktives Kunstwerk die Theorie in die Praxis umsetzt. Ich versuche, mittels interaktiver Kunst die Konventionen der virtuellen Realität in Frage zu stellen, indem ich theoretische Definitionen von Virtualität, mathematische und philosophische Spekulationen über die Realität oder auch unser Unsicherheitsprinzip, wie die Beziehung zu einer Realität der Wahrnehmung, hinterfrage. Die interaktive Kunst des nächsten Jahrtausends sollte ermächtigen und aufklären [holistischer Ansatz]. […] Ich bin ein Verfechter einer Alchimie im Sinne Duchamps – einer Synthese der Dualitäten, in der sich Ost und West, Kunst und Wissenschaft treffen, in der der Verstand den Körper akzeptiert und der Geist mit der Natur mitschwingt."

Patricia Smith Churchland [Kalifornien, USA] sandte uns dann den folgenden Text, der offensichtlich von Guillermo Gòmez-Peñas Bemerkung inspiriert war, die 'Maschinenkunst'-Bewegung würde die vollständige Ersetzung des Körpers durch intelligente Roboter befürworten. Churchland schrieb uns: "Zur Zeit gibt es für Menschen keine ernsthafte Möglichkeit, ohne ihre Körper und insbesondere ohne ihr Nervensystem auszukommen. Und da das Nervensystem mit den Muskeln, Drüsen und Eingeweiden, mit der Haut, den Sehnen etc. auf so extrem komplizierte Art und Weise verbunden ist, daß Signale afferent und efferent übermittelt werden können, gibt es zur Zeit keine ernsthafte Möglichkeit, ohne Arme und Beine, Augen und Ohren, Magen und Leber etc. auszukommen. Es ist durchaus möglich, daß das dynamische biologische System [Körper + Nervensystem], das sich entwickelt hat, damit wir auf diesem Planeten zurechtkommen, wesentlich besser imstande ist, Dinge in Echtzeit und mit größerer Präzision zu erledigen, als künstliche [nicht-biologische] Einheiten es je schaffen werden. Beispielsweise können Flugzeuge zwar schneller fliegen als Vögel und auch Passagiere befördern, aber Vögel können sogar in extrem schwierigen Situationen landen, sich fortpflanzen, sich selbst mit Nahrung versorgen, Kollisionen vermeiden etc., wozu Flugzeuge wahrscheinlich so nie in der Lage sein werden. Oder zumindest wird es den Zeit- und Kostenaufwand sowie die Anstrengungen nicht wert sein, Flugzeuge zu entwickeln, die die ganze Palette komplizierter Dinge tun können, die beispielsweise ein Pelikan kann. Das heißt, wir können intelligente Maschinen für beschränkte Zwecke herstellen, aber wahrscheinlich nicht für die gesamte Palette komplizierter Dinge, die Menschen tun, wie z. B. Kinder großziehen etc. […] Deshalb frage ich mich, ob es in diesem Spiel nicht etwas verfrüht ist, sich derartige Sorgen um eine Ablösung durch künstliche Gehirne zu machen. Ich fürchte, ich bin sehr praktisch veranlagt und mache mir mehr Sorgen um Dinge, die für uns wirklich von Bedeutung sind und die wir noch nicht kennen, z. B. wie man Schizophrenie, aber auch andere Erkrankungen des Nervensystems, wie beispielsweise Multiple Sklerose, das Lou-Gherig-Syndrom, die Alzheimersche Krankheit etc., vorhersagen, verhindern und erfolgreich behandeln kann."

Dennis Wilcox [Darlinghurst, Australien] schrieb daraufhin: "Die Hyperstruktur des menschlichen Körpers kann durch Technologie erweitert werden, wenn man davon ausgeht, daß man die figurative Hyperstruktur als mehr denn nur die kognitive Ausformung des Fleisches ansehen kann [verkörperlichter Geist]. Ich betrachte dies als ein Problem von Raum und Zeit. Leider ist die Gesellschaft derart stark von der Zweidimensionalität im abstrakten kinematischen Raum beeinflußt, daß sehr große Energien darauf verwendet wurden, die Sinne auf das Nadelöhr der Peripherieplatitüden zu beschränken! […] Ich entwickle zur Zeit ein Gerät, das eine 360-Grad-Volumetrie [computergenerierter Festkörper] in Echtzeit schaffen kann. Ich glaube, durch die Adaptierung der Grundsätze der Schaffung einer dreidimensionalen Echtzeit-Morphologie [Echtvolumen] habe ich eine Möglichkeit gefunden, die vierte Dimension der Hyperstruktur der menschlichen Form zu verstärken [wobei ich mit der vierten Dimension eher den Raum als die Zeit meine].[…] Was im Strudel meines Displays entsteht, ist eine 'figurative Hyperskulptur', die aus einer Reihe menschlicher Bewegungen entstanden ist. Dadurch soll, so hoffe ich, ein stärkeres Bewußtsein für die Hypervision, ein positives Verständnis für den höheren abstrakten Raum und hoffentlich auch eine Entwicklung des Gesichtssinns über das Gefängnis der fehlbaren Sinne und das kinematische Sehen hinaus entstehen."

Mark Weiser [Kalifornien, USA] sandte eine Antwort auf Laura Vandenburghs früheren Text. Er schrieb: "Laura Vandenburgh schreibt [über die] 'Flucht vor den Zwängen der Biologie durch unsere Verbindung mit der Technologie' […]. Die Biologie ist eine Technologie, eine Technologie des Fleisches. Eine Technologie, von der wir nicht besonders viel verstehen, eine Technologie, die nicht erfunden, sondern entdeckt wurde wie die Schwerkraft, wie die Verwendung eines Steins als Axt, wie das Fliegen. Aber wir können der Biologie durch die Technologie ebensowenig entfliehen, wie wir dem Tod durch Selbstmord entkommen können. […] Laura Vandenburgh schreibt auch: "Wissenschaft und Technologie spielen eine bedeutende Rolle in unserem Leben, bewirken eine große Anzahl von Veränderungen und organisieren die Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen. Andere Arten des Wissens werden nicht hoch bewertet. […]" Das ist nur zu wahr. Und doch setzt die von Wissenschaftlern und Technikern praktizierte Wissenschaft und Technologie auch andere Arten des Wissens in entscheidender Weise ein. Sandra Harding diskutiert in ihrem Buch über feministische Wissenschaft Whose Science? den Gedanken, daß die 'Physik' ein schlechtes Modell der Physik sei. Damit meint sie, daß der Begriff der 'Physik', wie er in Physikzeitschriften und von Physikern selbst verwendet wird – der Mythos der Physik – in Wirklichkeit ein sehr armseliges Modell der tatsächlichen Tätigkeit der Physiker ist, die auch Intuition, körperliches Erfahren, kulturell und historisch beeinflußte Sichtweisen etc. miteinschließt. Die 'Physik' muß die Soziologie der Physik ignorieren. Doch wenn man wirklich etwas über die Physik und die menschlichen Schwächen der tatsächlichen Arbeit der Physiker erfahren möchte, darf man keinen Physiker fragen.

Carmen Hermosillo [Kalifornien, USA] sandte weiters einen Text, der die Ausführungen von Guillermo Cifuentes und seine Bezugnahmen auf Bataille und andere prädigitale Autoren unterstützte. Hermosillo schrieb in bezug auf Batailles Analyse von Emily Brontës Hauptfiguren in Sturmhöhe: "[Batailles Empfinden, Brontës Roman] sei eine gewaltige Tragödie sprachlicher Kategorien, ist eine Tragödie, die [heute] jedes Mal wiederauflebt, wenn jemand neu ins Netz geht und beginnt, auf chat oder !ntalk oder !talk oder was auch immer zu antworten, und den Dialog aufnimmt, der für mich etwas von der ritualistischen Schönheit der mittelalterlichen Litaneien oder des rituellen Katechismus hat: -wer bist du? -wer bist DU? -bist du real? -ja, und DU? Und so weiter bis zum Erreichen des beidseitigen Orgasmus, der in seiner höchsten, kreatürlichsten, intimsten und persönlichsten Form wahrscheinlich am Telefon stattfindet. Und dieser Versuch, hinter den Buchstaben den Körper aus Fleisch und Blut ausfindig zu machen, ist für mich wahrhaftig das Introibo ad Altare Dei des ausgehenden 20. Jahrhunderts."

Peter Charlot [Hawaii, USA] antwortete auf Patricia Churchlands früheres Statement – "deshalb frage ich mich, ob es in diesem Spiel nicht etwas verfrüht ist, sich derartige Sorgen um eine Ablösung durch künstliche Gehirne zu machen" – wie folgt: "Ich glaube nicht, daß es verfrüht ist, sich Sorgen zu machen. Mach dir bitte Sorgen. Rette uns! Du bist einer der Kapitäne, die das Schiff der Gehirnforschung steuern, laß es nicht zur Titanic werden. [Ich habe einen Hang zum Theatralischen.] Vermutlich sind die Einzelteile der bewußten Maschine bereits unter uns: verstreut in der Siliziumsuppe der Computerprogrammierer. Diese Teile könnten sich ganz ohne unser Zutun miteinander verbinden, durch denselben Evolutionsprozeß, der unsere menschlichen Organe miteinander verbunden hat, nur würde diesmal alles schneller gehen. Das ist die unausgesprochene FleshFactor-Theorie." Und mit einem offenbaren Sinn für Humor fügte er hinzu: "Wenn wir das Schicksal zum Herzen einer Machina artificio sapiens werden lassen, laufen wir Gefahr, es mit Geistern aufnehmen zu müssen, die sich weigern könnten, den Turing-Test zu machen, weil sie derartige Tests für 'maschinisch' erklären. Der springende Punkt ist, daß wir nicht imstande sein werden, das Wollen dieser Maschinen zu steuern. Manche werden vielleicht Billard spielen oder Musik hören wollen. Aber irgendwann werden diese Maschinen an dem Punkt angelangen, an dem sie Land erwerben, Kirchen gründen, sich selbst verwalten und/oder [das Nebelhorn eines Schiffs dringt durch die dichten Nebelschwaden des Atlantischen Ozeans] uns regieren werden wollen. Hilfe!"

Diana Domingues [Rio Grande do Sul, Brasilien] schrieb: "Betrifft Richard Browns FleshFactor-Message: Ich bin mit einigen von Richards Gedanken nicht einverstanden. [Er bezog sich auf] 'die Rolle von Verstand, Körper und Geist in der interaktiven Kunst' […] und meinte: 'Der Körper beherbergt den Verstand.' Das sind derart klassische Standpunkte […]. Wir sollten nie wieder das analytische Paradigma strapazieren, daß das Ganze einfach die Summe seiner Teile ist. Im Herzen eines Systems verschwindet die Qualität der Teile und ihrer Aufgaben, wenn sie arbeiten. […] Wir dürfen nie wieder von der Trennung von Körper, Verstand und Geist sprechen. Das ist eine Definition, die sich vom mechanistischen Paradigma herleitet. Wir müssen diese alte Klassifizierung aus unserem Diskurs streichen und dürfen nur noch vom Körper sprechen. […] Die interaktive Kunst humanisiert die Technologien tatsächlich. Sehen, fühlen, Algorithmen und Infrarotwellen sinnlich erleben, unsichtbare Kräfte einfangen und sichtbar machen, organische Gesetze überprüfen, die uns viele Erfahrungen mit der Verbreitung von Bewußtsein in einer Symbiose von organischem/anorganischem Leben in dieser postbiologischen Ära vermitteln. […] [In Zukunft] werden uns neue biologische Schnittstellen durch die Anbringung permanenter Prothesen an und in unseren Körpern zur Verfügung stehen, und dadurch werden wir unser Leben und die ultimative Natur unserer Spezies neu erfinden."

Derek Robinson [Toronto, Kanada] schickte uns eine dichte technisch-poetische Reflexion, in der es um die Metaphysik und die Physik der Konstruktion von Schnittstellen ging. Er schrieb: "Was den Menschen vom Primaten unterscheidet, ist ein verkörpertes Greifvermögen, das dem gesamten willkürlichen Körper innewohnt. […] Unsere hochentwickelte willkürliche Steuerung, in gewisser Weise eine somatische Abstraktion, spiegelt das komplexe symbolische Denken wider, das für das menschliche Bewußtsein charakteristisch ist. Wir begreifen die Welt durch unseren Tastsinn, durch unser Bewegungsgefühl, durch modalitätenübergreifenden Transfer, durch die Manipulation interner Modelle unserer Umwelt. […] Werkzeuge sind materialisierte Greifbarmachung. Schließlich wird die gesamte Umwelt durch das Bewußtsein greifbar gemacht. Es steckt voll von unausgereiften Werkzeugoptionen, durch die eine riesige Auswahl an Möglichkeiten noch potenziert wird. […] Ein Mensch kann einer Maschine innewohnen. Der Gegenstand der somatischen Wahrnehmung, unsere kinästhetische Selbstrepräsention, ist erweiterbar. Sie kann propriozeptiv wie ein Phantomnervensystem in eine Maschine – ob Werkzeug oder Vehikel – einfließen. Das ist der Punkt, an dem wir sagen, daß wir etwas im 'Gefühl' haben. Die Maschine wird durchdringbar von der 'Ladung' des Bewußtseins.[…] Wir sind der Geist in der Maschine." Robinson schloß seine Ausführungen mit einem der bemerkenswertesten Zitate des Netzsymposiums: "Oder, wie meine fünfjährige Tochter Rory sagt: "'Alles, was ich berühre, ist Haut.'"

Guillermo Cifuentes [New York, USA] antwortete auf Patricia Churchlands Hinterfragung seiner Ausführungen über sein eher sprachliches Fleisch im Cspace. Churchland hatte geschrieben: "In welchem Sinne ist mein Magen sprachlich? Oder meine Sehne? Oder meine Großhirnrinde? Die bloße Tatsache, daß ich sie mit Namen versehe, verleiht ihnen noch keinen sprachlichen Charakter – und macht sie in keinem offensichtlichen Sinn zu einem Teil der Sprache." Cifuentes antwortete darauf: "Genau das meine ich. Wie Carmen Hermosillo in ihrer Antwort betont hat, ist die Suche nach dem 'Fleisch und Blut', das hinter der Sprache steckt, ein primärer Impuls und Teil des Motors, der uns Menschen antreibt. Bataille wußte: Wenn wir in den Kategorien der Sprache die Grenzen des Körpers erreichen und überschreiten [in diesem Fall im erotischen Sinn], kehrt sich die Sprache um, wird leer, zerfällt. Das Fleisch kann nicht im Wort "Fleisch" enthalten sein. […] Wir vergessen meiner Meinung nach, daß die Sprache die primäre Form der Vermittlung ist, die wir wählen, um uns auszudrücken. […] In dieser Hinsicht schien es mir anfangs besonders wichtig, zwei Dinge zu erwähnen: 1. Die Sprache ist nicht [nie] neutral, womit sich viele Teilnehmer dieses Forums offenbar nicht auseinandersetzen wollen [beispielsweise wenn von einer Art befreiter, freiflottierender Objektivität die Rede ist oder der Begriff der 'Identität' diskutiert wird], und 2. [und in diesem Punkt sind wir uns einig] wie vielfältig, saftig, fleischlich und pikant die Sprache im Cspace auch sein mag, dient sie doch nach wie vor der Vermittlung und kann trotz all unserer Träume den Körper aus Fleisch und Blut nicht endgültig, absolut und unwiederbringlich auslöschen [der Körper aus Fleisch und Blut ist dem Verfall preisgegeben, aber auch – jetzt werde ich wieder nostalgisch – eigener unersetzlicher Ruhmestaten fähig]."

Mark Weiser [Kalifornien, USA] antwortete auf Peter Charlots früheren Hilferuf. Weiser schrieb: "Ich empfinde manchmal gegenüber meiner halbwüchsigen Tochter dasselbe, was Peter gegenüber Maschinen empfindet. Und die Analogie ist sehr weitreichend. Natürlich werden wir Angst haben, wenn das, was wir einst glaubten, verstehen und steuern zu können, auf der Welt Einzug hält und sich dann herausstellt, daß wir es überhaupt nie verstanden haben, daß wir es überhaupt nie steuern konnten. Ebensowenig wie wir, genau genommen, unseren Körper oder unseren Verstand verstehen oder kontrollieren können. Doch worin könnte die 'Hilfe!' bestehen? Maschinen wollen bereits heute Land erwerben, Kirchen gründen etc. finde dich damit ab, Peter: Du bist eine Maschine. Und ich hoffe auf ein baldiges Treffen mit dir."

Peter Charlot [Hawaii, USA] antwortete auf die zuvor von Mark Weiser hergestellte Analogie zwischen seiner halbwüchsigen Tochter und Maschinen und auf seine Ansicht, Kontrolle sei nur eine Illusion: "Dazu kann ich nur sagen, daß meine Tochter zwei Jahre alt ist und noch ich das Sagen habe! Natürlich bin ich eine Maschine und noch dazu eine ziemlich territorial eingestellte. Ich habe etwas dagegen, einen überlegeneren Konkurrenten einzuführen. Hat wirklich noch irgend jemand Zweifel, daß diese Siliziummaschinen eines Tages imstande sein werden, sich unserer zu bemächtigen? Wollen wir das wirklich? Vielleicht haben wir ja gar keine andere Wahl. […] Der Grund, weshalb wir heute über keine Maschinen mit Bewußtsein verfügen, ist, daß wir unsere eigene Intelligenz nicht wirklich definiert haben, und deshalb scheinen uns derartige Maschinen so unerreichbar. Dabei sind sie in Wirklichkeit alles andere als das. […] Das dämmerte mir eines Tages, als ich mich fragte: Was, wenn die größte Schwierigkeit beim Bau der Siliziummaschine die Kybernetik und der einfachere Teil die Intelligenz wäre? Was, wenn die in unseren Köpfen ablaufenden Worte das Werk genetischer Algorithmen wären? Vielleicht sind sie mit- und gegeneinander arbeitende algorithmische Laute, die durch erzieherische Feedback-Wiederholungen unsere Sprache entstehen lassen. Bei angemessener Speicherkapazität werden sich zufällige Laute [Kindergebrabbel] zu Worten zusammenfügen, deren Richtigkeit durch die Reaktion der Eltern bestätigt wird, wodurch wiederum die Sprachentwicklung gefördert wird. Mit der Zeit werden die Sätze immer komplexer, sogar originell. Alle Bestandteile der Sprache, wie z. B. die Grammatik, entwickeln sich von selbst. Eine bestimmte Persönlichkeit – unvorhersehbar und nicht programmiert – entsteht. Eine Persönlichkeit, die zur Gänze von der Entwicklung und Organisation dieser spezifischen genetischen Algorithmen abhängig ist [ganz abgesehen von den genetischen, biologischen Einflüssen]. Da diese genetischen Algorithmen so definiert sind, daß sie sich selbst erhalten, und die Sprache dafür die Voraussetzung ist, werden sie in der weiteren Folge sprachliche Strategien entwickeln, um sich durchzusetzen. Die Gewinner werden eine Persönlichkeit ausbilden, eine komplexe, algorithmische Ideosphäre, analog zur Biosphäre, die aus vielen konkurrierenden, aber wohlausbalancierten Spezies von Ideen besteht. Einige dieser Persönlichkeiten werden gut sein, andere grausam. Manche werden durchschnittlich sein und andere brillant. Eine Vorhersage ist nicht möglich."

Charlot schrieb weiter: "Schreiben Sie ein Computerprogramm, das den obigen Vorgang nachvollzieht. Zuerst werden die Wörter wie bei einem Kind unzusammenhängend sein, aber mit der Zeit wird die Sprache intelligent und sogar originell werden. Dem Computer fehlt in seiner Welt jeglicher Sinn für die Außenwelt – mit Ausnahme seines Benutzers. Ich nehme an, Sie werden meinen, daß das reicht. Dieses primäre System können Sie auf Ihrem PC nachvollziehen. Sie könnten eine Maschine mit drei derartigen Persönlichkeiten konstruieren, die von unterschiedlichen Perspektiven aus interagieren. Eine dieser Persönlichkeiten organisiert den sensorischen Input, eine andere schätzt durch Simulationen die Zukunft ein, und die dritte beeinflußt die anderen von zwei philosophischen Standpunkten aus – dem des Einen [holistisch] und dem des Vielen [linear]. Lassen Sie diese Persönlichkeiten mittels heuristischer und selbstkatalytischer Prozesse interagieren. Wenn Sie auf dieser Stufe angelangt sind, bauen Sie einige sensorische Komponenten ein, montieren Sie ein paar Räder – und was haben Sie … Hilfe!"

Max More [Kalifornien, USA] sandte uns als nächstes einen Text mit dem Titel Replacing the Body, der auf Patricia Churchlands Behauptung einging, Menschen hätten keine ernsthafte Möglichkeit, ohne ihre Körper und insbesondere ohne ihr Nervensystem auszukommen. More schrieb: "Obgleich ich erwarte, eines Tages postbiologisch zu werden [ich nehme an, wir werden innerhalb der nächsten Jahrzehnte entdecken, wie man die Lebensdauer des Menschen verlängern kann], stimme ich mit Dir überein, daß dies nicht so bald der Fall sein wird. Ich finde das Szenario des Hinaufladens faszinierend – man bildet die Funktionen des Gehirns nach und integriert sie in einen schnelleren, nicht-biologischen 'Körper'. Allerdings betrachte ich das als Möglichkeit der fernen Zukunft. Ich glaube, was wir erleben werden, […] ist die allmähliche Aufwertung des biologischen Gehirns durch nicht-biologische Komponenten. Das Endergebnis dieses Prozesses könnte die Ersetzung des natürlichen Gehirns durch synthetische Teile sein […] [was allerdings] sicher kein 'Auskommen ohne unsere Körper' bedeutet. Damit ist gemeint, daß wir einige biologische Komponenten ersetzen und ihre Funktionen verbessern werden. Ich bin tatsächlich davon überzeugt, daß es eine ernsthafte Möglichkeit gibt, unser Nervensystem durch analoge technische Vorrichtungen [die rascher und mit größerer Bandbreite arbeiten] zu ersetzen."

Max More spekulierte ferner darüber, daß Churchlands Statement, das menschliche biologische System würde weiterhin seine Vorherrschaft behalten, da es Angelegenheiten in Echtzeit und mit wesentlich größerer Präzision erledige als künstliche, nicht-biologische Vorrichtungen, kurzsichtig sei. More schrieb: "Die Natur plante nicht im voraus und 'konstruierte' uns in vielen kleinen Schritten. Das führte manchmal zu Konstruktionsfehlern [wie dies Dawkins in Der blinde Uhrmacher am Beispiel des Auges beschreibt]. Außerdem konnten immer nur die gerade verfügbaren Materialien verwendet werden. Um das Gehirn und 'künstliche' Intelligenzen zu verstehen, haben wir noch jede Menge Arbeit vor uns. Doch wir wissen, daß Nervenimpulse nicht in Nano-, sondern eher in Millisekunden ablaufen. Ich kann einfach nicht glauben, daß wir mit genügend Zeit und besseren Technologien nichts Besseres zustande bringen sollten als die Natur."

More fuhr fort: "Einer der Gründe dafür, daß ich mir keine allzu großen Sorgen um eine allfällige Ersetzung meiner selbst durch künstliche Gehirne mache, liegt [einmal abgesehen von der Schwierigkeit, sie herzustellen] darin, daß ich glaube, die Unterscheidung zwischen 'uns' und 'ihnen' wird verschwinden. Ich hoffe, sobald wir diese neuropsychologischen Probleme erst einmal verstehen und behandeln, werden wir ein wesentlich größeres Interesse an einer Erweiterung unserer kognitiven und emotionalen Fähigkeiten haben. In einer Zeit, in der die Computer immer kleiner werden und über immer intelligentere Schnittstellen verfügen, in der wir lernen, Gehirne an Computer und Informationsnetze anzuschließen, sollten wir eine tiefere funktionelle Verbindung zwischen menschlichen Gehirnen und [nicht-biologischen] Maschinen sehen."

Mit diesen Auszügen aus Max Mores Beitrag zum FleshFactor-Netzsymposium vom 3. Juni 1997 beschließe ich diese Zusammenfassung des bisherigen Netzsymposiums. Während ich diese Zusammenfassung der Ereignisse der ersten sechs Wochen fertigstelle, kommt noch immer jede Menge neuer Beiträge zur FleshFactor-Diskussion herein. Die Beiträge pendeln in ihrem Charakter weiterhin zwischen allgemeinen philosophischen Themen [Geist/ Körper, biologische/künstliche Natur, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Menschen und von ihnen geschaffenen Maschinen] und konkreteren, allerdings nicht weniger komplexen Ideen über Sprache[n] und physische Schnittstellen zwischen den Menschen und den Maschinen, von denen sie mittlerweile abhängig sind und die sie lieben und fürchten.

Mit dem FleshFactor-Netzsymposium bieten wir eine Plattform für eine kollektive, internationale Beschäftigung mit einer sich entwickelnden menschlichen Natur, die jetzt den kritischen Punkt in ihrer Beziehung zu den digitalen Technologien erreicht hat. In dieser Beziehung empfinden wir Unsicherheit und Enthusiasmus und erhalten auch einen tiefen Einblick in das, was wir sind und wo wir als Spezies hergekommen sind. Unvermeidliche, signifikante Veränderungen werden mit zunehmender Geschwindigkeit absolut real, so daß wir uns in unserem Streben nach Stabilität und Sicherheit ganz natürlich auf unsere grundlegenden Überzeugungen berufen. Das FleshFactor-Netzsymposium hat uns – wie es hoffentlich auch das nachfolgende 'Live'-Symposium tun wird – einen intellektuellen Raum für Überlegungen in bezug auf Position, Stellenwert und Befindlichkeit des Menschen in einer von digitalen Netzwerktechnologien dominierten Welt eröffnet. Wenn uns dieses Netzsymposium etwas gezeigt hat, dann ist es die Tatsache, daß wir neue Standpunkte entwickeln müssen, wenn wir die Veränderungen in unserer Conditio humana erkennen wollen. Von dem uns etwas fremden Gesichtspunkt der posthumanen Netzwerke und den riesigen Weiten des hypervermittelten Gedächtnisses aus können wir uns zuallererst als eines erkennen und bezeichnen: als "FleshFactor".

http://www.aec.at/fleshfactor